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Der Bücher-Papst

Marcel Reich-Ranicki ist sicher der bekannteste und einflussreichste Literaturkritiker der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – und der umstrittenste. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag.

Von Cornelia Ueding | 02.06.2010
    "Aber Peter Handke... Der hat ja ein großes Werk geschrieben. Ich habe gezählt: 31 Maschinenseiten Manuskript, daraus wurden 80 gemacht. Natürlich können 30 Seiten genial sein ... Aber gut ... Sagen Sie mal, was steht in dem Buch drin? Ich hätt’ das gern gewusst. Obwohl ich’s gelesen habe, hätte ich’s gern von Ihnen gewusst."

    Polemisch und provokativ, wortmächtig und streitbar, so haben die Zuschauer nach 77 Folgen des "Literarischen Quartetts" Marcel Reich-Ranicki noch im Ohr und vor Augen. Geboren wurde er am 2. Juni 1920 in dem polnischen Städtchen Wloclawek. Zwar war der Vater ein traditionsbewusster jüdischer Kaufmann, doch man war ganz nach Westen orientiert, dem Sehnsuchtsland der eher religionsabgewandten, in Deutschland geborenen Mutter. So wuchs der Sohn mit Musik, Geschichten und Büchern aus dem "Land der Kultur" auf, besuchte die deutsche Schule, war schon dort wegen seiner Belesenheit ein Außenseiter und wurde früh auch mit der angsterregenden Kehrseite der deutschen Kultur vertraut, mit Zucht und Ordnung. Als die Familie 1929 nach Berlin übersiedelte, wurde er vollends heimatlos. Und Bücher, die Literatur und die deutsche Sprache wurden, trotz der Ambivalenz der deutschen Kultur, zu seiner mentalen Heimat. Das Abitur durfte er im Dritten Reich gerade noch machen, aber zum Studium ließ man Juden nicht mehr zu. Kurz vor der sogenannten Reichskristallnacht wurden die Polen ausgewiesen und in Waggons hinter die polnische Grenze verfrachtet. Marcel Reich-Ranicki ist einer der wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettos. Wie er und seine Frau überleben konnten, beschreibt er in seiner Autobiografie Mein Leben. Wodurch, steht eher zwischen den Zeilen.

    Vielen Autoren, zumal den jüdischen, hat er sich in Porträts über biografische und persönliche Eigenheiten genähert, hat ihre Gereiztheit, Bindungsangst und Gespaltenheit ins Blickfeld gerückt und im Spiegel der Literatur erkennbar auch über seine Erfahrungen als Außenseiter gesprochen. So etwa in seiner Büchnerpreis-Laudatio auf Wolf Biermann:

    "Es erging ihm wie dem Narren, der sich bei seinem Herrn, dem König Lear, beklagt: 'Deine Töchter wollen mich peitschen lassen, wenn ich die Wahrheit sage. Du willst mich peitschen lassen, wenn ich lüge. Und zuweilen werde ich gepeitscht, wenn ich’s Maul halte.’"

    Nach seiner Flucht aus dem stalinistischen Polen konnte er in der Bundesrepublik publizistisch schnell Fuß fassen. Er machte eine steile Karriere bis hin zum Literaturchef im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, saß in unzähligen Jurys, schrieb und edierte Dutzende von Büchern, bekam viele wichtige Literaturpreise. Und doch bezeichnet er es als symptomatisch, dass er noch als Literaturkritiker der Zeit niemals zu den Redaktionssitzungen eingeladen wurde. Es ist unübersehbar, dass Reich-Ranicki daraus, dass man ihn immer auch als Störfaktor wahrnahm und behandelte, eine Rolle gemacht hat. In den Augen der Öffentlichkeit wurde das so etwas wie sein Markenzeichen. Sein Publikum hat er amüsiert und gespalten. Manche kritisieren sein Literaturverständnis und haben ihn dennoch als Quotenbringer hofiert, andere hat er mit seiner Emphase, dem stets drängenden, aggressiv wirkenden Tonfall und der Besserwisserei verärgert, die er gegen eine bestimmte Art von kulturellem Insider-Geraune an den Tag legt; wieder andere konnten die Antithetik seiner Argumentation und den abschließenden Gestus seiner Urteile nicht ertragen und haben ihn mit dem zweischneidigen Ehrentitel Literaturpapst versehen. Er hingegen wollte natürlich auch auf sich bezogen wissen, was er von dem Kritiker Fontane sagte:

    "Gerade darin, in der apodiktisch anmutenden Klarheit und in der Kunst der kritischen Vereinfachung, bestand, zu einem Teil wenigstens, seine Bedeutung, seine Meisterschaft."

    Die Lust an der Provokation zeugt noch im bissigsten Verriss von Reich-Ranickis existenziellem Verhältnis zur Literatur. Doch er hat auch, vielleicht weil er immer beides wollte, übertrumpfen und dazugehören, die Rolle des Kritikers als Entertainer gespielt. Dieses Missverständnis hat ihm 2008 den Fernsehpreis beschert, den er ausschlug, weil er ihn, je länger die Preisverleihungs-Show um Quatsch und Quoten dauerte, zunehmend als Hohn auf seine jahrzehntelange kritische Präsenz in den Medien empfinden musste.

    "Ich gehöre nicht dazu."

    zog Marcel Reich-Ranicki nach 50 Jahren Literaturkritik das Fazit seiner Unzugehörigkeit. Man könnte es als sein Lebensmotto betrachten.