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Der Befreier des akademischen Elfenbeinturms

Die Bücher, die er veröffentlichte, waren Versuche, gesellschaftliche Prozesse psychoanalytisch zu deuten. Und ihre Titel wurden zu Schlagworten "Die vaterlose Gesellschaft" etwa oder "Die Unfähigkeit zu trauern". In einem Forschungsprojekt hat Dr. Timo Hoyer vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt das Leben und Werk des populären Psychoanalytikers neu gesichtet. Und daraus wurde eine spannende Biografie, die gerade rechtzeitig zu Mitscherlichs Geburtstag erschien.

Von Inge Breuer | 18.09.2008
    " Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers und was er für viele Deutsche an Selbstgefühl repräsentierte, ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr vom Schuld, Scham und Angst. Sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazi-Vergangenheit wird entwirklicht.

    O-Ton Hoyer: Unfähigkeit zu trauern ist ... das erste Angebot einer Erklärung dafür, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bonner Republik eigentlich kein Thema war. ... Das ist die Grundthese und dass die weggesperrt worden ist vor dem eigenen Bewusstsein, dass man gleich drangegangen ist, eine neue Republik aufzubauen, ohne sich erst einmal der eigenen Vergangenheit zu vergewissern."Im Getümmel der Welt" hat Dr. Timo Hoyer vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt sein gerade erschienenes Porträt über Alexander Mitscherlich genannt. Denn Mitscherlich hatte die Intellektuellen aufgefordert, teilzunehmen an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Zeit, statt "weltfremd" in ihren Studierstuben zu verharren.

    "Er fordert die Akademiker alle auf, sich aus dem akademischen Elfenbeinturm herauszutrauen in die Öffentlichkeit. ..., dass sie sich einmischen sollen in gesellschaftliche Problemfelder in die Politik und sich nicht zurückhalten ... und das andere ist, dass dieser Titel auch sehr schön das Leben Mitscherlichs in dieser Welt beschreibt."

    Alexander Mitscherlich fühlte sich wohl "im Getümmel der Welt". Sein Leben - privat wie beruflich - war keineswegs gradlinig. Zunächst studiert er Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München, bricht seine Dissertation aber nach der Machtergreifung der Nazis ab. Er eröffnet eine Buchhandlung in Berlin. Beginnt in der Schweiz, Medizin zu studieren. Habilitiert sich kurz nach dem Krieg. Gründet in Heidelberg die erste deutsche Klinik für Psychosomatische Medizin. - Mitscherlich hat 7 Kinder mit drei Frauen. Seine Kinder klagen über ihren "omnipotenten", aber wenig präsenten Vater. Als er 1955 seine dritte und letzte Frau - die Ärztin und Psychoanalytikerin Margarete Nielsen - ehelicht, fragt die Standesbeamtin die Braut: "Und den Mann wollen Sie wirklich heiraten?"Also schon vor dem Krieg hat er so ne literarische Ader an sich entdeckt, er wollte eigentlich Essayist werden ... Dann gibt es natürlich die Entwicklung zum Mediziner, zum Psychoanalytiker, zum Psychosomatiker... und das dritte ist sein politisches Interesse. Und diese drei Dinge mussten erst mal zusammen wachsen ..."

    1946 wurde Mitscherlich als Beobachter zu den Nürnberger Ärzte-Prozessen geschickt. Als er 1949 in seinem Buch "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" die grausamen medizinischen Experimente an KZ-Häftlingen dokumentierte, stieß dies auf weitgehendes Desinteresse. 11 Jahre später allerdings wurde das Buch neu aufgelegt. Und nun übertraf die Nachfrage alle Erwartungen. Die Zeit war reif für die Aufarbeitung der Vergangenheit.

    "In den 60er Jahren, ... da knallt es plötzlich, da merkt man, jetzt ist die Zeit da. Da verlangt man auch nach diesen charismatischen Figuren, die ... mehr tun als nur eine Theorie entwickeln, sondern die auch etwas sagen zu den gesellschaftlichen Veränderungen, zur Erblast unserer Geschichte."

    1960 gründet Mitscherlich das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Zunehmend wird er zum Kritiker der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Er wird populär. Denn nicht die akademische Fachschrift ist seine Domäne, sondern die Presse, der Hörfunk, später auch das Fernsehen.

    " ... Was er konnte, war Dinge wahrnehmen, die in der Gesellschaft passieren, ... er konnte Gedanken ganz schnell fassen und in Literatur umsetzen, er konnte auch damit die großen Zeitschriften bedienen, die Tageszeitschriften, die Wochenzeitschriften ... Seine meisten Bücher sind ja eigentlich im Rundfunk entstanden und dann erst als Buch herausgekommen. Und dann war er auch ein Medienstar."

    Alexander Mitscherlich wurde zu einem der geistigen Väter der 68er. Die Bücher, die er in den 60er Jahren publiziert, tragen Titel, die zu Schlagworten werden. "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft" diagnostiziert den Verfall väterlicher Autorität. "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" ist ein Pamphlet gegen den seelenlosen Städtebau der Nachkriegszeit. Und in "Die Unfähigkeit zu trauern" diagnostiziert das Ehepaar Mitscherlich im deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit eine intensive Abwehr von Schuld und Scham. - Mitscherlich betreibt eine Psychoanalyse der Gesellschaft. Er betreibt - Sozialpsychologie. Alexander Mitscherlich in einem Radiovortrag:

    "Als Anlass zur Trauer wirkt, um es zu wiederholen, nicht nur der Tod Adolf Hitlers als realer Person, sondern seine Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal. Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug. Und er war ein inneres Objekt. Als solches repräsentierte und belebte er aufs Neue die Allmachtsvorstellungen, die wir aus der frühen Kindheit über uns hegen und die wir in unserer Geschichte so gepflegt haben. Sein Tod und seine Entwertung durch Sieger bedeutet auch den Verlust eines narzisstischen Objektes und damit eine Ich- oder Selbstverarmung.

    .... was man natürlich immer fragen muss, jetzt unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, wie macht man's methodisch? Also darf man Ergebnisse aus der individuellen Analyse hochrechnen und sagen das sind gesellschaftliche Phänomene? ... Gerade die amerikanischen Kollegen haben ... gesagt, das geht eigentlich nicht, was ihr da macht. ... In Deutschland hat sich diese Kritik nicht so geäußert, hinter vorgehaltener Hand war diese Kritik immer gegenwärtig, aber es gibt kaum öffentliche Kritik an diesem Buch ...."

    Während der 70er Jahre wurde es ruhiger um den Psychoanalytiker. Als er 1982 starb, war das Interesse an seinen Arbeiten bereits weitgehend erloschen. Die Zeit hatte den Zeitdiagnostiker überholt.

    "Er wollte bestimmte Zeitströmungen zur Sprache bringen. Aber das heißt auch, dass er seine Zeit gehabt hat, und es gab vielleicht auch so ne Mitscherlich-Erschöpfung. Eine neue Generation, die eigene Wege gehen wollte, neue Forschungsansätze."

    Jetzt, zu seinem 100sten Geburtstag, wird Alexander Mitscherlich wiederentdeckt. Es gibt Tagungen, neue Veröffentlichungen, die Medien berichten über ihn. Doch was wird bleiben, wenn die Gedenkfeierlichkeiten beendet sind?

    "Ich glaube auch nicht, dass die ganze Flut von Literatur und die Tagungen, die jetzt eingesetzt haben, dass man die zu schnell als Zeichen dafür werten sollte, dass jetzt die Sozialpsychologie wieder im Kommen ist. ... Aber ich denke, was man an dieser Literatur sehen kann, ist, dass der Mitscherlich eine Figur ist, die für die Geschichte der BRD viel geleistet hat und dass er eine typische Figur war in dieser Bonner Republik. Und das hab ich zumindest versucht in meiner Biografie, ihn auch als Spiegel dieser Epoche zu beschreiben."