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Der Deal mit der Wahrheit

Um die Berge an Prozessakten schneller abzuarbeiten, bieten viele Richter den Streitparteien strafmildernde Einigungen an. Die Praxis ist hochumstritten, denn dabei kommen teilweise Unschuldige in Bedrängnis. Jetzt sollen die Richter in Karlsruhe entscheiden.

Von Gudula Geuther | 18.03.2013
    "Ich hatte damit gerechnet, ein rechtsstaatliches Strafverfahren zu erleben und selbst auch zu Wort kommen zu können. Denn dieses Strafverfahren, das zog sich schon ein Jahr hin und da ist man unheimlich mitteilungsbedürftig und möchte auch den Sachverhalt endlich mit aufklären dürfen. Und dann ist es eben leider nicht mehr dazu gekommen."

    März 2011. Vor dem Landgericht Berlin müssen sich zwei Polizisten verantworten. Sie hatten einem vietnamesischen Händler geschmuggelte Zigaretten abgenommen. Der Sachverhalt ist bis heute umstritten. Das Landgericht kam zu dem Ergebnis: Das war Raub durch die Polizisten, und weil Handschellen im Spiel waren und die Beamten Waffen trugen, schwerer Raub. Am Dienstag verkündet das Bundesverfassungsgericht ein Urteil, bei dem es auch um diesen Fall R. geht, den Fall eines der beiden Polizisten. Die Verfassungsrichter werden sich allerdings nicht damit beschäftigen, ob R. die Zigaretten nun geraubt hat oder nicht – er sagt, er sei unschuldig. Es geht um die Frage, ob das Verfahren, in dem das Berliner Landgericht zu diesem Ergebnis kam, in Ordnung war. R. schildert den Tag vor zwei Jahren so:

    "Die Hauptverhandlung hat ganz normal begonnen, die Verfahrensbeteiligten wurden festgestellt, der Anklagesatz verlesen. Anschließend erfolgte eine Unterbrechung der Hauptverhandlung, weil der Vorsitzende einen Deal vorschlagen wollte. Und das nähere Gespräch wurde dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Gerichtssaal geführt. Und dabei konfrontierte mich dann der Anwalt im Nachgang, dass im Kern ein Freispruch überhaupt gar nicht infrage kommt, sondern allenfalls die Wahl steht ein Geständnis abzugeben, oder mir droht am Ende des Verhandlungstages eine vierjährige Haftstrafe."

    Wer gesteht, der wird belohnt
    Mit einem Geständnis hingegen müsse er nur mit bis zu zwei Jahren auf Bewährung rechnen. Auch darüber, wie diese Gespräche abgelaufen sind, gibt es unterschiedliche Darstellungen. Stimmt es, was der ehemalige Polizist sagt, dann wurde er massiv zum Geständnis gedrängt, anderenfalls die Verhaftung unmittelbar aus dem Gerichtssaal angedroht. Es ist ein extremer Fall, aber er zeigt eine immer stärker verbreitete Praxis in deutschen Strafverfahren: Für ein Geständnis wird ein milderes Urteil in Aussicht gestellt. Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit, dass das Geständnis strafmildernd wirken kann. Nicht aber, dass das vorher vereinbart wird – das ist der klassische Deal. Befürworter sprechen lieber von Absprachen oder Verständigung im Strafprozess. Wie weit die gehen dürfen, darüber entscheiden morgen die Verfassungsrichter. Es wird ein Urteil von weitreichender Bedeutung sein. Denn gedealt wird in deutschen Gerichtssälen und -fluren - massenhaft. Eine Studie im Auftrag der Verfassungsrichter kommt zu dem Ergebnis, dass vor jedem fünften Strafurteil an Amts- und Landgerichten Verständigungen stehen, so geben es Richter und Staatsanwälte an, oder, geht man nach den Verteidigern, sogar vor jedem dritten. Für viele ist das ein Handel mit der Gerechtigkeit. Auch der Deutsche Anwaltverein sieht es kritisch. Am Rand der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe befand im November der renommierte Strafverteidiger Rainer Hamm:

    "Es wird Geständnis gegen eine Strafmaßzusage miteinander verknüpft und das hat eher rechtsgeschäftlichen Charakter als rechtsstaatlichen strafprozessualen."

    An sich verlangt der sogenannte Amtsermittlungsgrundsatz, dass der Richter den Sachverhalt bis zu seiner Überzeugung erforscht. Das ist das Prinzip der materiellen Wahrheit. Was wahr ist, muss also ermittelt, nicht vereinbart werden. Auch sonst scheint der Deal mit fast allem zu brechen, was einen deutschen Strafprozess ausmacht. Darunter die Prinzipien der mündlichen und öffentlichen Verhandlung, Absprachen in Hinterzimmern, sollte man meinen, sind damit nicht vereinbar. Läuft es so, wie der ehemalige Polizist es schildert, dann steht der fundamentale Grundsatz des rechtlichen Gehörs infrage. Der Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss, das Schuldprinzip, auch der Gleichheitssatz - Kritiker sehen noch weitere Eckpfeiler des Strafprozesses in Gefahr. Und Richter wiesen in Karlsruhe auf unerwünschte praktische Folgen des Deals hin: Etwa die, dass der taktisch kluge Straftäter erst spät gesteht, denn wer schon im Ermittlungsverfahren auspackt, nimmt sich die Verhandlungsmasse für später. Konsens und Strafrecht vertrügen sich prinzipiell nicht, sagte auch der Präsident des Bundesgerichtshofs Klaus Tolksdorf im Verhandlungssaal des Verfassungsgerichts. Er sei skeptisch, dass es möglich sei, Absprachen ins deutsche Rechtssystem einzupassen.

    "Landgericht Berlin, Buermeyer"

    Der Richter am Berliner Landgericht Ulf Buermeyer sieht es weniger streng. Als Mitglied einer Schwurgerichtskammer kann er die Diskussion im Moment ohne jedes Eigeninteresse verfolgen. Wer bei ihm anruft, tut das nicht, um zu hören, was bei einem Geständnis herausspringt. Denn Schwurgerichtssachen wie Mord oder Totschlag eignen sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ohnehin nicht für den Deal.

    "Ich denke, man sollte jetzt auch nicht generell unterstellen, dass jede verfahrensbeendende Absprache quasi falsch oder böse ist. Und es gibt selbstverständlich und gerade umfangreiche Verfahren auch hier im Hause, die durch verfahrensbeendende Absprachen beendet werden."

    Deals vor Gericht sind schon lange umstritten
    Seit den achtziger Jahren ist die Praxis hoch umstritten. Zuerst gänzlich ungeregelt – und auch noch eher unüblich - hatte der Deal etwas Anrüchiges – und fand gerade deshalb häufig im Hinterzimmer statt. Mit Blick auf die Realitäten und nach einer Verfassungsgerichtsentscheidung formulierte 2005 der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit hörbarem Unwohlsein Mindestanforderungen. Und ließ damit den Deal zu. Allerdings mit der Aufforderung an den Gesetzgeber, die Eckdaten zu regeln. Was der vor sechs Jahren tat, nach langen Diskussionen, sagt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP. In dem Bemühen,

    "dass eben dieser schwierige Weg, diese Gratwanderung, eingehalten wird: Einmal die Sachaufklärung, auch die Erforschung des materiellen Wahrheitsgehaltes, nach wie vor als Grundsatz bestehen zu lassen und dennoch auch unter bestimmten Voraussetzungen eine Absprache mit Beendigung eines Verfahrens zu ermöglichen."

    Nach der Strafprozessordnung gibt es keinen Deal über Schuld oder Unschuld, auch keinen über Maßregeln wie Unterbringung in der Psychiatrie. Es soll also um das Strafmaß gehen, aber auch zum Beispiel um Wiedergutmachung. Oder um den Verzicht auf weitere Beweisanträge. Der Richter kann allerdings nicht darauf verzichten, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Bloß formale Geständnisse, bei denen der Richter nicht überprüfen kann, ob sie stimmen, reichen nicht. Und: Wo es Absprachen gibt, kann der Verurteilte nicht auf Rechtsmittel verzichten, er kann also nicht gleich nach dem Urteil sagen, dass er nicht mehr in Berufung oder Revision gehen wird. So soll vermieden werden, dass Richter ihn zu einem solchen Verzicht drängen. Zum Thema unzulässiger Druck gehört auch die sogenannte Sanktionsschere:

    "Unter Sanktionsschere versteht man, dass ein Richter, eine Kammer für den Fall eines Geständnisses eine extrem geringere Strafe in Aussicht stellt im Vergleich zu der Strafe, die bei streitiger Verhandlung zu erwarten ist,"

    sagt der Richter Buermeyer. Die Absprachen müssen nicht in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden, das Gespräch auf dem Flur kann es also nach wie vor geben. Aber: Wie das Gespräch gelaufen ist und wie die Absprache aussieht, das muss in der Hauptverhandlung mitgeteilt werden – samt Protokoll. Damit wäre es in der Revision überprüfbar. Mit diesen Rahmenbedingungen sollen all die Grundsätze halbwegs gewahrt sein – Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, Mündlichkeit, Amtsermittlung und materielle Wahrheit, erst recht das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung, rechtliches Gehör.

    Den so verstandenen Deal verteidigen viele. Der Strafverteidiger Alexander Ignor zum Beispiel, der auch für die Bundesrechtsanwaltskammer spricht. Den Professor an der Berliner Humboldt-Universität wundert es nicht, dass sich der Deal gerade in den vergangenen Jahrzehnten so sprunghaft entwickelt hat. Als im Jahr 1879 die Strafprozessordnung in Kraft trat, da seien Strafverfahren noch nicht so kompliziert gewesen. Das liege nicht nur an den Sachverhalten, sondern auch am Recht selbst:

    "Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine extreme Zunahme an strafrechtlichen Vorschriften zu verzeichnen, auch an komplizierten Vorschriften, an unbestimmten Rechtsbegriffen, die zu viel mehr Verdachtsschöpfungen führen, viel mehr Verhaltensweisen können heute möglicherweise strafbar sein, als das früher der Fall war. Und diese überbordende Produktion von Strafgesetzen, die hat sehr stark zu der Belastung der Justiz geführt."

    Die Angeklagten sind meist einverstanden
    Aus Sicht der Verfahrensbeteiligten spreche ohnehin alles für die Absprache, glaubt der Richter Ulf Buermeyer. Denn der Fall des Polizisten R. ist nicht die Regel. Meistens ist der Angeklagte einverstanden – und alle anderen sind es auch.

    "Für den Angeklagten bedeutet eine Absprache in aller Regel eine wesentlich geringere Strafe, als wenn das Verfahren quasi streitig zu Ende ermittelt worden wäre. Für die Richter und die Staatsanwaltschaft bedeutet es eine deutlich geringere Arbeitsbelastung – also zeitlich, aber auch später, was das Abfassen des Urteils angeht, ein streitiges Urteil ist erheblich viel mehr Arbeit als ein Urteil, das abgekürzt werden kann, weil alle Beteiligten sich an sich einig waren. Es ist quasi eine Win-win-Situation. Alle im Saal haben ein Interesse daran, dass es zu einer Absprache kommt. Die Frage ist nur, ob dann ein gerechtes Ergebnis dabei herauskommt."

    Ein oft genanntes Argument für den Deal ist der Opferschutz. Weil das Opfer nicht in der Zeugenaussage zur erneuten Konfrontation mit dem Täter gezwungen wird. Den meisten Richtern, die in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe auftraten, leuchtete das allerdings nicht ein. Er wolle sich ein Bild von der Glaubwürdigkeit eines Opfers machen, sagte einer. Aber er wolle auch, dass die Folgen der Tat deutlich würden. Und immerhin bedeute ein abgesprochener Strafnachlass auch weniger Genugtuung für das Opfer. Alexander Ignor glaubt gleichwohl, dass es nicht nur Gründe des plumpen eigenen Vorteils gebe für die Absprachen, sondern auch solche, die dem Verfahren gut tun.

    "In dem Moment, in dem ich mit Berufsrichtern zu tun habe, die sich ja während des Prozesses ihre Meinung über die Sache bilden, habe ich auch die Möglichkeit, das mit ihnen zu erörtern – wie das ja auch im Zivilprozess an der Tagesordnung ist. Und dieses Erörterungsbedürfnis ist ja auch nichts Schlechtes und nichts Anrüchiges. Das ist sehr ausgeprägt und ein Grund dafür, weswegen auch die Verteidigung häufig auf das Gericht und die Staatsanwaltschaft zugeht."

    Im Interesse des Mandanten. Was aber, wenn der gar nicht will, wie der Polizist R. das in seinem Fall beschreibt?

    "Wenn der Beschuldigte eine Verständigung nicht möchte, dann hat das der Verteidiger zu respektieren, selbst wenn er vom Gegenteil überzeugt ist."

    Aber, sagt der Strafverteidiger, er habe vielfach gehört, dass es anders laufe. Auch der Richter Ulf Buermeyer hält es deshalb für die größte Gefahr, dass Unschuldige mit einer solchen Absprachen-Routine konfrontiert würden.

    "Auch wenn man sicherlich nicht die Kompetenz verliert, ein Verfahren streitig zu verhandeln, kann es nur allzu leicht passieren, dass man unterschwellig das Gefühl hat, jemand stört, einfach weil er nicht bereit ist, zu dealen, sondern sich gegen einen Schuldvorwurf verteidigen will. Und wenn ich mir dann vorstelle, dass jemand möglicherweise tatsächlich unschuldig ist, aber von allen Profis im Gerichtssaal quasi dazu gedrängt wird, der Wahrheit zuwider ein Geständnis abzulegen, dann sehe ich schon große Probleme für den Rechtsstaat. Es muss weiter möglich sein, sich gegen einen fehlerhaften Vorwurf auch mit dem Ziel des Freispruchs zu verteidigen."

    R. sagt, sein Anwalt habe ihm nicht nur geraten, überhaupt zu gestehen.

    "Der sagte mir den Wortlaut, wie es denn in etwa abzugeben wäre, aber das war so eine Situation, dass ich mir diesen simplen Wortlaut gar nicht merken konnte. Ich hatte dann noch zwei Mal nachgefragt, dann wieder im Gerichtssaal sitzend, wie ich es denn nun zu erzählen hätte. Er flüsterte mir’s ins Ohr. Und irgendwie hab ich’s dann vorgestammelt und das war in Ordnung für alle. Und – ja. Dann war die Verhandlung beendet."

    Die Absprachen werden häufiger
    Er habe vorbehaltlos die Richtigkeit des Anklagesatzes eingeräumt, wird dann daraus. Mindestens gedacht hatte sich das der Gesetzgeber wohl nicht so, als er 2007 den Deal in die Strafprozessordnung schrieb. Der Bundesgerichtshof hatte in den grundlegenden Entscheidungen zuvor klar gemacht: Bloße Formalgeständnisse reichen nicht. Wie immer es im konkreten Fall gewesen sein mag – allgemein muss der Richter weiterhin überprüfen können, ob das plausibel ist, was der Angeklagte da gesteht, er muss andere Beweismittel – Zeugen, Aufzeichnungen – nutzen, um ein Geständnis zu flankieren. Denn die Absprache und damit auch das Geständnis soll ja das Verfahren nur abkürzen – aber nicht ersetzen. Nur deshalb, weil es immer noch darum gehe, die Wahrheit zu finden, nicht den Falschen zu bestrafen, sagt der Strafrechtsprofessor Ignor, sei das Gesetz über die Verständigung in Ordnung.

    "Weil es den Richter verpflichtet, nach wie vor die Wahrheit zu finden. Und Wahrheit heißt ja im Strafprozess, sich eine Überzeugung von der Wahrheit zu bilden. Wahrheit ist nichts Objektives im Strafprozess, sondern es ist die subjektive Überzeugung des Gerichtes von dem Sachverhalt. Und das Gericht bleibt auch unter den Regeln des Verständigungsgesetzes verpflichtet, sich diese Überzeugung zu bilden."

    Zu diesen Regeln zählt eben nicht nur das Verbot des Formalgeständnisses, sondern auch die Pflicht, sich mit offenem Visier zu verständigen, mindestens indem der Richter öffentlich das Protokoll diktiert. Was ja auch nötig ist für die mögliche Überprüfung, schließlich ist der Rechtsmittelverzicht ausgeschlossen. Hehre Vorsätze, so scheint es, die allerdings mit der Praxis oft wenig zu tun haben. Denn so schwierig der Fall R. auch aussieht – immerhin wurde da offen gedealt. Und das – so stellte es sich in der Verhandlung zum Befremden der Verfassungsrichter dar – ist nicht selbstverständlich. Der Düsseldorfer Rechtsprofessor Karsten Altenhain hatte im Auftrag des Verfassungsgerichts Richter an Amts- und Landgerichten in Nordrhein-Westfalen, Staatsanwälte und Verteidiger befragt. Das Ergebnis:

    "Jeder dritte Richter am Amtsgericht gibt an, Absprachen zu treffen, sich dabei aber nie an das Gesetz zu halten. Drei Viertel der Amtsrichter beachten überwiegend bei Absprachen nicht das Gesetz."
    Das bezieht sich auf fast alle Punkte, die das Gesetz fordert, sogar auf die Pflicht, wenn die Absprache schon nicht in der Hauptverhandlung stattfindet, sie wenigstens ins Protokoll zu diktieren.

    "Jeder dritte Richter gibt an, schon einmal Absprachen nicht in der Hauptverhandlung offengelegt zu haben. Drei von vier Verteidigern haben das schon erlebt. Fast die Hälfte der Richter weist in den Urteilsgründen nicht auf die Absprache hin."

    Gratwanderung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effizienzdruck
    Formalgeständnisse scheinen nichts Ungewöhnliches zu sein:

    "Ob der Richter die Glaubhaftigkeit des Geständnisses, so wie es vereinbart war, überprüft, sehen die Berufsgruppen unterschiedlich: Nein, sagen 71 Prozent der Verteidiger, 45 Prozent der Staatsanwälte und immer noch 28 Prozent der Richter."

    Informelle Verständigung nennt sich das. Die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff – nicht als Einzige hörbar irritiert - regte an, doch besser von illegaler Verständigung zu sprechen. Und auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte:

    "Das wird bestimmt intensiv uns zu beschäftigen haben im Kreis der Justizminister und der Verantwortlichen. Wir wollten als Gesetzgeber damit eine abschließende Regelung schaffen und nicht eine Regelung, die neben den gesetzlichen engen Vorgaben noch eine andere Form der Absprache zulässt. Dann hätten wir das Gesetz ja so nicht machen müssen."

    Wie kann es sein, dass dem Gesetz verpflichtete Richter illegal agieren? Ulf Buermeyer schränkt ein: Ein Geständnis wirke – mit oder ohne Absprache – meist strafmildernd. Die Grenzen zum Deal seien fließend. Ansonsten aber hält er schlicht die Versuchung für zu hoch. Etwa beim Rechtsmittelverzicht. Der ist an sich ausgeschlossen. Aber alle – zumindest alle Profis im Gerichtssaal – hätten ein Interesse daran, dass das Verfahren unmittelbar beendet würde.

    "Für das Gericht ist das einfach ein sehr großer Unterschied, ob das Urteil mit Beweiswürdigung abgefasst werden muss, oder ob es, weil es eben rechtskräftig ist, abgekürzt werden kann. Das macht leicht mehrere Wochen Arbeitszeit aus. Und man hat diese Sicherheit, dass es ein kurzes Urteil ist, eben nur, wenn die Rechtskraft auch tatsächlich eingetreten ist."

    Fragwürdiges Anreizsystem
    Das allerdings meint auch Ulf Buermeyer nur als Erklärung, nicht als Rechtfertigung für informelle - eben tatsächlich illegale - Absprachen. Den Drang zum Deal erklärt er sich vor allem mit den Anreizstrukturen, die den Richter umgeben. Denn, ob der gut arbeitet oder nicht, das kann der Arbeitgeber nicht beurteilen.

    "Die inhaltliche Bewertung der richterlichen Arbeit ist unzulässig, das ist eine Frage der richterlichen Unabhängigkeit. Nun muss aber eine Gerichtsverwaltung natürlich Entscheidungen über Beförderungen treffen. Und weil sie das nicht über die inhaltliche Arbeit tun kann, stützen sich Gerichtsverwaltungen typischerweise auf formelle Kriterien, nämlich die Zahl der Fälle, die ein Richter oder eine Kammer in einer bestimmten Zeit erledigt. Und das bedeutet, dass man zumindest die besseren Beförderungschancen hat, wenn man Verfahren schnell, und das heißt mittels Absprachen, beendet."

    Er hält das schon für sich genommen für völlig verfehlt. Dazu kommt aber: Egal ob legal oder illegal – fängt ein Richter erst einmal an mit den Absprachen, dann werden es schnell immer mehr.

    "Weil die Zeitdauer, die jedes einzelne Verfahren in Anspruch nimmt, damit immer weiter sinkt. Damit kriegt jede Kammer statistisch immer mehr Verfahren zugewiesen. Und da entwickelt sich so eine Art Teufelskreis."

    Was also tun? Sollten höhere Gerichte öfter mal Urteile, in denen die Regeln nicht eingehalten wurden, aufheben? Das werden wir kaum können, fürchtet der Präsident des Bundesgerichtshofs Klaus Tolksdorf. Denn die meisten Urteile nach Absprachen erreichen gar keine höhere Instanz.

    "Was uns sehr häufig fehlt, sind die Revisionen der Staatsanwaltschaft. Ganz im Allgemeinen gehen Verständigungen eher zugunsten des Angeklagten aus als zu seinen Lasten."

    Der Zeitdruck muss weg
    Also den Deal verbieten?

    "Wenn das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für verfassungswidrig erklärt,"

    fürchtet der Strafverteidiger Ignor,

    "dann bedeutet das nicht etwa, das ist meine ganz feste Überzeugung, dass zu den Regeln der StPO zurückgegangen ist, sondern, dass der Wildwuchs wieder an der Tagesordnung ist."

    Viele setzen auf mehr Richter, die dann mehr Zeit haben und weniger unter dem Druck stehen, Prozesse schnell zu erledigen. Der Richter Ulf Buermeyer wünscht sich ein anderes Bewertungssystem, dass also Erledigungszahlen nicht mehr eine so große Rolle spielen. Und er wünscht sich Sorgfalt bei der Auswahl von Richtern. Auch Alexander Ignor glaubt nicht, dass das Verfassungsgericht das Problem beseitigen kann. Er wünscht sich aus Karlsruhe auch eine Aussage darüber, welche der grundlegenden Prinzipien des Strafrechts – von Amtsermittlung bis Unmittelbarkeitsprinzip – eigentlich im Rechtsstaat unverzichtbar sind. Langfristig aber könne nur gute Ausbildung helfen. Die massenhaften Absprachen am Gesetz vorbei erklärt er sich dadurch,

    "dass viele Richter eben über Jahre hinweg informelle Verständigungen betrieben haben, mit gutem Gewissen betrieben haben und jetzt nicht so recht einsehen, warum sie davon abgehen sollen. Die Regelungen müssen buchstäblich erlernt werden. Und das heißt schon an der Universität als Bestandteil des Rechts vermittelt werden. Darauf setzt ja überhaupt ein Rechtsstaat, dass seine Juristen am Gesetz ausgebildet werden und sich dann auch an das Gesetz halten. Und so sollte es, denke ich, auch im Fall des Deals sein."