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Der besondere Fall
Erst Schnarchen, dann lebensgefährliche Atemnot

Ein Kleinkind wird von schwerer Atemnot geplagt. Doch kein Arzt kann eine Ursache für die Symptome finden - bis eine Ärztin genauer hinschaut. Die Diagnose kommt spät, aber gerade rechtzeitig: Durch eine Notoperation kann das Leben des kleinen Patienten gerettet werden.

Von Christina Sartori | 09.10.2018
    Ein kleiner Junge spielt in einer Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Hannover (Niedersachsen).
    Beim Spielen leidet der kleine Junge immer wieder unter Atemnot - Ärzte vermuten eine Bronchitis (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Sarah Schneider ist froh, dass das Jahr 2017 vorbei ist: "Es ist schon ein heftiges Jahr gewesen, letztes Jahr." Zwei Kinder hat die Berlinerin, Benjamin und sein kleiner Bruder Jerome, jetzt drei Jahre alt. 2017 war Jerome sehr lange krank, es dauerte viele Wochen, bis klar war, was ihm wirklich fehlt – und da war es dann fast zu spät. Nur durch eine Notoperation konnte sein Leben gerettet werden. Dabei hatte es ganz alltäglich angefangen, erzählt Sara Schneider: "Er hat immer so komisch geschnarcht, hat immer ganz komische Geräusche gemacht. Er war auch immer, wenn er getobt und gespielt hat, schnell aus der Puste gewesen."
    Jeromes Kinderarzt vermutete eine Bronchitis, verschrieb ein Antibiotikum. - Aber das Schnarchen blieb, die Atemnot, wenn Jerome rannte oder tobte, blieb ebenfalls. Und der Arzt blieb bei seiner Diagnose, immer wieder, berichtet die Mutter: "Dann meinte der Kinderarzt immer laufend: Das ist eine Bronchitis, Bronchitis, Erkältung."
    Viele Ärzte – aber keine richtige Diagnose
    Die junge Berlinerin wechselte den Arzt, nun gab es eine neue Diagnose: "Ein anderer Arzt meinte, das ist ein zu weicher Kehlkopf, das sich angeblich verwachsen sollte, also wir haben so viele Diagnosen gekriegt."
    Sarah Schneider wechselte drei oder vier Mal den Kinderarzt, sie ging mit Jerome zum Hals-Nasen-Ohrenarzt, zum Kardiologen und es wurde ein Allergietest gemacht. Alles ohne Ergebnis beziehungsweise meistens mit dem Ergebnis: Bronchitis.
    "Irgendwann hat man auch aufgehört zu zählen, weil jeder die gleiche Diagnose sagt. Ich war schon zufrieden, dass die eine Kinderärztin, die bei uns um die Ecke ist, gesagt hat nach vier, fünf Wochen: Man kann das Kind nicht dauernd mit Antibiotikum zustopfen, ihr kommt das auch alles komisch vor, das Atmen. Das gefällt ihr nicht, deswegen hat sie uns zu ihrer Lungenärztin hingeschickt."
    Aber auch die Lungenärztin kann die Ursache für Jeromes Atemprobleme nicht finden - doch ihr ist klar, dass dies ein besonderer Fall ist und deswegen schickt sie den kleinen Jungen zu Spezialisten, damit die Lunge genauer untersucht werden kann. "Sie meinte auch, sie will jetzt keine falsche Diagnose stellen, sie schickt uns jetzt mit einer Überweisung zur Bronchoskopie."
    Eine gründliche Untersuchung zeigt ungewöhnliche Symptome
    So kommt Sarah Schneider mit Jerome in das Helios Kinderzentrum Berlin-Südwest, wo Jerome von Dr. Annette Günther, der Leitendenden Oberärztin, untersucht wird. "Uns ist aufgefallen, dass Jerome eine Atemnot hatte. Woran haben wir das gesehen? Daran, dass so wie bei einem Asthmaanfall die Atemhilfsmuskulatur angestrengt wird, die Nasenflügel, die bewegen sich, man kann alle Rippen sehen, wenn das Kind einatmet - das war eigentlich das Auffälligste. Und wenn er sich bewegt hat, wenn er gespielt hat, dann hat man tatsächlich so eine pfeifende Einatmung gehört."
    Jeromes Mutter berichtete, dass die Atemgeräusche in den vergangenen Wochen häufiger zu hören sind, erinnert sich die Kinderärztin Annette Günther: "Zuerst war das nur beim Spielen auffällig, dass er so eine geräuschvolle Atmung hatte, später dann auch bei Belastung, wenn er gerannt ist, hörte die Mutter immer wieder so ein pfeifendes Atemgeräusch. Und zum Schluss dann, in den letzten Wochen, auch in Ruhe. Also auch wenn Jerome geschlafen hat, klang es erstmal so wie Schnarchen. Aber es war einfach auffällig und es war kein normales Schnarchen."
    Bei der körperlichen Untersuchung von Kopf bis Fuß fällt Annette Günther eine Hautveränderung auf: "Als wir Jerome von oben bis unten angeschaut haben, fielen noch sogenannte Café au Lait Flecke auf. Das sind Pigmentflecke, die sind hellbraun und die hatte Jerome am ganzen Körper. Und als Kinderarzt weiß man eigentlich gleich, dass das ein Hinweis ist auf eine Neurofibromatose, die kommt gar nicht so selten vor."
    Gibt es einen Zusammenhang?
    Neurofibromatose ist eine Erbkrankheit, die bei etwa einem von 3000 Kindern auftritt. Sie wird am häufigsten anhand der Café au Lait Flecken erkannt. Findet ein Arzt fünf oder mehr dieser Pigmentflecken, dann ist das ein sicheres Zeichen für eine Neurofibromatose. Die genetische Veränderung führt dazu, dass um die Nerven herum Gewebe stärker wächst, als normalerweise. Dadurch kann es zu schweren Beeinträchtigungen und Nervenschäden kommen - muss aber nicht.
    Manche Patienten verspüren ihr Leben lang keine problematischen Veränderungen. Die Diagnose war für Jeromes Mutter keine Neuigkeit, erinnert sich Annette Günther: "Wir haben die Mutter gefragt und sie kannte das. Sie wusste, dass bei Jerome diese Diagnose schon gestellt worden ist. Aber Jerome ging es bis dahin auch sehr gut."
    Auch die Ärzte glaubten erstmal nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen der Diagnose Neurofibromatose und den Atemproblemen des kleinen Jungen gibt. Dann wurde die Bronchoskopie, die genauere Lungenuntersuchung durchgeführt, um zu sehen, ob irgendetwas die Atemwege blockiert. "Bei Kindern wird eine solche Prozedur immer in Narkose durchgeführt und man schaut dann mit so einer kleinen Optik sich die Atemwege an. Über so einen kleinen Schlauch, viele Menschen kennen das von der Magenspiegelung."
    Unübersehbar: Die Ursache der Atemnot
    Doch die Ärzte kommen nicht weit: Gleich zu Beginn der Untersuchung, auf Höhe des Kehlkopfs, ist ein Tumor. Dieser Tumor ist so groß, dass dem Team gleich klar ist: Das ist der Grund dafür, dass Jerome so schlecht Luft bekommt. Eine Probe aus dem Tumor wird im Labor genauer analysiert und es zeigt sich: Der Tumor ist durch die Neurofibromatose entstanden, aus Nervengewebe. "Es gibt nicht sehr viele Fälle, die ihren Tumor dort haben bei der Neurofibromatose. Weltweit haben wir bisher 60 Fälle gefunden, wenige bei Kindern, in so einem Alter, da ist es ausgesprochen selten."
    Die Diagnose kommt gerade noch rechtzeitig. Während die komplizierte Operation vorbereitet wird, um möglichst viel von dem Tumor an dieser heiklen Stelle zu entfernen, verschlechtert sich Jeromes Zustand rasant: Immer wieder schlagen die Überwachungsgeräte nachts Alarm, weil sein Körper zu wenig Sauerstoff erhält. Schließlich müssen die Chirurgen noch vor dem geplanten Termin eingreifen: Notoperation. Sarah Schneider wird das nie vergessen: "Auf jeden Fall war es nachts gewesen, ich weiß nicht wie viel Uhr und es hat doll geregnet. Und die 45 Minuten kamen mir vor wie zehn Stunden."
    Jerome kann wieder frei atmen
    Die Operation gelingt, und nach einigen Tagen Intensivstation, mehreren Tagen normaler Station und drei Wochen Reha ist Jerome wieder auf den Beinen. Vollkommen konnte das Tumorgewebe nicht entfernt werden. Daher muss er zu regelmäßigen Kontrollen, falls der Tumor wieder wächst. Aber das Wichtigste: Jerome kann wieder frei atmen.