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Der Betrachter als Teil der Skulptur

Anthony Caro habe es geschafft, die traditionelle, geschlossene Form plastischer Kunstwerke zu wahren und dabei trotzdem den Betrachter zu integrieren, sagt der Kunsthistoriker Raimund Stecker. Damit sei er Wegbereiter für eine neue Bildhauergeneration gewesen.

Raimund Stecker im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 24.10.2013
    Stefan Koldehoff: Immer zur Biennale öffnet das Museo Correr am Markusplatz in Venedig seine Räume einem Künstler von ganz besonderem Rang. In diesem Jahr war diese Einzelausstellung dem britischen Bildhauer und Plastiker Anthony Caro gewidmet – dem wohl bedeutendsten Bildhauer seines Landes neben Henry Moore, und das seit gut einem halben Jahrhundert. Heute, an ihrem letzten Tag, wurde bekannt, dass dies Anthony Caros letzte Ausstellung zu Lebzeiten gewesen sein wird: Er ist gestern im Alter von 89 Jahren gestorben. Als Moores Assistent hatte er nach dem Krieg begonnen mit figurativer Plastik. Schon bald verließ er aber die Gegenständlichkeit und collagierte seine raumfüllenden Arbeiten und Installationen, die meist aus rohen Materialien wie Stahl und Eisen vom Schrottplatz entstanden.

    Raimund Stecker ist Kunsthistoriker und war im Arp-Museum in Remagen und im Lehmbruck-Museum in Duisburg Direktor der beiden wichtigsten deutschen Skulpturenmuseen. Ihn habe ich gefragt, was Caros Bedeutung ausgemacht hat, was das Besondere an seiner Kunst war.

    Raimund Stecker: Na ja, zum Ersten: Die Bedeutung, die heute Anthony Caro zukommt, ist, dass er eine mehr oder weniger hermetische Skulpturform noch gepflegt hat - ich würde sie vielleicht nennen eine Form von entschlossenem Environment -, in dem aber angelegt war das, was an offener Skulptur mit Richard Serra, Franz Erhard Walther, Erich Reusch in Deutschland gerade bei der documenta sechs unter dem Titel "Plastik als Handlungsform" dann wirklich gefeiert wurde. Er hat aus der geschlossenen Form Henry Moores eine offene Form gemacht, die erwirkt hat, dass große Skulpturenprozesse gerade wie Richard Serra, Reusch und Walther dann einfach möglich wurden. Das ist die Bedeutung von Anthony Caro, gerade zu Beginn seiner Zeit.

    Koldehoff: Wir müssen über die Art der Kunst sprechen. Wenn Sie von offener Skulptur sprechen, von Environment, dann heißt das, dass zum Teil "nur" Blöcke in der Gegend liegen, dass kreuz und quer Metallstreben durch den Raum weisen, damit den Raum auch neu definieren. Wo sind die Zusammenhänge, was eint die Kunst von Anthony Caro?

    Stecker: Das ist, glaube ich, genau die Frage, die hat natürlich auch Robert Rauschenberg gestellt, die hat auch Norbert Kricke gestellt: Wie ist das Verhältnis von einem skulptural geschaffenen durch einen Künstler und dem Betrachter? Und so wie auf einer Platte von Carl Andre der Betrachter steht, so wie in einer gebogenen Linie von Norbert Kricke der Betrachter steht, so wie bei den großen Arbeiten von Erhard Walther der Betrachter sogar aktiv mit einbezogen werden soll, ist immer die Frage: Ist Skulptur nur das materiell Gegebene, oder ist Skulptur eben auch das, womit der Betrachter umgehen kann. Und leider sind die Museumsaufpasser immer noch nicht so weit. Wenn man in eine Skulptur reinging – das war sehr schön bei einer Skulptur von Anthony Caro vor zwei Jahren in der Royal Academy in London zu sehen bei der Ausstellung "Britische Skulpturen". Man wollte reingehen, man wollte rangehen, eigentlich hätte man unten drunterherkriechen müssen, aber das darf man eben nicht.

    Der Rezeptionsbegriff von Skulptur ist immer noch ein umschlossener, aber der Künstler-Kunstbegriff ist ein sehr viel offener gewesen und daran arbeitet Anthony Caro eigentlich bis zum Schluss. Seine wunderbaren Arbeiten von ihm waren in der Galerie von Hans Mayer in Düsseldorf zu sehen. Das ist ein altes Thema, das er immer wieder aufgegriffen hat: berühre ich oder bin ich Teil der Skulptur, wenn ich zwischen dem ausgestreckten Arm und dem Körper einer Skulptur mich befinde, oder ist Skulptur nur das, was materiell gegeben ist. Da war Caros Antwort ganz klar Raumdefinition. Wenn eine Skulptur in einem Raum steht, ist der Raum ein anderer, also bin ich als Betrachter Teil der Skulptur, weil die Skulptur den Raum verändert.

    Koldehoff: Haben Sie ihn mal kennengelernt? War er ein sehr theoretischer Mensch, oder war er einer, der mit beiden Füßen im Leben stand?

    Stecker: Er stand sicherlich mit beiden Füßen im Leben. Er hat aber auch etwas Herrschendes gehabt. Für ihn war vollkommen klar: Er ist derjenige, der nach Henry Moore die Skulptur weiterentwickelt hat. Wir heute würden sehr wahrscheinlich sagen, dass gerade englische Bildhauer wie Richard Long oder Hamish Fulton, Richard Deacon oder Tony Cragg weit mehr es geschafft haben, aus dem Schatten Henry Moores rauszutreten. Aber für die damalige Zeit – das muss man sagen -, 60er Jahre, bei uns ist Bernhard Heiliger in allen Museen gefeiert, Eduardo Paolozzi als Engländer war auch vertreten, Tim Scott war da, Chillida aus Spanien, das waren diese Leute, die einfach die Skulptur aufgebrochen haben. Und wenn man diesen wunderbaren Park von Chillida sieht, dann weiß man ja gar nicht mehr, ist der Park ein Environment, oder ist er nur Plattform für die Skulpturen.

    Koldehoff: Der Kunsthistoriker Raimund Stecker zum Tod des britischen Künstlers Anthony Caro.


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