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Der deutliche Denker

Rüdiger Safranski hat eine Schopenhauer-Biografie vorgelegt. Der Philosoph scheint sich für die biografisch-erzählende Darstellung besonders zu eignen. "Man gewinnt das Verständnis für den Zusammenhang, für die Dynamik in einem philosophischen Gedankengang", sagt Safranski.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 08.12.2010
    Rüdiger Safranski, Philosoph und Schriftsteller, gehört zu den herausragenden Biografen in Deutschland. Seine erste Biografie handelt von E.T.A. Hoffmann, dem entfesselten Romantiker und skeptischen Fantasten. Auf diese 1984 erschienene Arbeit folgte drei Jahre später die Erstausgabe des Schopenhauer-Buches und 1994 die große Heidegger-Biografie "Ein Meister aus Deutschland". 1997 dann das Nietzsche-Lesebuch, das im Kern auch eine Biografie - in diesem Fall stärker eine Werk-Biographie - enthält.

    Dies legt die Frage nahe, ob es für den Autor ein Initialerlebnis, einen benennbaren ersten dominierenden Impuls für das Schreiben von Biografien gab. Er sagt:

    "Meine Freunde sagen, das wäre ihnen ganz vertraut vorgekommen, der Ton, in dem ich Philosophie erzähle, und wenn ich etwas erläuterte, war offensichtlich immer dieser narrative Zug drin. Für mich selber ist das Erzählen eine Art Lackmus-Test des Verstehens. Ich verstehe es, wenn ich es erzählen kann."

    Schopenhauer kommt - das ist Rüdiger Safranskis Ausgangspunkt in seiner Biografie - aus den "wilden Jahren der Philosophie”, geprägt von Kant, Fichte, Schelling, den Romantikern, Hegel und Feuerbach, eine Zeit, in der "mit heißem Herzen” gedacht wurde.

    "... eine versunkene Welt, als die Philosophie noch einmal, zum letzten Mal vielleicht, in prachtvoller Blüte stand."

    Schopenhauer ist aber aufs Schärfste mit diesen Philosophen verfeindet - man lese nur seine bitterbösen Bemerkungen zu Fichtes "rasendem Unsinn” oder seine vor allem auf Hegel gemünzte Verachtung der "in Paradoxen festgefahrenen und verdorbenen nachkantischen Philosophie". Er steht quer zu seiner Zeit. Thomas Mann nennt ihn den "rationalsten Philosophen des Irrationalen". Der Wille, von dem er so viel spricht, ist "weder Geist, noch Sittlichkeit, noch Geschichtsvernunft", es ist ein Konstrukt aus Trieben und Affekten.

    "Die Welt als Wille und Vorstellung": sein berühmtestes Buch. Man glaubt gar nicht, einen Philosophen des 19. Jahrhunderts zu lesen, sondern einen Hirnforscher unserer Tage, wenn Schopenhauer schreibt:

    "… die anschauliche und reale Welt ist ein Gehirnphänomen. Die Welt des Wachens und des Traumes sind aus einer Form gegossen und diese Form ist der Intellekt, die Gehirnfunktion."

    Wir glauben aber auch einen modernen Bewusstseinspsychologen zu lesen:

    "Der wahre Stützpunkt aller Philosophie ist das Subjektive, das eigene Bewusstsein. Alles liegt innerhalb unseres Bewusstseins. Darüber hinaus kann es keine 'unmittelbare Gewissheit' geben: Nur das Bewusstsein ist unmittelbar gegeben, daher ist die Grundlage der Philosophie auf Tatsachen des Bewusstseins beschränkt: das heißt sie ist wesentlich idealistisch (...) ein an sich selbst objektives Dasein ist geradezu undenkbar."

    Bei der Fülle der Biografien, die Safranski geschrieben hat, und bei seinen stark an den Lebensläufen von Philosophen und Schriftstellern orientierten Darstellungen von Epochen wie der Romantik fragt man sich, ob sich bestimmte Autoren besonders für die biografisch-erzählende Darstellung eigneten, was bei einer solchen Vorgehensweise verloren gehen könnte, und was man gewinnt.

    Safranski sagt:

    "Es war Schopenhauer, bei dem es mir besonders angenehm war, in dieser Art des Erzählens der Philosophie zu folgen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass dies bei einer Figur wie Fichte auch ganz gut geht. Man gewinnt das Verständnis für den Zusammenhang, für die Dynamik in einem philosophischen Gedankengang und man gewinnt auch ein Verständnis für die Existenzialität, für diese Verwickeltheit des Philosophierens in Leib und Leben und in die Dramen, die da geschehen. Man verliert vielleicht an der Front der Systematik. Man kann natürlich über den narrativen und auch biografischen Zug, wird man systematische Zusammenhänge auch erhellen können. Aber man bemerkt auch, dass oft der genetische Zusammenhang, also dass die Entwicklung eines Gedankens aus der existentiellen Geschichte einer Person, dass dieser Zusammenhang oft nicht der Zusammenhang ist, in dem die Gedanken nachher auf der systematischen Ebene dastehen. Da merkt man besonders deutlich, dass das doch zwei verschiedene Sichtweisen sind. Es kann sein, dass Gedanken systematisch sehr eng zusammengehören, aber genetisch sehr fern voneinander liegen."

    Der Untertitel von Safranskis Heidegger-Buch - "Heidegger und seine Zeit" - und des Schopenhauer-Buches ("Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie") machen eines sehr deutlich: Sie verknüpfen in einer unauflösbaren Art und Weise die Biografie der Denker mit einer Zeit-Diagnostik, einer Denk- und Mentalitätsgeschichte. Safranski ist immer auch ein narrativer Historiker. Es gelingt ihm in seiner Biografie, Philosophie, und insbesondere diejenige Arthur Schopenhauers, zu erzählen und einen Eindruck von der im Philosophieren beschlossenen Glückserfahrung zu vermitteln, auch wenn dabei, wie im Falle Schopenhauers, ein düsteres Bild des Lebens gezeichnet und der Mensch als "Fabrikware der Natur" beschrieben wird. Der Mensch, so Schopenhauers Einschätzung, sei geprägt von "Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod".

    Safranski:

    "Bei Schopenhauer ist das Glück der Philosophie explizit ausgesprochen und hat sogar in seinem philosophischen System eine Stelle. Philosophie ist durch ihre kontemplative betrachtende Geste der Kunst sehr nahe gerückt und steht dort auf einer Ebene als Vorstufe der Verneinung des gierigen Lebenswillens. Schopenhauer war da ganz anders als Heidegger. Heidegger hatte auch nicht einen klaren Umgang mit sich selbst, das war sein Problem, aber auch eine Chance. Deswegen gibt er uns unablässig zu tun."

    Die starke Betonung von Schopenhauers Person als eines Kauzes hat oft abgelenkt von der Scharfsinnigkeit seinen Denkens. Im akademischen Umfeld spielt seine Philosophie nur eine periphere Rolle. Hängt dies damit zusammen, dass seine Philosophie, wie André Gide bemerkte, "unmittelbar einleuchtet"? Erscheint das den Wissenschaftlern als suspekt?

    Safranski:

    "Das ist wahrscheinlich das große Skandalon, muss man sagen, an Schopenhauer. Georg Simmel hat das mal wunderbar ausgedrückt. Schopenhauer, sagt er, hat eine durchaus deutliche Philosophie hinterlassen. Und dieses durchaus Deutliche, das nimmt der Interpretation eigentlich viel Arbeit ab. Man kann nichts und braucht wenig in sie hineinzurätseln. Man kann sich allerdings von ihr inspirieren lassen. Sie gibt also dem Interpretieren nicht so viel Raum. Sie ist durchaus deutlich, und eigenartigerweise hat man das nun wiederum auch nicht so gerne. Ja, Schopenhauer war verfeindet mit der akademischen Philosophie. Er war eben auch nicht von ihr anerkannt worden. Er witterte ein Ressentiment, und die Vermutung war auch berechtigt. Dieser Geist, der vollkommen selbstständig und im übrigen auch nicht von der Philosophie leben musste, dieser Geist, der passte einfach nicht. Da lag also Schopenhauer mit seinen Vermutungen des Ressentiments auch richtig. Aber man sollte Schopenhauer auch wiederum nicht zu sehr heroisieren. Er hatte natürlich auch eine ordentliche Portion Ressentiment gegen die Professoren-Philosophie. Ich wende mich immer etwas dagegen, wenn man dann einfach mit Schopenhauer mitschimpft auf die Hegels und die Fichtes. Bei näherem Zusehen bemerkt man ja, dass da eine ganze Portion Genialität bei diesen Leuten auch dabei ist, auch da ist."

    Schopenhauer war ein "philosophischer Weltbürger”, ein globaler - die westliche und östliche Zivilisation umfassender - Denker, der mit großer Kenntnis auch den Buddhismus und Hinduismus in seine Überlegungen mit einbezogen hat. Dies betont auch Robert Zimmer in seiner neuen Schopenhauer-Biographie im Deutschen Taschenbuch Verlag. Vielleicht hat dieser Blick die größten Chancen für Schopenhauers Zukunft.

    Safranskis Schopenhauer-Biografie legt noch einmal die Frage nahe, ob sich der Leser in dieser Art der narrativen Geschichtsschreibung nicht viel leichter wiedererkennt als in der wissenschaftlichen, und worin ganz allgemein das augenblicklich große Interesse an Biografien besteht.

    "Ich denke, man muss illusionslos genug sein, um zuzugeben, dass die biografischen Moden, die wir immer wieder erleben, dass die auch etwas mit dem Wunsch nach Erleichterung zu tun haben, und sogar zu tun haben mit dem desolaten Vergnügen, jemand herunterzuziehen - was ich als so einen Biografismus bezeichnen würde, also die Kammerdiener-Perspektive. Und ich denke, um es mal zugespitzt zu sagen, in demokratischen Zeiten hat man es nicht so gerne: das Eminente, das Erhabene, das Großartige. Und das will man ein bisschen gemein machen. Also, es sind für mich jedenfalls recht verdächtige Motive, die bei der Bevorzugung der Biografien oft eine Rolle spielen."

    Rüdiger Safranski: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie.
    558 S., Carl Hanser Verlag München 2010, 24,90 Euro