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Der besondere Fall
Muskel-Auge-Gehirn-Krankheit

Die Muskel-Auge-Gehirn-Krankheit ist eine seltene, schwere Stoffwechselerkrankung - und ein Beispiel für die teils dramatischen Folgen, wenn ein Organismus bestimmte Substanzen nicht richtig aufnehmen kann. Die Diagnose gleicht dann fast immer einer mühsamen und belastenden Detektivsuche.

Von Mirko Smiljanic | 20.11.2018
    Ein Sprechzimmer einer Gynäkologin mit Ultraschallgerät
    Ultraschall bei der Pränataldiagnostik - "Tausend verschiedene Krankheiten, die angeboren sein können" (Imago)
    Universitätskinderklinik Münster im Büro von Professor Thorsten Marquardt. Am Besprechungstisch sitzt eine Frau Mitte 30 mit ihrer vier Jahre alten Tochter Isabella. Isabella ist von Geburt an behindert und benötigt einen Rehabuggy.
    Das Mädchen kann seine Arme und Beine nicht richtig bewegen, außerdem ist sie blind. Ein Schock war die Erkrankung für die Mutter, ein Schock für die gesamte Familie! Dabei verlief die Schwangerschaft zunächst ohne jede Komplikationen.
    "Also ich selber habe gar nichts gespürt, ich selber hatte eine einwandfreie Schwangerschaft, ich hatte eine so traumhafte Schwangerschaft, das kann man sich gar nicht vorstellen."
    In der 19. Schwangerschaftswoche stellte ihre Frauenärztin im Rahmen einer Routineuntersuchung allerdings eine Abweichung fest. Isabellas Kopf enthielt mehr Wasser als normal.
    "Wenn vermehrt Flüssigkeit im Kopf da ist, heißt das ja, dass die Hirnstrukturen nicht richtig angelegt sind, oder dass das Hirnwasser nicht richtig abfließen kann, eins von beiden."
    Sagt Professor Thorsten Marquardt von der Universitätskinderklinik Münster.
    Isabellas Mutter erzählt: "Und dann fing das ganze Drama an. Von da an sind wir dann erstmal nach Bremen gekommen zum Pränataldiagnostiker. Dann wurden ganz viele Tests gemacht, Fruchtwasseruntersuchungen, so das übliche, Gene und so was. Und es war alles unauffällig, was ja eigentlich gut war für uns."
    Pränataldiagnostik liefert nicht immer Erklärung
    Niemand konnte sich die Wasseransammlung erklären, im besten Fall entwickle sich das Mädchen ohne Komplikationen. In der 32. Schwangerschaftswoche löste sich diese Hoffnung aber in Luft auf. Irgendetwas stimmte mit den Augen des Mädchens nicht, wahrscheinlich so die Auskunft der Ärzte, würde sie blind zur Welt kommen. Ein Schock, dem noch weitere folgen sollten. Ein paar Wochen später wurde die Mutter wegen einsetzender Frühwehen in eine Klinik nahe ihres Wohnortes eingeliefert. Sie berichtet, zum Teil mit stockender Stimme:
    "Man hat dort nochmal von einem Pränataldiagnostiker draufschauen lassen, und er hat sehr viel Unruhe reingebracht, weil... Ja, ich lag da und er hat ein Ultraschall gemacht. Mein Mann war auch dabei, und mein Mann fragte, wie es denn jetzt wäre. Und der Pränataldiagnostiker hat zu uns gesagt, sie hat Arme, sie hat Beine, ob sie die bewegen wird…"
    Ihr Kind schwer behindert? Warum erfährt sie es nach all den Untersuchungen erst jetzt?
    Professor Marquardt: "Das ist nicht ungewöhnlich, weil es ja Tausende von verschiedenen Krankheiten gibt, die angeboren sein können, und man kann nicht nach allen Krankheiten gucken. In den normalen Untersuchungen guckt man zum Beispiel ob die Chromosome in Ordnung sind, ob irgendwo etwas abgebrochen ist, also man macht recht grobe Untersuchungen. Aber man kann nicht, wenn kein vorangehendes Kind betroffen ist, in der Regel genau feststellen, was es für eine Krankheit ist."
    Sehprobleme und unkoordinierte Motorik nach der Geburt
    Isabella kam zur Welt - und sie war behindert. Die Wasseransammlung im Gehirn war allerdings weit geringer als befürchtet - wirklich Sorgen machte den Eltern, dass ihre Tochter Probleme mit den Augen hatte. Sie vereinbaren Kliniktermine in Freiburg, Kiel und Hamburg - leider vergebens.
    Isabellas Mutter: "Sie hat am Anfang auf Licht reagiert, die ersten drei Monate. Und irgendwann war das weg, irgendwann hat sie keine Reaktion mehr darauf gezeigt."
    Mit zunehmenden Alter traten andere Symptome in den Vordergrund. Die Bewegungen der Arme und Beine waren unkoordiniert, das Gehirn schien ebenfalls betroffen. Woran sie genau litt, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand genau. Ein Arzt tippte auf das "Walker-Warburg-Syndrom", eine Erkrankung mit einer Lebenserwartung zwischen drei Monaten und drei Jahren. Als letzten Strohhalm meldete sich Isabellas Mutter schließlich in der Universitätsklinik Münster. Die Initiative ging von der Mutter aus, weil ihre Kinderärztin keine Überweisung ausstellen wollte.
    Professor Marquardt: "Der Grund, dass die Kinderärztin zurückhaltend war, eine Überweisung auszustellen, war ja, weil sie gedacht hat, das ist eine schwere Diagnose, da kann man eh nichts machen, warum soll man da noch woanders hingehen."
    Therapie: Zucker für die Eiweißfabrik
    Thorsten Marquardt nahm Isabella auch ohne Überweisung - zum Glück. Nach einigen Untersuchungen stellte er die Diagnose "Muscle-Eye-Brain-Disease". Übersetzt ist das die "Muskel-Auge-Gehirn-Krankheit" - eine seltene Stoffwechselstörung.
    "Isabella hat ein Problem im Einbau eines Zuckers in ihre Eiweiße, und dieser Zucker wird eingebaut nur in Eiweiße, die im Auge vorkommen, im Gehirn vorkommen und in der Muskulatur vorkommen. Deswegen sind auch nur diese drei Organsysteme - nur in Anführungszeichen, das Problem ist groß genug - nur diese drei Organsysteme sind von der Krankheit betroffen, nicht die Leber, nicht das Herz oder ein anderes Organ, weil da der Zucker nicht benötig wird."
    Die Therapie, so Thorsten Marquardt, zielt darauf ab, den fehlenden Zucker irgendwie in das Eiweiß einzuschleusen.
    "Bei dieser Erkrankung fällt sozusagen der Arbeiter aus, der in der Fabrik, wo die Eiweiße hergestellt werden, mit einem Schraubenschlüssel diesen Zucker anschrauben würde. Aber der ist meistens nicht so kaputt, dass er gar nicht funktioniert, sondern er ist vielleicht mit zwei Prozent Funktion vielleicht da. Und man kann ganz oft diesem Arbeiter das Leben leichter machen: Wir wissen zwar, dass Du nur zwei Prozent dessen schaffst, was man schaffen würde, aber wenn wir Dir ganz viel Zucker drum herum legen, sodass Du, egal wo Du gerade hin greifst, kriegst Du auf jeden Fall einen Zucker zum Anschrauben, dann wird es oft viel besser."
    Genauso ist es geschehen. Verglichen mit dem, was einige Ärzte prognostiziert haben, geht es Isabella mittlerweile ausgesprochen gut. Ihre Mutter erzählt:
    "Sie bekommt Physiotherapie, sie ist in einem Heilpädagogischen Kindergarten, sie bekommt Logopädie. Anfangs hat man gedacht, sie wird wahrscheinlich eine Magensonde brauchen, so wie die anderen Kinder, die das haben, was sie hat, von der Erkrankung her. Braucht sie nicht, sie kann alles essen, sie macht das gut, ja, und sie ist toll!"