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Der besondere Fall
Schmerzende Schulter bei rapidem Gewichtsverlust

Sie ist mehrmals täglich mit dem Labrador unterwegs: Auch mit 62 Jahren fühlt sich die Angestellte eines Musikverlags körperlich fit. Dann, im August 2013, eine Art Sommergrippe - so die Vermutung der Hausärztin. Es folgt die Einnahme von Medikamenten und Physiotherapie wegen starker Schmerzen im Schulterbereich. Doch nichts hilft - und für die Patientin beginnt eine Odyssee durch die Arztpraxen.

Von Mirko Smiljanic | 01.12.2015
    Prof. Dr. med. Christoph Baerwald, Leitender Rheumatologe am Universitätsklinikum Leipzig.
    Prof. Dr. med. Christoph Baerwald, Leitender Rheumatologe am Universitätsklinikum Leipzig. (Pressestelle der Uniklinik Leipzig)
    Leipzig, ein warmer Sommerabend. Wie jeden Tag dreht die 62 Jahre alte Angestellte eines Musikverlags mit ihrem Labrador eine Runde durch den Clara-Zetkin-Park. Bis zu zwei Stunden dauern die Spaziergänge üblicherweise, heute geht sie früher nach Hause.
    "Meine Beschwerden begannen im August 2013 mit einer ganz normalen Erkältung zu dem Zeitpunkt."
    Hals- und Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, erhöhte Temperatur. Eine Sommergrippe?
    "Das verstärkte sich dann mittlerweile, sodass ich nach vier Wochen, das war so im September, die Hausärztin aufsuchte. Sie verschrieb mir die üblichen Hausmittel, aber auch eine Physiotherapie."
    Die Patientin nahm ein, was die Ärztin verschrieb. Aber weder halfen die Medikamente, noch brachte der Physiotherapeut Linderung.
    Physiotherapie brachte keine Besserung
    "Das war dann so, dass die Massagen eigentlich diese Schmerzen im Schulterbereich noch verstärkten und in den Halswirbeln, also, dass jedes Mal, wenn ich von der Massage kam, da liefen mir richtig die Tränen, also, das war sehr unangenehm. Und dann meinte sie, dann müssen wir mal die Halswirbel kontrollieren lassen, ich war dann im MRT, und das brachte also kein Ergebnis."
    Einen wichtigen Hinweis hat sie aber schon geben, erinnert sich Professor Christoph Baerwald, Leitender Rheumatologe am Universitätsklinikum Leipzig, der die Frau Monate später behandelt.
    "Auf genaueres Nachfragen hat sie angegeben, dass die Schmerzen in den Muskeln gewesen sind, also weniger in den Gelenken, sie hat auch keine Gelenkschwellungen angegeben, auch keine Hautausschläge."
    Weiter geht die Odyssee durch Leipzigs Arztpraxen: Als nächstes überweist die Hausärztin ihre Patientin zu einem Neurologen.
    "Ich hatte den Befund also mit, also erklärt, wie es mir ging und dass ich auch noch Schmerzen im Kniebereich bekam mittlerweile, und er mitten im Gespräch mich dann fragte, ob ich gar nicht gerne essen würde, weil ich sehr schlank wäre. Das musste ich aber verneinen, das trifft bei mir überhaupt nicht zu, aber ich hatte in den Monaten schon so drei, vier Kilo abgenommen mittlerweile."
    Eindeutig ist auch für den Neurologen nichts, weshalb er eine Blutuntersuchung veranlasst.
    Ärzte sind aufgrund der Blutergebnisse alarmiert
    "Und war eigentlich recht überrascht, dass die Entzündungswerte wahnsinnig hoch waren."
    Zu viele weiße Blutkörperchen, sogenannte Leukozyten, bei gleichzeitig hohem Gewichtsverlust – für die behandelnden Ärzte ist das ein Alarmsignal ersten Ranges! Sie überweisen die Leipzigerin sofort in ein Krankenhaus.
    "Und man hat gedacht, vielleicht hat das Ganze mit einer Krebserkrankung zu tun und hat sie dann also komplett untersucht, einschließlich Magenspiegelung und Darmspiegelung, hat also alle diese Untersuchungen durchgeführt und hat keine Auffälligkeiten gefunden."
    Körperliche Beschwerden erschweren den Alltag
    Die Patientin geht zwar noch arbeiten, im Alltag aber muss sie viele Abstriche hinnehmen: Gartenarbeit ist kaum möglich, Spaziergänge mit dem Hund reduzieren sich auf ein Minimum, Urlaubsreisen sind gestrichen.
    "Und wenn jetzt keiner eine Ursache findet und keiner kann einem sagen, ob das jemals noch mal besser wird, ist das natürlich etwas, was die Stimmung beeinflusst so in Richtung depressive Stimmungslage."
    Wieder geht sie zu ihrer Hausärztin.
    "Und meine Hausärztin meinte dann, wir müssen jetzt mal das volle Programm durchführen bei Ihnen, das heißt, ich bin zum Gynäkologen gegangen, zum Zahnarzt, man hat die Lunge geröntgt, das Herz untersucht und natürlich auch zum Hals-Nasen-Ohrenarzt."
    Hoher Einsatz – kaum Ergebnisse: Gleichgültig in welche Richtung Mediziner die Diagnostik treiben, sie finden nichts! Gleichzeitig steigen die Entzündungswerte im Blut der 62-jährigen immer weiter an.
    "Wir hatten dann überlegt, weil, durch den Hund sind wir mal auf Zeckenbiss gekommen, dass wir dachten, vielleicht ein unerkannter Zeckenbiss."
    Wieder nichts! Borreliose habe ganz andere Symptome, erklärt man der Frau in einer Spezialsprechstunde. Allerdings rät man ihr dringend zu einer Punktion des Knochenmarks. Doch dafür fehlt der 62-Jährigen mittlerweile die Kraft.
    Knapp zehn Kilo Gewichtsverlust binnen weniger Monate
    "Also erstens hatte ich ein bisschen Angst, das muss ich schon mal sagen, vor der Punktion, ich war auch schon mit den Nerven so bisschen sehr am Ende, hatte mittlerweile viel mehr an Gewicht verloren, da lag ich dann bei 46,3."
    Knapp zehn Kilogramm Gewicht verliert sie binnen weniger Monate – große Unsicherheit beherrscht in diesen Wochen ihr Leben. Werde ich jemals wieder gesund?
    "Zwei Dinge standen dann letztlich Raum: Entweder eine Krebserkrankung oder vielleicht, vielleicht könnte es auch Rheuma sein."
    Vielleicht dieses, vielleicht jenes – eindeutige Aussagen wagte keiner der Ärzte.
    Termin an der Uni Leipzig bringt den Durchbruch
    Den Durchbruch bringt schließlich die Initiative eines befreundeten Paares. Es vereinbart einen Termin im Universitätsklinikum Leipzig. Hier trifft die Patientin zum ersten Mal Professor Christoph Baerwald.
    "Und dort haben wir die Laborwerte noch einmal untersucht, haben gefunden, dass bis auf die erhöhte Entzündungsaktivität und einer leichten Blutarmut, die aber erklärbar ist durch die lange bestehende Entzündungsaktivität, keine Veränderungen da sind."
    Der Status quo also gleich geblieben ist.
    "Wenn jetzt nun kein Tumor vorliegt und diese klassischen Beschwerden in der Muskulatur, Schulterbereich, Oberschenkelbereich, dann kann man im Prinzip die Diagnose stellen, dass da eine Polymyalgia rheumatica vorliegt."
    Polymyalgia rheumatica löst Gefäßentzündungen aus. Weil sie gleichzeitig die Immunabwehr auf Hochtouren laufen lässt, verlieren viele Patienten Gewicht. Polymyalgia rheumatica zählt zwar zu den häufigsten Krankheiten im höheren Alter, allerdings ist sie erstaunlich schwer zu diagnostizieren.
    "Es wird aufgrund der Symptomatik mit den Schmerzen und der wenig fassbaren objektivierbaren Veränderungen oftmals nur spät erkannt."
    Die Behandlung mit dem immun- und entzündungshemmenden Präparat Prednisolon war ein voller Erfolg.
    "Sie hat also berichtet, dass unter der Einnahme von Prednisolon innerhalb von ganz wenigen Tagen sehr plötzlich eine komplette Remission der Beschwerden eingetreten ist."
    Langen Spaziergängen mit ihrem Labrador durch den Clara-Zetkin-Park steht nichts mehr im Weg.
    "Ich sag immer, ich habe so eine Rennmaus, der ist sehr flott unterwegs, das ist ein Rüde, da muss ich immer sehr schnell laufen, da fragen mich schon die anderen Hundebesitzer, das ist ungewöhnlich, wie flott wir unterwegs sind, wir beide."