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Der besondere Fall
Die Artistin

Eine 15-Jährige spürt plötzlich einen brachialen, ziehenden Schmerz in der Hand, später folgen ähnliche Attacken in Bauch, Bein und Rücken. Die Hausärztin vermutet eine neurologische Störung, doch die Medikamente wirken nicht. Erst vier Jahre später hat die Frau eine eindeutige Diagnose. Ihr Leiden hat etwas mit ihren besonderen körperlichen Fähigkeiten zu tun.

Von Thomas Liesen | 05.04.2016
    Eine Frau macht Gymnastik-Übungen
    Ursache des Schmerzes: Celinas Gelenke kennen erblich bedingt kaum einen Haltepunkt bei Bewegungen. (picture alliance / dpa / Hu Dunhuang / Chinafotopress)
    Herbst 2011, die große Pause ist vorbei, die 15-jährige Celina Renzelmann geht mit ihren Freundinnen zurück in die Klasse. Der Deutschunterricht beginnt, ein Diktat steht an. Die Hand mit ihrem Füller gleitet flink über das Papier. Doch dann passiert etwas vollkommen Unerwartetes:
    "Also es klingt krass – als ob jemand ein großes Messer an eine Stelle sticht oder als ob die Haut oder der Körper an der Stelle von innen nach außen zerreißt."
    Und zwar in ihrer Hand. Sie lässt den Stift fallen, ihr entfährt unwillkürlich ein Schmerzensschrei. Doch dann, nach einigen Sekunden, ist alles vorbei. Was war das denn?, denkt die junge Frau - und vergisst den Vorfall wieder. Doch nur wenige Tage später: die nächste Schmerzattacke. Diesmal im Bein. Nach wenigen Sekunden ist auch die vorbei. Dann folgen in kurzen Abständen Attacken im Bauch, im Rücken und wieder in den Händen. Celina Renzelmann geht zur ihrer Hausärztin und berichtet.
    "Bei mir kommt immer von einer Sekunde auf die andere an irgendeiner Stelle vom Körper ein - ja doch schon ziemlich extremer Schmerz. Also, es ist wirklich ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl."
    Die Ärztin kann sich aus diesen Symptomen keinen Reim machen. Doch sie stellt Vermutungen an. Prof. Matthias Karst, Schmerzspezialist von der Medizinischen Hochschule Hannover, kennt die Krankenakte von Celina Renzelmann.
    "Primär wurde an eine neurologische Systemerkrankung gedacht, die entweder im Bereich des Nervensystems ihren Ausgang hat oder in der Muskulatur – an solche Dinge wurde gedacht."
    "Und dann wurde alles getestet"
    Neurologische Systemerkrankung – ein bekanntes Beispiel dafür ist Multiple Sklerose. Allein schon der Verdacht ist ein Schock für die junge Patientin.
    "Und dann wurde alles getestet: Meine Nerven wurden getestet, mir wurde öfter Blut abgenommen, meine Gehirnströme wurden getestet, meine Muskeln, es wurde Ultraschall gemacht, also es wurde wirklich alles gemacht, was irgendwie geht. Ich war auch in der Röhre."
    Das Ergebnis: nichts. Rein auf Verdacht bekommt sie Gabapentin verschrieben, ein Medikament, das gegen Epilepsie und gegen Nervenschmerzen verabreicht wird.
    "Davon bin ich aber immer umgekippt, also mir wurde schwarz vor Augen und ich bin dann einfach kurz weg gewesen."
    Vor allem: Das Mittel wirkt nicht. Die Schmerzattacken bleiben unverändert, wie sie immer wieder all ihren Ärzten zu erklären versucht. Doch es vergehen weitere Monate, ohne dass man ihr helfen kann. Schließlich sogar Jahre.
    "Also ich hatte nach einer Zeit wirklich schon geglaubt, dass man das nie rausfinden wird, habe auch immer selber schon im Internet immer geguckt, bin aber nicht weitergekommen. Und da macht man sich selber schon immer Gedanken: Was ist das, was könnte das sein, was ist falsch mit mir?
    Obendrein entdeckt sie immer häufiger so etwas wie Zweifel in den Blicken ihrer Ärzte – und sogar ihrer Freunde: Wenn nun niemand eine Ursache findet - vielleicht ist da auch nichts?
    "Man ist sich halt die ganz Zeit unsicher, denkt sich irgendwann selber, man ist verrückt irgendwo, weil man merkt zwar, man hat das auf jeden Fall, aber glaubt dann auch: Alle anderen denken, man wäre verrückt und würde sich das einbilden."
    Zum Glück kann sie trotzdem ihren Sport weiter betreiben. Sie ist Cheerleaderin, sie liebt diese Verbindung aus Tanz und Akrobatik. Und während des Trainings bleiben die Schmerzattacken meist aus. So genießt sie es weiter, mit ihrem Körper ganz ungewöhnliche Leistungen zu präsentieren, für die andere sie regelmäßig beneiden.
    "Da ist es mir aufgefallen, dass ich doch schon extrem weit in die Brücke komme, also weiter als alle anderen, aber mir ist das nie bewusst geworden, dass das nicht normal sein könnte."
    Schließlich, im Jahr vier ihrer Odyssee, überweist sie ihre Hausärztin praktisch als letzten Versuch in die Schmerzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover. Dort trifft sie auf Matthias Karst. Celina beschreibt ihm ihren Schmerz.
    "Wenn ich höre: ziehender oder stechender Schmerz, dann ist das eine Beschreibung, die nicht zu einem Nervenschmerz passt, sondern zu einem Schmerz im Bewegungsapparat."
    Er ist sich schnell sicher – und das ohne Einsatz auch nur eines einzigen Diagnoseapparats: Celina hat weder MS noch eine andere der schlimmen neurologischen Störungen. Den Großteil ihrer dicken Krankenakte, die Ergebnisse von EEG, MRT, Ultraschall, kann er getrost beiseite legen. Ebenso das Ergebnis der schmerzhaften Lumpalpunktion, bei der ihr Nervenwasser aus dem Wirbelkanal abgezapft worden war. Dagegen ist ein einfacher, aber grundlegender Diagnoseschritt zu seiner Überraschung bisher unterblieben: Niemand hat die mittlerweile 19-Jährige bisher systematisch körperlich untersucht. Ganz ohne Technik, nur mit den Händen und mit wachen Sinnen.
    "Dass man einfach mal schaut, wie kann sich zum Beispiel ein Mensch, der steht, wie weit kann er sich vorbeugen? Und da war schon mal das Erstaunliche bei Frau Renzelmann, dass die sich quasi so weit vorbeugen kann, dass sie mit gestreckten Beinen trotzdem mit den flachen Händen auf den Boden aufkommt."
    Matthias Karst lässt sie weitere Bewegungen ausführen: Und sofort ist klar: Celina Renzelmann ist eigentlich reif für eine Zirkuskarriere. Sie kann ihre Finger teilweise im 90 Grad-Winkel nach oben Richtung Handrücken klappen. Sie kann ihre Daumen so weit abwinkeln, dass sie die Unterarme berühren. Und auch andere Gelenke lassen sich weit überstrecken. Die Diagnose ist eindeutig: Hypermobilitäts-Syndrom. Celinas Gelenke kennen erblich bedingt kaum einen Haltepunkt bei Bewegungen. Das macht sie zum einen gelenkig wie ein Artistenprofi, führt aber gleichzeitig zu den kurzen, heftigen Schmerzattacken.
    "Ich war wirklich froh, weil endlich hatte ich Klarheit und wusste, was los ist und dann ist ein Teil der Belastungen und diese ganze Unsicherheit sofort von einem abgefallen und man hat sich besser gefühlt."
    Von jetzt an gilt es, die Gelenke der 19-Jährigen zu schützen. Dazu durchläuft sie eine Physiotherapie. Dabei werden Muskeln gestärkt, die ihren Gelenken Halt geben. Gleichzeitig macht sie eine Ergotherapie. Bei der wird eingeübt, wie sie Bewegungen vermeidet, die die Gelenke unnötig belasten. Und auch Familie und Freunde achten jetzt verstärkt auf sie.
    "Wenn ich irgendwas mache, dann sagen die auch: Lass das, du machst das schon wieder, so Sachen, die ich unbewusst mache mit meinen Fingern am Tisch irgendwie rumbiegen, ich bemühe mich schon, das weniger zu machen."