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Der Berg der Seele

Als der Nobelpreises im Jahr 2000 an Gao Yingjian fiel, war die literarische Welt überrascht. Der Chinese, der seit 1989 fest in Paris lebt und inzwischen auch französischer Staatsbürger ist, war allenfalls durch ein paar absurde Theaterstücke aufgefallen und durch seine Tuschzeichnungen. Gao Xingjians jetzt auch in deutscher Sprache vorliegender Roman "Der Berg der Seele" ist seine Erinnerung an China und seine Suche nach einer spirituellen Heimat gleichermaßen.

Simone Hamm | 06.02.2002
    Wandernd versucht der Erzähler sich seinem fremden Land zu nähern. Und den Menschen. Er hält die Augen weit offen, wird Zeuge längst verlorengeglaubter alter Bräuche. Akribisch notiert er alles, was er auf seiner Reise den Yangzi hinab sieht, was er hört, ohne es einzuordnen. Kein Weg ist ihn zu weit, um eine Schamanin aufzusuchen oder eine weise Frau kennen zu lernen, die in die Zukunft sehen kann. Kein Berg zu hoch, um einen Forscher zu treffen, der sich längst von der gemeinen Welt abgewandt hat. Der Erzähler will zum Lingshan, dem Berg der Seele. Noch weiß er nicht einmal wo der Berg überhaupt ist, von dem alle reden, aber von dem niemand genau weiß, wo er liegt.

    Mehr und mehr wird die Wanderung des Icherzählers zur Pilgerschaft. Das eigentliche Ziel, der Lingshan, der Berg der Seele, tritt in den Hintergrund. Er lernt nicht China kennen, sondern sich selbst. Er ist angetreten, eine Reise zum Ich zu machen.

    Damit steht er ganz in der Tradition alter Dichter, die das Leben, das um sie tobt, nur als Fläche nehmen für ihr kompliziertes Seelenleben.

    Begonnen hatte der Icherzähler seine Reise, nachdem ihm sein Leben zum zweitenmal geschenkt worden. Die Diagnose "unheilbarer Lungenkrebs" hatte sich als falsch herausgestellt. Gao Xingjian hatte dies selbst erlebt, war auf Wanderschaft gegangen.

    Der Berg der Seele ist nicht nur eine Reise durch den Südcsten Chinas, sondern auch durch mehrere Jahrhunderte. Gao Xingjian hat die Geschichten der Ahnen und Urahnen aufgeschrieben, der Kaiser und der Banditen, der Fuchsgeister und der Rotgardisten. Es ist eine Reise durch ein zerstörtes, verwundetes Land. Sumpflandschaften sind dort entstanden, wo einst Seen trockengelegt werden sollten. Schweine hausen in Stellen, die aus Ziegeln von uralten Tempeln erbaut worden sind.

    Und es ist eine Reise im Zeichen der Gewalt, vor allem der Gewalt gegen Frauen. "Frauen leiden 500 mal mehr als Männer" heißt es einmal und nach der Lektüre des Romans in dem unzählige Frauen vergewaltigt, zwangsverheiratet und ermordet werden, hat man auch keinen Zweifel mehr daran. Der Icherzähler hat am Ende kaum noch die Geduld, den immer neuen Leiden der Frauen zuzuhören:

    Ich will nichts mehr hören, möchte nur, daß sie mit ihrer Geschichte schnell zu Ende kommt.

    Manchen Lesern, vor allem aber Leserinnen wird es ähnlich ergehen. Das ist Gao Xingjiangs kluger Schachzug. Er nimmt die Kritik, die ihn erwartet, vorweg. Etwa die, das sein Riesenwerk, in dem hundert" von Menschen auftreten, alles andere als ein Roman sei. Gao Xingjians Berg der Seele besteht aus 82 Kapiteln, jedes zwei bis acht Seiten lang, jedes eine in sich abgeschlossene Episode. Gao Xingjian lässt Schriftsteller und Kritiker miteinander streiten:

    "Das ist kein Roman."

    "Was ist es dann?", fragte er. "Ein Roman muss eine vollständige Geschichte haben."

    Er sagt, er habe viele, viele Geschichten erzählt, manche bis zu Ende, andere nicht. "Es sind alles nur ungeordnete Fragmente ohne Reihenfolge, der Autor weiß nicht, wie er daraus eine durchgängige Handlung aufbauen soll."

    Oder die Kritik an dem ständigen Perspektivwechseln, der da Lesen nicht gerade einfacher macht:

    "Ein langer Roman muss auf alle Fälle mehrere Hauptpersonen haben, aber bei dir...?" "Sind in meinem Buch "Ich", "Du, "Sie" und "Er" keine Hauptpersonen, fragte er.

    "Das sind nur unterschiedliche Personalpronomina, ein Wechsel der Erzählperspektive, das kann Charakterportraits nicht ersetzen."

    Er sagt, er male keine Portraits.

    Nicht zuletzt deshalb ist Der Berg der Seelen ist ein seltsam kalter Roman. Hart und klar beobachtet der Icherzähler, selten handelt er. Selbst, als er einen kleinen, ganz offenbar verlassenen Jungen in den Bergen findet, nimmt er sich seiner nicht an. Und doch ist Der Berg der Seele ein faszierendes, verstörendes Buch. Schwer zu lesen, aber nicht einfach aus der Hand zu legen. Gao Xingjian überlässt vieles der Interpretaion der Leser. Bleibt die Frau, die den Ich Erzähler begleitet, immer dieselbe? Sind es ihre Geschichten, die wir lesen, oder die anderer Frauen? Gibt es die Fabeln, die Volkslieder die Gao Xingjian erzählt als solche oder hat er sie erfunden?

    Im Roman ändern sich nicht nur alle paar Seiten die Erzählwinkel und die Zeiten, sondern auch die Gattungen. Fabeln gehen in Notizen über. Kleine absurde Episoden in blutrünstige Schlachtennacherzählungen. Groteske Lebenserinnerungen wechseln sich mit melancholischen Liedern ab. Dass die Leser daran Kritik üben könnten, hat der Autor vorweggenommen:

    Der Kritiker zeigt sich geringschätzig und knurrt: ...Reisenotizen, Gerüchte, Gefühle, Notizen, literarische Skizzen, unfundierte, theorielose Debatten, Fabeln, die nicht wie Fabeln ausgehen, das Hineinkopieren einiger Volkslieder und Balladen, dazu noch ein paar zusammengeschusterte unglaubliche Geschichten, die mit Mythen nichts zu tun haben, dann alles zusammengeflickt, und das soll als Roman gelten!

    Vom Westen sei er beeinflusst, sein Roman lese sich wie eine Übersetzung aus dem Französischen, haben chinesische Kritiker Gao Xingjian vorgeworfen, nachdem sie den Dichter im Exil notgedrungen zur Kenntnis nehmen mussten, da er nun einmal ausgezeichnet wurde mit dem weltweit anerkanntesten Literaturpreis.

    Für deutsche Leser wird manche Sequenz im "Berg der Seele" recht grob wirken. Das ist in der französischen, vom Autor durchgesehenen Fassung ganz anders. Sie liest sich leichter, flüssiger, und zwar ohne dass das grausame Miteinander der Protagonisten dadurch nicht gemildert würde.

    Gao Xingjians Thema ist das ländliche China. Mal herzlos, oft brutal sind die Bewohner des Südens. Sperrig sind sie und nicht einfach zugänglich. Und so ist auch der Der Berg der Seele ein bewusst sperriger Roman geworden, der sich nicht einfach einordnen lässt.