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Der Baum der roten Sterne

Tessa Bridal, in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo geboren und aufgewachsen, verließ ihr Land während der Militärdiktatur der Jahre 1973 bis 1984. Sie emigrierte in die USA und ließ sich mit ihrer Familie in Minneapolis nieder. Ihr Alter wird nicht angegeben; doch den Inhalt ihres Buches bedenkend und ihre Portraitfotografie betrachtend, liegt es nahe anzunehmen, daß sie 1947, im selben Jahr wie ihre Protagonistinnen, Magdalena, Emilla und Cora zur Welt gekommen ist. "Der Baum der roten Sterne" ("The Tree of Red Stars") ist ihr erster Roman und in englischer Sprache geschrieben. Er erschien 1997 im Original, wurde mit dem "Milkweed National Fiction Prize" ausgezeichnet, und liegt jetzt in der überzeugenden Übersetzung von Katja Behrens deutsch vor.

Rosemarie Bollinger | 17.09.1998
    Dem Buch sind Worte von Oscar Wilde und dem uruguayischen Schriftsteller Mario Benedetti als Motto vorangestellt. Eine Hommage an Uruguays zweiten großen Sprachmeister, Juan Carlos Onetti - ebenso wie Benedetti unter der Militärdiktatur brutal verfolgt und ins Exil getrieben -, liegt im vollen Namen Magdalenas, der Ich-Erzählerin, verborgen. Sie heißt Magdalena Ortega Grey; wobei der erste Nachname den spanischen Philosophen, der zweite dagegen den Arzt Diaz Grey evoziert, eine zentrale Gestalt in Onettis literarischem Universum.

    Tessa Bridal hat etwas zu sagen und legt das Hauptgewicht auf den Inhalt, nicht auf die Arbeit an der Sprache. Ihr Buch ist ein hervorragend gebauter, nicht kunstlos, aber doch relativ einfach geschriebener, fesselnder, bewegender, in der Realität fundierter Unterhaltungsroman. Dies ist eine Feststellung, keine Abwertung. Der den Lesern leicht gemachte Zugang ist im vorliegenden Fall sogar zu begrüßen, da die Erzählung, verwoben mit verschiedenen Lebens- und Liebesgeschichten, eine beeindruckend redliche, die Grenzen des Landes sprengende Aufarbeitung der jüngsten uruguayischen Vergangenheit enthält. "Der Baum der roten Sterne" - er steht im Garten von Magdalenas Elternhaus. Es ist ein Weihnachtssternbaum, immer grün, der im südamerikanischen Winter, im Juni/Juli zu blühen beginnt. Der Baum sowie der nahegelegene Fluß, der Rio de la Plata, sind leitmotivisch eingesetzte Konstanten in Bridals Buch. Sie überdauern, anders als die Menschen, die individuellen und die kollektiven Katastrophen unversehrt.

    Sieht man ab von Prolog und Epilog, die den Hauptteil einrahmen, beginnt der Roman mit der Beschwörung der Kindheit Magdalenas. Erinnerungen, mit denen die Autorin ihre Leser regelrecht verzaubert und betört, ohne darüber in eine "heile Welt" abzurutschen. Magdalena wächst in einem gut- beziehungsweise großbürgerlichen Viertel Montevideos heran, wird in eine strenge englische Privatschule gezwungen, zeigt aber trotzdem keinerlei Neigung, sich in die erwünschte höhere Tochter zu verwandeln. Rebellisch, neugierig, phantasiebegabt, zu jedem Blödsinn und zu jedem Abenteuer aufgelegt, hockt sie, seit sie denken kann, im Nest der sie verbergenden Zweige des Weihnachtssternbaums und beobachtet die Welt und die Leute; wobei sie sich so ihre Gedanken macht. Als sie sechs, sieben Jahre alt ist, zieht Emilia ins Nachbarhaus, die Freundin, die ihr fast so vertraut wie eine Zwillingsschwester wird. Cora taucht bald darauf in der unmittelbaren Nachbarschaft auf und erweckt das besondere Interesse der beiden, da sie die überbehütete einzige Tochter von aus Deutschland geretteten Juden ist. Die Geschichte ihrer Eltern und das Aufzeigen einer partiellen Wiederholung dieser Geschichte im Uruguay der Diktatur gehört zu den schwächsten Partien des Buchs. Sie wirkt aufgesetzt, ist oberflächlich und darum wenig überzeugend.

    Unter den mit Magdalena aufwachsenden Protagonisten ist als vierter Marco Aurello Pereira zu nennen. Fünf Jahre älter als die Mädchen, Sohn eines Berufsoffiziers und der von Magdalena heißgeliebten Senora Marta. Einer so exzentrischen wie warmherzigen Jüngerin der schönen Literatur, die Radio-Seifenopern verfaßt und "während ihrer Schwangerschaften nur Shakespeare gelesen hatte, damit ihre Kinder mit einem ausgebildeten Sinn für die beste Literatur zur Welt kommen würden". Der auf Marco Aurello - Marc Aurel - getaufte Erstgeborene kommt jedoch mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit zur Welt; was ihn in seiner Familie zum Außenseiter und unter der Diktatur zum Staatsfeind macht. Marco und Magdalena werden ein Liebespaar.

    Den zahllosen Nebenfiguren des Romans liegen zweifelsohne die Urbilder realer Menschen zugrunde. Drei unter ihnen - die junge Bettlerin Graciela, die Köchin Josefa sowie "Mamacita", Magdalenas Großmutter -, sind Frauengestalten, die man so leicht nicht vergißt. Ausgearbeitete Charaktere verkörpern sie zugleich in unterschiedlichen Ausdrucksformen die Menschenkenntnis, die Menschenliebe und die Com-Passion der Autorin; jene verborgene Grundströmung, die die eigentliche Substanz ihrer Erzählung ist. Die übrigen Nebenpersonen, höchst lebendig im Moment ihres Auftretens, dienen mehr oder weniger dazu, den Lesern das Klima der Epoche oder Famillenverhältnisse oder in der Mittelschicht vorherrschende Gebräuche, Ideale und Ideologien plastisch vor Augen zu führen. Auch den wirtschaftlichen Niedergang und die Dekadenz der demokratischen Kultur in diesem Land, das einstmals als die "Schweiz Lateinamerikas" gerühmt und bewundert worden war.

    Unter den Repräsentanten der Zeitgeschichte hebt Tessa Bridal zwei Persönlichkeiten hervor und verbindet dies eng mit dem Schicksal der vier Protagonisten. Ernesto "Che" Guevara ist der eine; der andere: der nordamerikanische Folterspezialist Dan Mitrione.

    Guevara nahm im August 1961 in seiner Eigenschaft als kubanischer Industrieminister an der Gründungskonferenz der "Allianz für den Fortschritt" im uruguayischen Badeort Punta del Este teil. In dieser Zeit hielt er unter anderem eine Rede an der staatlichen Universität von Montevideo, das Ereignis, das die Autorin thematisiert; wobei sie passagenweise aus seinem eindringlichen Plädoyer für demokratische Strukturen und gewaltlose Widerstandsmethoden zitiert. In den Schluß-Applaus mischt sich ein Schuß. Ein Student ist tödlich getroffen. Panik bricht aus. Die berittene Polizei kommt zum Einsatz. Die drei jungen Mädchen werden erstmals Zeugen und Opfer staatlicher Willkür und Brutalität.

    Dan Mitrione wird Ende der sechziger Jahre vom US State Department nach Uruguay beordert, um die dortigen Sicherheitskräfte im Foltern zu schulen. Die Tupamaros entführen ihn am 31. Juli 1970. Zehn Tage danach wird er, durch zwei Kopfschüsse getötet, aufgefunden. Soweit die Fakten. Die drei Romanprotagonistinnen hatten sich mittlerweile aus unterschiedlichen Motiven den Tupamaros angeschlossen, während Marco, als Exponent der aktiven Demokraten in den Streitkräften, zwischen den Fronten - den Tupamaros und faschistischen Kreisen -, zu vermitteln versucht. Sie geraten alle vier in die staatliche Terrormaschinerie. Ihre Freundin, die junge Bettlerin Graciela, wird noch von Mitrione selbst, im Rahmen seiner Experimente, zu Tode gefoltert. In Tessa Bridals Bericht aus jener Hölle ist nichts erfunden.

    Prolog und Epilog von "Der Baum der roten Sterne" spielen im Jahr 1980. Magdalena war 1973 außer Landes geflohen, um sich in Europa für die Freilassung Marcos einzusetzen, an dessen Verhaftung sie sich schuldig fühlt. Nach sieben Jahren zermürbt, ist sie im Begriff aufzugeben, als sie die nicht mehr erhoffte Nachricht erreicht. Sie kehrt heim, wird wider Erwarten nicht festgenommen, sieht Emilia, dann auch Marco wieder. Ihr wird klar, daß sie ihn nur freigaben, weil er vom Tod gezeichnet ist.