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Der britischer Schriftsteller Thomas Harding
"Wir Künstler werden natürlich unter dem Brexit leiden"

Der Schriftsteller Thomas Harding fühlte sich vom Brexit-Votum der Mehrheit seiner Landsleute so vor den Kopf gestoßen, dass er sich sofort danach um einen deutschen Pass beworben hat. Keine ganz leichte Entscheidung, wenn man seine persönliche Geschichte kennt.

Thomas Harding im Corsogespräch mit Sandra Pfister | 22.07.2016
    In London demonstrierten Zehntausende für den Verbleib Großbritanniens in der EU
    In London demonstrierten Zehntausende für den Verbleib Großbritanniens in der EU (AFP / Niklas Hallen)
    Sandra Pfister: Thomas Harding, wir treffen uns noch in den Nachwehen der Brexit-Abstimmung. Als Deutsche, die hier lebt, hat mich dieses Votum wirklich mitgenommen, weil ich Ihr Land als Schmelztiegel kennengelernt habe. Großbritannien hat ja eine lange Tradition, fremde Kulturen aufzunehmen und davon zu profitieren. Sie als Bürger des Vereinigten Königreichs haben sich direkt nach dem Brexit um die deutsche Staatsbürgerschaft beworben. Wie fremd fühlen Sie sich Ihrem Land?
    Thomas Harding: Das ist eine wirklich interessante Frage, vor allem das Wort 'fremd'. Als meine Familie hier in Großbritannien ankam in den 1930ern, wurden wir als Fremde bezeichnet. Und ich fühle mich wirklich ein bisschen fremd jetzt. Ich hatte dieses tiefe Gefühl von Verlust, und dass da ein großer, tiefer Fehler passiert war. Und ich habe sofort angefangen nachzudenken, und fast instinktiv ploppte das bei mir auf: Moment mal, als Nachfahre von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland könnte ich vielleicht unsere deutsche Staatsbürgerschaft wiederbekommen, die war uns ja weggenommen worden. Und ich habe zwei Stunden, nachdem das Ergebnis der Abstimmung bekannt war, eine Mail an die deutsche Botschaft geschrieben, dass ich das gerne einleiten würde.
    Pfister: Aber warum genau haben Sie es getan? Doch bestimmt nicht nur, weil es das Reisen erleichtert - war es auch ein Statement?
    Harding: Mein allererster Grund war, dass ich gerade die Möglichkeit verloren hatte, in 27 europäischen Ländern zu leben und zu arbeiten. Und das fühlte sich wie ein Verlust an, ein echter Verlust. Das ist natürlich eine oberflächliche Reaktion, denn natürlich werde ich weiterreisen können, da wird man sich was einfallen lassen. Aber am wichtigsten war für mich das Gefühl, das in den vergangenen Jahren immer stärker gewachsen war, dass meine Heimat auch Deutschland ist. Es hat lange gedauert, bis ich da ankam.
    "Wir waren sehr britisch, viel britischer als die Briten"
    Pfister: Da Sie über Ihre Verbindung zu Deutschland sprechen: Ihr größter Erfolg als Schriftsteller war 2013, da haben Sie das Buch "Hanns und Rudolf" veröffentlicht, ein hochgelobtes Buch. Sie haben über Ihren Großonkel Hanns geschrieben, der in den 30ern nach London ausgewandert war und später tatsächlich ein Nazi-Jäger wurde. Er hat Rudolf Höß zur Strecke gebracht, den Ausschwitz-Kommandanten. Sie haben mal gesagt, dass Sie widersprüchliche Gefühle zu Deutschland haben. Ist das immer noch so?
    Harding: Als ich klein war, haben wir nicht mal deutsche Waschmaschinen oder Geschirrspüler gekauft. Und wir waren sehr britisch, viel britischer als die Briten. Als assimilierte deutsche Juden versuchten wir, britischer als die Briten zu sein. Wir hatten diesen posh-elitären Akzent und gingen auf die besten Schulen und wurden Buchhalter und Anwälte und so weiter. Wir sprachen bei Partys sogar einen Toast auf die Queen aus. Meine Familie floh 1935/36 aus Berlin. Die Nazis hatten uns unsere Lebensgrundlage weggenommen, unser Eigentum, meine Großmutter hatten sie aus der Uni geworfen und meinen Onkel aus der Schule. Sechs Mitglieder unserer Familien sind im Holocaust umgebracht worden. Natürlich habe ich diese Wut als Kind gespürt. Aber in den vergangenen Jahren, vor allem, seit ich als Schriftsteller tätig bin, habe ich in Deutschland gearbeitet, habe Deutsche interviewt, war in Archiven. Und dann, bei diesem letzten Projekt, "Haus am See", habe ich eng mit den Dorfbewohnern zusammengearbeitet. Ich habe gesehen, dass sie die Verbrechen der Vergangenheit anerkannt hatten. Sie waren diejenigen, die mit den Nachforschungen begonnen hatten, sie waren diejenigen, die wissen wollten, was mit den Juden im dem Dorf passiert war, in der Nähe von Berlin. Das hat für mich wirklich eine Tür geöffnet. Das war so bewegend, dass ich persönlich eine Wandlung durchlaufen habe. Es war dieses Gefühl, nach Hause zu kommen, dorthin zu gehören. Und was mein Verhältnis zu Deutschland dann wirklich endgültig verändert hat, ist, dass die Deutschen mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben. Das hat mich sehr bewegt, eben weil ich auch indirekt ein Flüchtling aus Deutschland bin. Und neun Mitglieder meiner Familie sind jetzt auch als Flüchtlinge in Deutschland. Neffen und Nichten meiner Schwester; sie hat einen syrischen Kurden geheiratet vor 25 Jahren. Und neun ihrer Neffen und Nichten sind gerade aus Damaskus in Syrien in Deutschland eingetroffen. Und sie wurden von der deutschen Regierung willkommen geheißen, wir sind sehr dankbar dafür.
    Pfister: Sie haben betont, dass Ihre Familie als Immigranten-Familie versucht hat, die besseren Briten zu sein. Es gibt da eine Verbindung zum Brexit: Ein Teil derjenigen, die für "Leave" gestimmt haben, hat das auch getan aus Protest gegen das Establishment, gegen die Elite. Sie haben nun selbst in Cambridge studiert, Sie sind selbst Teil dieser intellektuellen Elite. Können Sie das verstehen, wie sehr sich viele von dieser Elite entfremdet fühlen?
    Harding: Es gibt wirklich viele tiefgehende Probleme in Großbritannien. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist schlimmer geworden. Das war Arroganz, ganz sicher. Ich selbst fühle mich auch verantwortlich, weil ich nicht mehr getan habe. Ich und andere hätten mehr machen können. Für mich selbst bedeutet das jetzt: Meine Familie lebt hier, ich habe auch keine konkrete Absicht wegzugehen, aber ich will mir diese Möglichkeit offen halten. Deshalb haben wir uns um die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft beworben.
    "Ich denke, dass politische und kulturelle Klima wird sich verändern"
    Pfister: Denken Sie, dass britische Künstler und Schriftsteller unter dieser Entscheidung für den Brexit leiden werden? Werden Sie darunter leiden?
    Harding: Es wird uns ganz sicher treffen. Mittel- und langfristig, wenn die Rezession kommt, was die meisten für wahrscheinlich halten. Dann wird es als Schriftsteller immer schwieriger werden, in diesem Land genug zu verdienen, um davon leben zu können. Und ich denke, dass politische und kulturelle Klima wird sich verändern. Auch in Glasgow, Manchester und Cardiff, aber besonders in London, weil die Stadt so ein kultureller Hafen und ein Knotenpunkt ist, vibrierend, energetisch und faszinierend, und ich habe das Gefühl, dass sie viel davon verlieren wird. Ich glaube, wir Schriftsteller und Künstler hätten uns vorher viel mehr gegen den Brexit engagieren sollen.
    Pfister: Da würde ich gerne noch mal auf Ihre Vergangenheit als Dokumentarfilmer zurückkommen. In den 90er Jahren waren Sie politisch sehr engagiert, denn das war ja eine Graswurzelbewegung. Sie haben versucht, Protestbewegungen im Fernsehen eine Stimme zu geben, die sonst völlig unter den Tisch gefallen wären, weil die großen Fernsehstationen einfach nicht über sie berichtet hätten. Damals war es einfach für Sie, zu entscheiden, auf welcher Seite Sie standen. Ist es für Sie heute genau so einfach? Wissen Sie heute genau, auf wessen Seite Sie stehen?
    Harding: Ich weiß, dass ich politisch auf der Seite derjenigen stehe, die in Europa bleiben wollen. Das ist einfach. Was alle anderen großen Herausforderungen angeht, ist es ganz gewiss die Ungleichheit. Insgesamt werde ich konservativer, hätte ich fast gesagt, aber eigentlich meine ich: Ich werde persönlicher. Als ich jünger war, wollte ich Teil dieser historischen Bewegungen sein. Also politisch versuche ich heute eher durch kleine Projekte etwas zu bewegen, lokale Projekte, die emotional und symbolisch etwas auslösen.
    Pfister: Haben Sie einmal ein Beispiel, wie Sie das erreichen wollen?
    Harding: Ja. Wir sind kurz davor, genügend Geld gesammelt zu haben, um das Alexander-Haus in Glienicke wieder aufzubauen und zu renovieren. Das soll ein Begegnungszentrum für junge Menschen werden. Wir nutzen diese 100-jährige dramatische deutsche Geschichte. In diesem Haus hat es ja auch viele schöne Momente gegeben. Das war ja auch ein Rückzugsort aus Berlin, weit weg von der Gestapo, ein Ort auch für Flüchtlinge. In diesem Haus verdichten sich diese komplexen 100 Jahre deutsche Geschichte, und mit so einem Projekt können wir mithelfen, eine bessere Zukunft aufzubauen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.