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Der Autor als Anwalt der Armen.

Jean Ziegler, einer der profiliertesten Globalisierungskritiker, stimmt in seinem neuen Buch ein Loblied auf Evo Morales an. Morales habe "einen historischen Bruch mit der kannibalischen Weltordnung vollzogen und dem Westen eine bittere Niederlage zugefügt".

Von Daniel Blum | 28.09.2009
    Der Hass auf den Westen beherrscht heute eine große Mehrheit der Völker in der südlichen Hemisphäre. Dieser Hass lähmt die Vereinten Nationen. Indem er die internationalen Verhandlungen blockiert, verhindert er die Lösung von Konflikten. Der Westen seinerseits bleibt taub, blind und stumm gegenüber diesen Identitätsbekundungen, schreibt Jean Ziegler in seinem Buch "Der Hass auf den Westen". Dieser Hass sei der Grund für das Scheitern vieler Verhandlungen auf Regierungsebene und die eigentliche Ursache für die wachsende Distanz zwischen den Staaten des Nordens und des Südens.

    Was wiederum dazu führt, dass drängende Probleme ungelöst bleiben und Spielräume für gemeinsame Initiativen nicht genutzt werden, zum Beispiel in der Klimapolitik oder bei Blauhelmeinsätzen zum Schutz von Zivilisten. Drei Quellen macht Jean Ziegler für den Hass auf den Westen aus. Darunter die fehlende Konsequenz beim Einfordern von Menschenrechten

    Seit Jahrhunderten versucht der Westen, das Wort 'Humanität' zu seinem alleinigen Vorteil in Beschlag zu nehmen. Ob bei Abrüstung, Menschenrechten, Kontrolle von Atomwaffen, globaler sozialer Gerechtigkeit – der Westen spricht fortwährend mit gespaltener Zunge. Und der Süden reagiert mit abgrundtiefem Misstrauen.
    Mit Menschenrechten argumentiere der Westen gerne dann, wenn es seinen Interessen nütze, ansonsten schaue er über Menschenrechtsverletzungen gerne hinweg, meint Ziegler. Dies sei "Schizophrenie", sagt er:

    "Diese Doppelzüngigkeit – der Westen redet ja immer im Namen der ganzen Menschheit, im Namen universeller Werte – diese Doppelzüngigkeit, die ist nicht mehr erträglich für die Völker des Südens."
    Die zweite Quelle des Hasses auf den Westen speise sich aus der Vergangenheit: Die meisten Völker des Südens haben spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ihre politische Souveränität zurück gewonnen, nachdem sie von den Kolonialherren in die Unabhängigkeit entlassen worden waren. Mit Verzögerung würden sie sich jetzt des Schreckens bewusst werden, den sie während der kolonialen Unterdrückung erlitten hatten – und reagierten mit Wut. Und zuletzt speise sich der Hass auch durch die fortwährende Ausbeutung durch internationale Konzerne:

    Seit mehr als fünfhundert Jahren beherrschen die westlichen Länder den Planeten. Dabei stellen die Weißen nur dreizehn Prozent der Weltbevölkerung. Die Weltordnung bringt einer großen Zahl von Männern, Frauen und Kindern des Südens unsägliches Leid und neue Demütigungen. Auch sie nährt den Hass auf den Westen.

    Einen Hass, den Ziegler nicht prinzipiell als destruktiv empfindet – er könne durchaus konstruktiv genutzt werden. Er schärfe das politische Bewusstsein, den Blick auf das Unrecht. Und könne in diesem positiven Sinne identitätsstiftend sein, ist Ziegler überzeugt. Der Schweizer nahm 2005 als Gast an der Amtseinführung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales teil und hat das Andenland anschließend mehrfach bereist, in Provinzdörfern mit armen Familien und örtlichen Würdenträgern gesprochen.

    Morales war das erste indianische Staatsoberhaupt Südamerikas seit fünfhundert Jahren, als die europäischen Eroberer den Kontinent unterwarfen. Morales hat nach Amtsantritt alle Öl- und Gasfelder verstaatlicht; nur deren Infrastruktur – die Bohrtürme, Pipelines und so weiter – durften die Eigentümer behalten. Die internationalen Konzerne beuten die Vorkommen weiter aus, nun aber im Auftrag des Staates Bolivien. Dafür kassieren die Unternehmen weiterhin gutes Geld, der Löwenanteil des Gewinns bleibt indes im Land. Ziegler zeigt sich als vorbehaltloser Bewunderer des bolivianischen Modells:

    "Also hier sieht man den Hass, der zum Rechtsstaat wird, der zur Nationenbildung wird, der zur historischen Kraft wird."
    Ziegler sieht den Widerstand gegen ausländische Investoren und Ausbeuter als Motor der innenpolitischen Einigung in Bolivien – er interpretiert ihn als Musterbeispiel dafür, wie aus Unrecht Recht werden kann. Morales berief in seine Regierung Bolivianer der verschiedensten Ethnien; der Widerstand gegen den Westen führte nicht zu einem neuen Rassismus, sondern einem neuen Nationalgefühl. So nutze man Hass konstruktiv, konstatiert Ziegler – und grenzt sich gleichzeitig scharf von denen ab, die den Hass in Gewalt und Terror ummünzen:

    "El Kaida, die Dschihadisten und so weiter: das ist ein Polizeiproblem, das ist eine Pathologie, das ist ein reiner Wahnsinn. Der muss bekämpft werden."
    Vehement tritt Ziegler für seine Überzeugungen ein. Man spürt, welche Mühe es den 75-jährigen kostet, seine jugendlich anmutende Emphase zu zügeln. So lässt ihn idealistischer Ungestüm häufig in kleinere Exkurse schliddern. Doch vor dem Verzetteln bewahren ihn die straffe, übersichtliche Gliederung seines Buches - und didaktisch gut platzierte Wiederholungen der wichtigsten Thesen und Argumente. Bei aller Dynamik vernachlässigt Ziegler keineswegs, seine Aussagen zu belegen, verweist auf Expertisen, präsentiert statistische Zahlen. Doch trotz aller akribisch vorgetragenen Daten und Fakten: "Der Hass auf den Westen" ist ein einseitiges Buch – und will auch nichts anderes sein. Ziegler schildert Begegnungen mit Politikern des Südens, trägt ihre Sicht der Dinge vor und wirbt um Verständnis. In der Kritik steht der Westen, nicht der Süden: Dass es dort vielfach Korruption und Vetternwirtschaft gibt, dass es dort oft an Rechtssicherheit mangelt und Menschenrechte missachtet werden, erwähnt der Autor – wenn überhaupt – nur beiläufig. Ziegler, der große Moralist, will nicht abwägen, sondern anklagen, will nicht Richter sein, sondern parteilicher Anwalt der Armen – und das gelingt ihm mit Bravour.

    Daniel Blum über Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren", Verlag C. Bertelsmann, München 2009, Euro 19.95.