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Der Ausbruch des Tambora und Europa
"Ab und zu muss man die Geschichte umschreiben"

Der Historiker Wolfgang Behringer sieht eine direkte Beziehung zwischen dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien und der schweren wirtschaftlichen und politischen Krise in Europa 1816. "Kulturhistorische Effekte kann man ganz unmittelbar sehen", sagte Behringer im DLF. Aber diese Krise sei von den Historiker bisher noch gar nicht eingeordnet worden.

Wolfgang Behringer im Gespräch mit Antje Allroggen | 09.07.2016
    Vier Hungerbrötchen aus dem Jahr 1817 werden in Stuttgart im Haus der Geschichte ausgestellt.
    Die Folgen des Vulkanausbruchs vor 200 Jahren waren bis nach Deutschland zu spüren. Diese Hungerbrötchen von damals sind Teil einer Ausstellung in Stuttgart, die an die damalige Missernte erinnert. (picture alliance / dpa / Bernd Weißbrod)
    Antje Allroggen: Vor genau 200 Jahren froren die Menschen der nördlichen Erdhalbkugel schon einmal im Juli. Im Juli 1816 hatte sich Lord Byron aus dem sowieso ewig kühlen England mit Freunden an den Genfer See verzogen, doch da erging es ihnen auch kaum besser als im heimischen Nieselregen. Byron und seine Freunde trotzten dem Gruselwetter und fingen an, Geschichten zu schreiben. Geschichten, die so schauerlich waren, dass ein neues Genre geboren wurde: der Schauerroman. Die meisten inspirierte das fürchterliche Wetter allerdings weniger, als dass es sie deprimierte. Einige Zeitgenossen befürchteten für den 18. Juli 1816 sogar den Weltuntergang.
    Der Historiker Wolfgang Behringer hat ein Buch über diese miese Stimmung im 19. Jahrhundert geschrieben und macht für all das den Ausbruch des Vulkans Tambora verantwortlich. Der war tatsächlich im Jahr 1816 auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochen.
    Warum wusste man im Jahr 1816 eigentlich so wenig über Tambora, habe ich Wolfgang Behringer gefragt. Immerhin gab es doch schon zahlreiche Gazetten, die von dem Ereignis immer wieder berichteten.
    Wolfgang Behringer: Wir befinden uns ja 1816 schon in einer relativ modernen Medienumgebung. Wir haben Zeitungen und Zeitschriften weltweit und auch die Nachrichten von dem Vulkanausbruch auf der anderen Seite der Erde bekommt man in Europa zu lesen. Goethe liest es im "Morgenblatt" für die gebildeten Stände. Aber man bringt es nicht mit den Kalamitäten zusammen, mit denen man hier am Kämpfen ist.
    Allroggen: Es geschah einfach nichts, es regnete einfach weiter?
    Behringer: Es regnete wochenlang, eineinhalb Monate. Es war viel zu kalt im Juli und August, eigentlich das ganze Jahr schon. Und dann, was dann natürlich die größte Aufregung verursachte: Es war absehbar, dass die Ernte nicht funktionieren würde, und zwar von Nordeuropa bis Sizilien, wenn man jetzt mal nur Europa betrachtet, und das bringt eigentlich dann schon im Frühsommer die große Unruhe.
    Allroggen: Wie reagierten denn die Menschen damals auf diese erst mal ja nicht zu erklärende Erscheinung?
    "Ein Heer von Arbeitslosen bewegt sich auf den Straßen"
    Behringer: Zuerst hat man die normalen Krisenreaktionen. Das heißt, auf dem Land werden die Dienstmägde entlassen, in den Städten werden die Dienstboten entlassen. Das heißt, die Bürger und die Bauern richten sich auf die Versorgung der Kernfamilie ein. Es beginnt ein Heer von Arbeitslosen auf den Straßen sich zu bewegen, eigentlich Bettler, oft auch Wohnungslosen, und eigentlich in ganz Europa beginnen die sozialen Spannungen zu steigen, und zwar in dem Maße auch, als man sieht, es wird eine größere Krise als man seit Menschengedenken erlebt hat.
    Allroggen: Das heißt, man hat erst sehr viel später, ja wohl mehr als 100 Jahre später diesen Nexus geschafft, dass diese Krise, von der Sie gerade sprachen, vielleicht auch an dem Ausbruch des Vulkan lag. Kann man denn wirklich von einer Krise sprechen, die der Vulkan verursacht hat, wie Sie es in Ihrem Buch tun?
    Cover: Wolfgang Behringer "Tambora und das Jahr ohne Sommer"
    Cover: Wolfgang Behringer "Tambora und das Jahr ohne Sommer" (Cover: C.H.Beck)
    Behringer: Ja, ganz eindeutig. Ich spreche überhaupt von Tambora-Krise, um das von dem auslösenden Explosionsereignis her zu charakterisieren. Man konnte erstmals beim Ausbruch des Krakatau 1883 nachweisen, dass er diese weltweiten Effekte hatte, und danach hat man eigentlich erst verstanden, dass diese Vulkane ab einer bestimmten Größenordnung weltweiten Impact haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat dann ein amerikanischer Atmosphärenphysiker rückwirkend für den Tambora nachgewiesen, dass er sehr viel größere Effekte noch gehabt hat als der Krakatau-Ausbruch. Der Tambora war der größte Vulkanausbruch in der Geschichte der Menschheit.
    Allroggen: Wenn Sie von Effekten reden, meinen Sie damit auch kulturhistorische Effekte?
    "Es geht drunter und drüber!"
    Behringer: Kulturhistorische Effekte ganz unmittelbar kann man sehen. Man kann zum Beispiel die Künste durchgehen, wenn man will, die Malerei, die Schriftstellerei. Aber mittelbar auch über die sozialen Folgen, die dann zu diesen politischen Konsequenzen auch führen. Wir haben zum ersten Mal Massendemonstrationen im Jahr 1816 in England. Wir haben Straßenblockaden in Frankreich. Wir haben antisemitische Ausschreitungen in Deutschland und Dänemark. Wir haben Hungermärsche in der Schweiz. Es geht drunter und drüber! Das heißt, die Kultur verändert sich innerhalb weniger Monate ganz gravierend.
    Allroggen: Und für all das wollen Sie nun Tambora verantwortlich machen?
    Behringer: Ja! Das ist doch mein neuer Ansatz. Diese Krise, die bisher von den Historikern auch gar nicht eingeordnet werden konnte, die auch gar nicht gepasst hat, in der Geschichte zu verankern, auch in einer Erzählung zu verankern. Es kam ein entsetzlicher wirtschaftlicher Abschwung, eine Depression, Hungersnöte, alle möglichen Krankheiten brechen aus. Man musste sozusagen schockartig sich von seinen Erwartungen verabschieden und dann mit dieser Krise umgehen.
    Allroggen: Um das noch mal in Kürze zusammenzufassen: Die gesamte Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts für die nördliche Erdhalbkugel muss umgeschrieben werden.
    Behringer: Ja, ich hätte nichts dagegen. Ab und zu muss man ja die Geschichte mal umschreiben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.