Donnerstag, 28. März 2024

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Der Balkan und die Kriegsverbrechen
Wo Gedenkorte zur Provokation werden

Im Bosnienkrieg wurde in Lagern nahe Prijedor gefoltert, vergewaltigt, gemordet. Der Opfer zu gedenken, sei nicht einfach im serbisch kontrollierten Landesteil von Bosnien-Herzegowina, sagt der Aktivist Ervin Blazevic. Er berichtet von bürokratischer Schikane und kollektiver Amnesie.

Von Dirk Auer | 13.06.2019
Ervin Blazevic auf dem Friedhof in Kozarac
Ervin Blazevic war als 18-Jähriger in Trnopolje interniert (Dirk Auer / Deutschlandradio)
Ervin Blazevic steht am Straßenrand. Rechts ein Schulgebäude, vor ihm eine saftig-grüne Wiese. Er atmet kurz durch, dann läuft er los.
"Das alles hier gehörte zum Lager. Und hier waren immer so zwischen 3.000 und 5.000 Leute. Hier wurden vor allem Frauen, Kinder und Alte interniert - unter schlimmen hygienischen Bedingungen, ohne ausreichend Wasser und Nahrung. Die Leute wurden gequält, und es kam zu Vergewaltigungen. Die ersten Tage habe ich dort im Freien geschlafen. Und dann hab ich dort in der Schule einen Platz auf der Treppe gefunden."
18 Jahre alt war Ervin Blazevic, als er in das Lager Trnopolje kam. Schau, sagt er und zeigt auf die Schule.
"Die Schule ist auch heute wieder eine Schule. Und auch sonst gibt es keinerlei Hinweis, dass hier einmal ein Lager war."
Negieren und leugnen - "die letzte Phase des Genozids"
Ervin Blazevic läuft zurück zur Straße. Dort steht ein Denkmal: eine graue Betonsäule, flankiert von Engelsflügen, in der Mitte ein christliches Kreuz. Gewidmet ist es den serbischen Soldaten, die im Bosnien-Krieg gefallen sind.
"Das zeigt am besten das Verhältnis der serbischen Regierung in Prijedor zu ihrer Vergangenheit. Dieses Denkmal ist 1999 errichtet worden, als die ersten Muslime wieder zurückgekehrt sind. Das heißt, es geht hier nur um Provokation. Wir haben kein Problem mit Denkmälern für serbische Opfer, wenn sie an Orten stehen, wo sie auch tatsächlich ums Leben gekommen sind. Aber dieses Denkmal ist totaler Fake: Es verdreht die geschichtlichen Fakten."
Fikret Alic, hier 2017 vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, mit einem "TIME"-Coverfoto, das ihn als Gefangenen in einem serbischen Lager zeigt
Fikret Alic wurde 1992 durch ein Coverfoto des "Time Magazine" zum Gesicht der Insassen serbischer Gefangenenlager (Phil Nijhuis/AP / picture alliance)
Auch in Prijedor selbst gibt es kein Denkmal, auch nicht in den anderen Lagern - und das heißt: auch nicht in Omarska, wo die Gefangenen aufs Grausamste gefoltert und getötet wurden. Es ist, als ob es die Lager nie gegeben hätte.
"Wir sind heute, leider, in der letzten Phase des Genozids: in seiner Negierung und Verleugnung. Dieselbe Politik und Rhetorik geht immer weiter. Es hat sich nur die Form geändert."
Muslimische Enklave im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas
Der Ort Kozarac liegt etwa fünf Kilometer entfernt. Alle Häuser wurden im Krieg komplett zerstört, die Bewohner vertrieben oder in die Lager deportiert. Heute ist Kozarac wieder aufgebaut, und weil es hier - anders als in anderen Orten - viele Rückkehrer gab, ist der Ort einigermaßen belebt: eine muslimische Enklave im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas.
"Wir sind auf einer Art Insel hier. Hier fühlen wir uns freier, es ist leichter als für jemanden, der in der Stadt Prijedor lebt. Denn hier sind wir die Mehrheit. Wir sind hier wie in einem Asterix-Dorf im Römischen Reich."
Hier in Kozarac steht auch das einzige Denkmal weit und breit, das an die Verbrechen von 1992 erinnert: direkt im Zentrum des Orts, eine helle Wand aus Beton, die sich zu einem Kreis zusammenschließt. Innen sind die 1.226 Namen der Ermordeten von Kozarac aufgelistet, außen ragen ebenso viele elektrische Kerzen aus dem Rund, sie wirken wie Stacheln. Ein gelungenes Denkmal, findet Ervin Blazevic.
"Denn es gibt hier weder religiöse noch nationale Symbole, stattdessen sind einfach nur die Namen aufgeführt. Hier, da stehen auch Kroaten und sogar ein paar Serben, die diesen Faschismus nicht unterstützt haben. Das heißt, es sind nicht nur Muslime, das ist wichtig. Es ist ein Denkmal für alle ermordeten Bewohner von Kozarac."
Denkmal in Kozarac - solche Orte des gemeinsamen Gedenkens sind selten auf dem Balkan, wo viele noch immer den Opferstatus ihrer eigenen Ethnie betonen
Denkmal in Kozarac - solche Orte des gemeinsamen Gedenkens sind selten auf dem Balkan, wo viele noch immer den Opferstatus ihrer eigenen Ethnie betonen (Dirk Auer / Deutschlandradio)
Doch selbst ein solches Denkmal darf es offenbar nur hier geben.
"Es gibt kein Problem, wenn wir in Kozarac gedenken. Denn im Prinzip erzählen wir uns hier selbst, was uns passiert ist. Aber wenn wir in Prijedor in die Öffentlichkeit gehen und dort auch die Serben mit der Vergangenheit konfrontieren wollen - dann verbietet uns das die Regierung."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Der Balkan und die Kriegsverbrechen - Verklärte Helden, verurteilte Mörder".
Etwas weiter die Hauptstraße hinauf hat Erwin Blazevic ein kleines Büro. "Optimisten" heißt seine kleine Organisation für soziale Projekte, der wenig erbaulichen Gegenwart zum Trotz.
Etwa 600 Menschen aus Prijedor und Umgebung gelten noch heute als vermisst. 2013 wurde oberhalb des Dorfes Tomasica, ganz in der Nähe von Prijedor, ein Massengrab entdeckt. Auf seinem Computer hat Ervin Blazevic Fotos von der Exhumierung. 600 Leichen wurden in dem Grab gefunden.
"Wie viele Leute brauchte es allein, um diese ganzen Leichen zu verscharren? Sie haben monatelang gegraben, mit Baggern und Lkw. So viele Leute waren direkt an all diesen Verbrechen beteiligt oder haben sich zumindest bei Plünderungen bereichert. Es ist schwer, das zuzugeben, ich verstehe das. Und dann verfällt man in eine kollektive Amnesie und sagt, dass sei nie passiert. Da stören wir natürlich, wenn wir mit den Fakten kommen."
Einige Serben zeigen sich solidarisch
Wie zum Beispiel jedes Jahr am 31. Mai. An diesem Tag marschieren seit 2012 ein paar Hundert Menschen durch die Stadt Prijedor und tragen am Arm ein weißes Band - im Gedenken an die 3.200 Ermordeten in der Region. Organisiert wird der Marsch von der Initiative "Jer me se tice" – auf Deutsch heißt das: "Weil es mich betrifft". Auch einige Serben sind an der Aktion beteiligt, betont Ervin Blazevic.
"Wir haben von Anfang an betont, dass es uns alle angeht: uns, die Bürger von Prijedor. Und letztes Jahr hat zum ersten Mal nicht wie üblich ein Muslim etwas für die Muslime gefordert, sondern ein Serbe hat unsere Forderungen verlesen. Wenn man berücksichtigt, dass dies alles ein Kampf der Art David gegen Goliath ist, dann ist das ein riesiger Schritt."
Ervin Blazevic vor dem Büro der "Optimisten"
Du kannst kein Pessimist sein, wenn Du Präsident der "Optimisten" bist, sagt Ervin Blazevic vor dem Büro seines Vereins (Dirk Auer / Deutschlandradio)
Wenigstens ein Denkmal für die ermordeten 102 Kinder sollte es in Prijedor geben, fordert die Initiative. Eine Petition wurde gestartet, die ersten juristischen Hürden sind genommen. Aber die Stadtregierung blockiert immer wieder. Ob wenigstens dieser Kampf gewonnen werden kann? Ervin Blazevic überlegt kurz, während er den Computer wieder herunterfährt. Dann sagt er:
"Ah, ich bin Optimist. Du kannst kein Pessimist sein, wenn Du Präsident eines Vereins bist mit dem Namen 'Optimisten'!"