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Der besondere Fall
Plötzliche Stürze

Ein Patient sackt immer wieder ohne Vorwarnung in sich zusammen. Durch die plötzlichen Stürze traut sich der Rentner kaum noch auf die Straße. Lange können die Ärzte keine Diagnose stellen. Das Problem: Der Mann leidet an vielen Krankheiten gleichzeitig.

Von Christina Sartori | 11.12.2018
    Ein Mann steht allein an einem Fenster und schaut nach draußen
    Die Ursachen für Ohnmachtsanfälle können unterschiedlich sein (picture alliance / dpa / Thomas Eisenhuth)
    Es gab eine Zeit, da wagte sich Leonard Hoffmann, der eigentlich anders heißt, kaum aus dem Haus. Weil er fürchtete, zu stürzen. Ohne Grund, ohne zu stolpern, einfach so sackte er zusammen.
    "Ich falle für eine Sekunde aus. Ich sehe mich oder hör mich fallen. Ich bin also fast bewusst. Und klatsch dann unten auf dem Boden auf. Der erste Griff ist die Nase: Blut? Nee, aber sie ist schief, das sind so die Schrammen."
    Das Gefährliche an diesen Stürzen: Sie passieren aus heiterem Himmel, es gibt nahezu keine Vorwarnung, erzählt Leonard Hoffmann:
    "Ich habe nur vorher, direkt vorher, gemerkt: Wenn du dich jetzt hinsetzt, kannst du das vermeiden. Ich habe also alle Bänke Berlins kennengelernt. Das ist ganz wichtig: Dass man sich irgendwo hinsetzt und dann geht es noch. Das hat sich mit dem zunehmenden Alter auch verdichtet, auf zehn Sekunden Vorwarnzeit, das ist sehr unangenehm. Ich muss ganz schnell runter oder ich falle."
    Die plötzlichen Anfälle verändern das Leben des Berliner Rentners dramatisch. Freunde sieht er nur, wenn sie zu ihm kommen und auf eine Aktivität, die ihm sehr viel Freude bereitet, muss er ganz verzichten: Das Autofahren.
    "Ich bin leidenschaftlicher Autofahrer, weil ich kulturell unterwegs bin. Und das ist dann weggebrochen, das ist dann sehr unglücklich gewesen, das war ein richtig tiefer Einschnitt. Dass man nicht mehr so alte kleine Landmuseen abklappern kann, da kann man unheimlich schöne Sachen entdecken."
    Mit dem Ruhestand kamen die Pausen
    Begonnen haben die Anfälle einige Wochen, nachdem Leonard Hoffmann in Rente gegangen war. Erst etwa alle zwei Monate, dann wurden die Abstände immer kürzer, am Ende traf es ihn etwa einmal im Monat. Also ging der Berliner zum Arzt. Dort vermutete man ein Problem des Kreislaufs. Und führte entsprechende Untersuchungen durch: Erst am Herzen:
    "Hat sich nichts ergeben. Bei den Langzeit EKGs oder 24 Stunden EKGs war nichts zu sehen."
    Und dann an der Halsschlagader, der sogenannten Karotide:
    "Dann haben sie angefangen: Na, dann ist irgendein Engpass im Körper, dann wurde meine Karotide hier untersucht. Hat man festgestellt: Die ist fast zu. Hat man gesagt: Na, jetzt haben wir es. Wir machen das fertig und dann sind sie wieder frei. Und dann hat man die eine Karotide, die fällig war, aufgemacht und dann nach der Operation, als ich im Flur ging, im Krankenhaus, bin ich schon wieder."
    Die Halsschlagader wurde zwar erfolgreich operiert – doch die plötzlichen Aussetzer und Stürze, die blieben. Der Rentner kehrte ohne Diagnose nach Hause zurück, wo er dann alle Ecken und Kanten polstert – sicher ist sicher. Seine Hausärztin veranlasste eine weitere Untersuchung: Den Schellong Test.
    "Sie werden für 20 Minuten auf eine Liege gelegt, dass der Körper wirklich in Ruhestellung ist und dann werden sie hochgestellt. Und dann fallen sie theoretisch um. Das ist der Beweis, dass sie Synkopen haben. Ein normaler Kreislauf hält das aus. Und ich sackte schön brav – man wird ja angeschnallt - in meinem Körbchen zusammen. Sie waren alle ganz glücklich, dass wir einen Namen hatten. 'Er hat Synkopen'."
    Unerwünschte Pausen
    Wie in der Musik bedeutet das Wort Synkope in der Medizin: Eine Pause. Der Kreislauf setzt kurz aus. Das Problem: Es gibt verschiedene Ursachen für Synkopen – und die Ursache für Leonard Hoffmanns Synkopen kannte man immer noch nicht.
    "Man hat mich entlassen mit Diätwünschen, mit Sportwünschen, mit allem möglichen, das ich mein Körperempfinden, mein Körperbewusstsein wieder aufmöbel. Und dachte: Das wird ihm hoffentlich reichen. Und es ging immer weiter, immer weiter, weiter."
    Auf der Suche nach dem Grund für die Synkopen kommt der Berliner zu einem Kardiologen – der ihn dann weiterschickt, zu einem anderen Arzt – zum Glück!
    "Und dieser Mann hat den Tipp gegeben: Sofort zur Neurologie, die müssen da auch ihr Gutachten abgeben. Und die sind ganz schnell fündig geworden."
    Professor Lutz Harms, Oberarzt der neurologischen Klinik der Charité in Berlin, erinnert sich noch gut an die erste Begegnung mit Leonard Hoffmann:
    "Er war ziemlich verzweifelt, weil er schon sieben Jahre lang diese Synkopen hatte. Er stürzte dabei, er hat sich auch verletzt, das passierte, als er aufstand. Und es wurde ihm schwindelig und er fiel um. Er hatte einige Sekunden Vorwarnzeit, dass ihm etwas drieselig wurde im Kopf, aber das passierte später auch im Sitzen bereits, so dass seine Lebensqualität erheblich eingeschränkt war."
    Systematisch klärte der Neurologe eine mögliche Ursache nach der anderen ab. Der erste Verdacht: Abbau von Nervengewebe im Zentralnervensystem.
    "Hier steht dann vor allem im Mittelpunkt eine Kernspintomographie des Kopfes, um diese Diagnose zu untermauern oder auszuschließen. Hier konnten wir keinen Hinweis für finden, so dass man dann weiterging."
    Also wurde weiter gesucht: Irgendetwas führte dazu, dass das Nervensystem, dass innerkörperliche Vorgänge reguliert, z.B. den Blutdruck, nicht funktionierte. Fast zwei Wochen lang wurde Leonard Hoffmann untersucht. Lutz Harms zählt auf:
    "Wir haben die peripheren Nerven vermessen, durch Elektrophysiologie, EMG. Elektroneurographie, um eine Polyneuropathie zu evaluieren. Wir haben die Herzfrequenz gemessen, die bei solchen autonomen Störungen auch betroffen sein kann."
    Mehrere Krankheiten erschweren die Suche nach der Diagnose
    "Das Problem bei ihm war, dass er so verschiedenste andere Erkrankungen hatte: Diabetes, eine Nephropathie, eine Erkrankung der Niere, bedingt durch den Diabetes und eine Polyneuropathie, auch dadurch bedingt und so waren auch die Kardiologen beteiligt, es ist also ein interdisziplinäres Problem gewesen."
    Aber weder der Diabetes, noch die Niere sind schuld. Sondern das Immunsystem. Eine Blutuntersuchung zeigt: Leonard Hoffmanns Immunsystem produziert zu viel von einem ganz bestimmten Antikörper – und der setzt sich an manchen Nerven fest und verhindert so, dass Signale weitergeleitet werden. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diese Krankheit, sagt Lutz Harms:
    "In diesem Falle eben eine autonome, autoimmune Gangliopathie. Das ist relativ selten, wir haben vielleicht in den letzten sechs Jahren drei solcher Patienten gehabt."
    Zum Glück ist es gut behandelbar: Ähnlich wie bei einer Dialyse wird das Blut gereinigt – von dem Antikörper. Immunadsorption heißt das Verfahren. Etwa einmal im Jahr wird seitdem Leonard Hoffmanns Blut von den neugebildeten Antikörpern gereinigt, die seinen Nerven so schaden. Schon beim ersten Mal hatte es ihm sofort geholfen, erinnert er sich:
    "Dann wurde die erste Immunadsorbtion gemacht, mit diesen breiten Nadeln angeschlossen und drei Stunden wird umgewälzt. Und die waren kaum fertig, da bin ich wie ein junger Gott die Treppen hoch. Ich sag 'Was ist denn los? Haltet mich fest, da stimmt was nicht, ich müsste stürzen.' Nee, da war es weg, es war weg."