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Der Autor als Medium der Realität

Erscheinungen und Phantasmen sind wichtige Figuren in Óscar Hahns Lyrik. Die zweisprachige Anthologie "Liebe unter den Ruinen" gewährt einen Einblick in das Spätwerk des chilenischen Dichters: Es enthält eine Auswahl der nach 1996 entstandenen Gedichte.

Von Margrit Klinger-Clavijo | 13.08.2012
    Der Dichter, Essayist und Literaturwissenschaftler Óscar Hahn wurde 1938 im nordchilenischen Iquique geboren. 1961 erschien sein erster Gedichtband "Esta Rosa Negra" ("Diese schwarze Rose"). Nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 emigrierte Óscar Hahn in die USA, wo er von 1974 bis 2009 Professor für lateinamerikanische Literatur an den Universitäten von Maryland und Iowa war und sich auf die phantastische Literatur Lateinamerikas spezialisierte.

    Er hat mehrere Essays zu diesem Thema verfasst und eine Anthologie mit phantastischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts herausgegeben. Daneben schrieb er weiterhin Gedichte, veröffentlichte über ein Dutzend Gedichtbände, die zum Teil ins Englische, Griechische, Deutsche und andere Sprachen übersetzt wurden. Für seine Gedichte wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2011 mit dem Iberoamerikanischen Poesiepreis Pablo Neruda und gleich zweimal - 2003 und 2012 – mit dem chilenischen Altazor - Preis.

    Geige

    Dieser Baum
    hat eine Geige in sich

    Sie wurde noch nicht geschnitzt aber sie ist in ihm

    Sie wartet auf den Tag der Auferstehung
    im Baum

    Da sprach der Herr Stradivarius:

    Ich muss diese Geige retten
    Ich muss ihr die Rinde wegnehmen die sie gefangen hält
    Und sie an der frischen Luft atmen sehen

    Ich muss sie für mich singen hören

    Diese Geige
    hat einen Baum in sich
    hat Blumen die der stillen Musik lauschen

    hat Vögel


    Óscar Hahns Gedicht über die Geige stammt aus dem 2002 erschienenen Band "Weltliche Erscheinungen". Es wurde von Walter Eckel übersetzt und in die von ihm herausgegebene zweisprachige Anthologie Liebe unter den Ruinen aufgenommen. Sie gewährt einen guten Einblick in das Spätwerk des chilenischen Dichters dank einer überzeugenden Auswahl der nach 1996 entstandenen Gedichte. Walter Eckel will mit dieser Anthologie Óscar Hahns Lyrik auch im Land seines Großvaters verbreiten, der Ende des 19. Jahrhunderts Deutschland verlassen hatte und nach Chile ausgewandert war.

    "Ich schaffe nicht mit dem Verstand, sondern bin manchmal eine Art Medium der Realität", hatte Óscar Hahn in einem Interview hinsichtlich seines Schaffensprozesses bemerkt. Erscheinungen und Phantasmen sind wichtige Figuren seiner Lyrik. Sie treten in Erscheinung wenn es um Liebe und Tod geht, dem elementaren Thema seiner Lyrik. Die Erscheinungen sind nicht in einem religiösen Umfeld angesiedelt, sondern durchweg weltlicher Natur. Sie sind ein Indiz für die ungetrübte Wahrnehmung eines Dichters, der sich in den Grenzbereichen von Leben und Tod bewegt. "Wir sind alle Passagiere der Titanic" heißt es in dem Gedicht "Der Tod ist ein guter Lehrer", das nach einer Operation entstand, die ihn beinah das Leben gekostet hätte.

    Literaturkritiker rückten Óscar Hahn bisweilen in die Nähe christlicher Mystiker. Wahrscheinlich ist das auf das Gedicht "Johannes vom Kreuz hört Miles Davis" zurückzuführen. Es zeigt zwei herausragende Künstler in der Gefängniszelle. Johannes vom Kreuz, der wegen ‚Ketzerei’ 1577 im Gefängnis von Toledo einsaß und mit "Die dunkle Nacht" eines seiner schönsten Gedichte schrieb. Der Jazztrompeter Miles Davis, der 1959 mit "Kind Of Blue" Jazzgeschichte schrieb, jedoch im gleichen Jahr nach einem Wortwechsel mit ein paar Polizisten vor dem legendären Bird Land Nightclub in einem New Yorker Gefängnis landete. Hahn sprengt in dem Gedicht die Grenzen von Raum und Zeit: Der Mystiker hört Miles Davis Trompete spielen, der wiederum entdeckt an der Gefängniswand ein Graffiti mit einem Vers des Dichters.

    Wie gut kenne ich die Quelle die fließt und läuft
    Obwohl es Nacht ist

    Und das Blut das aus meinem Kopfe floss
    Durch die Schläge die mir die Polizei gab
    Erleuchtete die Zelle und versiegte

    "round midnight"


    Óscar Hahns Dichtung ist im Dialog mit der mittelalterlichen Liebeslyrik Europas entstanden, der intensiven Auseinandersetzung mit der Lyrik des spanischen Siglo de Oro, der nordamerikanischen Beat Generation und der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Nicht minder vielfältig ist der Sound: Bach, Berlioz, Rock und Jazz. Warum schreibe ich? - die Standardfrage, die sich der Dichter stellt oder andere an ihn richten, inspirierte Óscar Hahn zu folgender Parodie:

    Wegen des Phantasmas wegen gestern wegen heute
    Wegen morgen wegen ja wegen nein
    Wegen des Anfangs wegen der Bestie wegen des Endes
    Wegen der Bombe wegen der Mitte wegen des Gartens


    Óscar Hahns Themenspektrum ist nicht sehr breit. Neben Liebe, Tod und Erscheinungen Geht es um die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, den Bombenabwurf über Hiroshima, Erdbeben und Kriege, den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 oder jenen anderen 11. September im Jahr 1973, der in Chile den Beginn der Militärdiktatur markierte und für Óscar Hahn und etliche andere Künstler Zensur, Gefängnis und Exil mit sich brachte.

    "Während der Militärdiktatur war ich für ein paar Tage im Gefängnis. Danach bin ich aus Chile weg, ging ins Exil aufgrund der Militärdiktatur. Ich habe sechsunddreißig Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und bin vor einiger Zeit nach Chile zurückgekehrt, lebe fast wieder dort, pendle zwischen Iowa und Chile, lebe nicht ganz dort. Wenn man fünfunddreißig Jahre außerhalb seines Landes gelebt hat, kommt man sich bei der Rückkehr wie ein Fremder vor. Die Freunde sind nicht mehr da, es hat sich viel verändert, bestimmte Gebäude und Gaststätten, die es vor fünfunddreißig Jahren gab, sind verschwunden. Man kommt in eine fremde Welt."

    Das nachfolgende Gedicht "Knochen" erinnert an die Opfer der Militärdiktatur, an die spurlos Verschwundenen. Als Dokument des Widerstands wurde es in das 2010 in Santiago de Chile eröffnete Museum des nationalen Gedächtnisses und der Menschenrechte aufgenommen.


    Knochen

    Seltsam ist die Beharrlichkeit des Knochens
    Seine Hartnäckigkeit im Kampf gegen den Staub
    Sein Widerstand gegen seine Verwandlung in Asche

    Das Fleisch ist kleinmütig
    Es greift zum Skalpell zu Salben und zu anderen Masken
    Die nur das Antlitz des Todes schminken

    Früher oder später wird das Fleisch zu Staub
    Ein Schloss aus Asche vom Winde verweht

    Eines Tages stößt der Pickel der Erde aushebt
    Auf etwas Hartes: es ist weder Fels noch Diamant

    Es ist ein Schienbein ein Oberschenkel einige Rippen
    Ein Kiefer der einst sprach
    Und jetzt wieder spricht

    Alle Knochen sprechen spuken klagen an
    Errichten Türme gegen das Vergessen
    Weiße Gräben die in der Nacht leuchten

    Der Knochen ist ein Held des Widerstandes


    "Manchmal findet man bei Ausgrabungen, bei denen nach den Überresten der Gefangenen und Verschwundenen gesucht wird, Knochen. Und diese Knochen – ich sage das in dem Gedicht – sprechen. Sie denunzieren ihre Mörder. Würde man die Knochen nicht finden, würde man nichts darüber erfahren. Doch die Knochen richten sich an uns und sagen, sie töteten uns, begruben uns und ließen uns verschwinden, doch jetzt sind wir hier, weil der Knochen hart ist, weil der Knochen Widerstand leistet."

    Um das mit jedem Krieg einhergehende Unheil aufzuzeigen, muss Óscar Hahn keine Kriegsschauplätze aufsuchen, ihm genügt der nüchterne Blick ins Familienalbum. Über eine amerikanische Familie, die mit ihren Adoptivkindern aus Asien und der arabischen Welt durch Disneyland spaziert, schrieb er: "sie bombardierten zwar Hanoi, Bagdad und Kabul, aber sie sind barmherzig und adoptieren die Waisen." Ein Blick ins Familienalbum einer irakischen Familie im Jahr 2003 inspirierte Óscar Hahn zu dem Gedicht "Irakisches Familienporträt":

    Der Vater mit seinem Turban
    Und einem dichten schwarzen Schnurrbart
    Mit verschränkten Armen
    Zu seiner Linken seine Frau
    Mit bestickter Abaya
    Und einem weißen Schleier
    Abmad und Zainab
    Die beiden kleinen Kinder
    Hand in Hand
    Die Großeltern sitzen
    In einem Korbsessel
    Alle lächeln sie
    Auf einem halb verbrannten Foto
    Gefunden in den Trümmern
    Ihres Hauses
    Nach dem Bombenangriff


    "Als ich sieben war – ich kann mir dieses Datum gut merken, weil es mit dem Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki zusammenhängt, der 1945 erfolgte – redeten die Erwachsenen anschließend darüber; ich hörte ihnen zu und war tief beeindruckt. Hinterher hatte ich Alpträume, ich träumte als Kind von Atombombenexplosionen, verwüsteten Städten und Ähnlichem. Als sich später meine Gedichte zu entwickeln begannen, tauchten ganz von allein Themen auf, die mit dem Atomkrieg zu tun hatten. 130 Der Krieg hat mich schon in jungen Jahren beschäftigt und tut es heute noch. Ich verstehe einfach nicht, warum der Mensch den Krieg hinnimmt, als wäre er eine natürliche Lösung für politische und andere Probleme. Dabei ist der Krieg doch eine große Verirrung. Die Vereinten Nationen müssten den Krieg verbieten. Viele Menschen nehmen den Krieg einfach hin, ich nicht. Meines Erachtens kann sich die Menschheit erst dann zivilisiert nennen, wenn sie den Krieg aus ihrem Leben verbannt hat."

    Abschließend möchte ich noch ein Gedicht vorstellen, das Óscar Hahn kurz nach dem Erdbeben vom 27. Februar 2010 schrieb und worauf der Titel der Anthologie "Liebe unter den Ruinen" zurückgeht.

    Seismische Bewegung

    Ich hatte einmal eine große Liebe
    Die mein Haus zum Einsturz brachte
    Meine Brücken rissig machte
    Und mich das Gleichgewicht verlieren ließ
    Dann kamen die Nachbeben
    Liebeleien von geringer Intensität
    Die mich noch nicht einmal
    erbeben ließen
    Was die große Liebe betrifft
    Ach ich Unglückseliger
    Sie atmet immer noch unter den Ruinen


    Buchinfos:

    Óscar Hahn: Liebe unter den Ruinen (Amor bajo las ruinas). Gedichte, spanisch/deutsch. Übersetzung und Einführung: Walter Eckel, Rimbaud Verlag, Aachen 2012, 20,00 Euro