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Der deutsche Patient

Das Kinn mal da in die Mitte und die Stirn mal hier vorn. Sie schauen mal in dieses Bild, nicht weggucken, auch wenn es gleich unscharf wird.

Von Philip Banse und Axel Brower-Rabinowitsch | 07.09.2004
    Die Zwischenbilanz der Gesundheitsreform von Ulla Schmidt fällt unterschiedlich aus. Je nach dem, wen man fragt. In der Praxis des Augenarztes Uwe Kraffel wartet Karlheinz Maczassek auf seine Behandlung. Der 72jährige Rentner hatte schon im April ein Prozent seines Einkommens für Zuzahlungen und Praxisgebühr ausgegeben. Für den Rest des Jahres ist der chronisch kranke Mann deshalb von weiteren Zahlungen befreit. Karlheinz Maczassek gibt Ulla Schmidt die Höchstnote.

    Sehr gut. Ich bin bisher immer gut behandelt worden. Und diese zehn Euro braucht man ja nur bei einem Arzt zu bezahlen und heute habe ich gehört, dass wir ein Riesenplus gemacht haben mit 2,5 Milliarden Euro die Kassen. Ist doch schon ein Erfolg.

    Arzthelferin: Herr Zimmermann? Sie könne schon mal rüberkommen. Nehmen sie mal hinter dem Gerät Platz.

    Zahnarzt Jürgen Gromball sagt, er habe durch die Reform – anders als viele seiner Kollegen - kaum Patienten verloren. Aber wenn man den Vizepräsident der Berliner Zahnärztekammer um eine Bilanz bittet, wird der Funktionär grundsätzlich:

    Katastrophal, absolut katastrophal, Dilettanten am Werk, kann man nichts zu sagen, Sprachlosigkeit. Patienten sind verunsichert, Zahnärzte sind verunsichert. Es ist einfach Katastrophal, was diese Regierung macht.

    Leute, die nicht mal Lastwagen zählen können, sollen da die Finger von lassen. Es ist 'ne Katastrophe, in diesem Land, es funktioniert nichts: Toll Collect, Dosenpfand, Gesundheitsreform – was funktioniert denn überhaupt noch?


    Die Gesundheitspolitik kommt nicht aus den Schlagzeilen. Gerade erst haben sich die über Praxisgebühr, höhere Zuzahlungen sowie massive Leistungseinschränkungen und –Ausgrenzungen erhitzten Gemüter einigermaßen beruhigt, da verunsichern Zahnersatz und die geplante Finanzreform der Krankenversicherung erneut die Bürger. Zahnarzt Jürgen Gromball:

    Stellen sie sich mal vor, man sagt ihnen erst: Zusatzversicherung zehn Euro, dann sagt man fünf Euro, dann sagt man 20 Euro, dann sagt man: gar nix. Was sollen sie denn denken als Patient?

    Die Patientin Lorenzina Pasolini, 42:

    Es ist ein totales Durcheinander, die wissen selber nicht, was sie fordern. Es wäre schön, wenn es bestimmte Regeln gibt und dann ist gut. Aber halbes so, halbes Jahr anders.

    Da kam es Bundessozialministerin Ulla Schmidt gerade Recht, dass sie gestern die frohe Botschaft verbreiten konnte, dass die Gesundheitsreform insgesamt positive Wirkungen zeitigt und viele Kassen wegen des Überschusses von 2,5 Milliarden Euro im ersten Halbjahr demnächst die Beiträge senken wollen.

    In den Bilanzen der Krankenkassen schlägt sich jetzt nieder, dass sie viele Leistungen nicht mehr bezahlen müssen: Dazu zählen rezeptfreie Arzneien, Fahrtkosten zum Arzt, das Sterbegeld oder Brillengläser. Geld in die Kasse gespült haben auch die hohen Zwangsabgaben der Pharmaindustrie, die erstmals fällige Praxisgebühr sowie die drastisch angehobene Selbstbeteiligung.

    Ob die Anhebung der Tabaksteuer die eingeplante Milliarde für das Gesundheitswesen bringt ist, allerdings fraglich. Finanzminister Hans Eichel will nicht zahlen, weil die Tabaksteuereinnahmen wegen der teurer gewordenen Zigaretten eher sinken. Dass Patienten jetzt tiefer in die Tasche greifen müssen, hat bei manchen Betroffenen zu einem Umdenken geführt.

    Positiv ist, dass die Patienten sich mehr Gedanken um ihre Gesundheit machen, dass sie etwas bewusster mit den Ressourcen, sprich mit den Medikamenten umgehen, dass sie genau zu Hause abzählen, wie viel Medikamente sie noch haben und dann auch keine überflüssigen Medikamente einnehmen.

    Wolfgang Kreischer ist Vorsitzender des Berliner Berufsverbandes der Allgemeinmediziner. Seit fast 20 Jahren betreibt der Hausarzt seine Praxis im noblen Stadtteil Zehlendorf, zehn Euro Praxisgebühr können viele hier verschmerzen - wenn sie nicht ohnehin privat versichert sind.

    Seit dem Start der Gesundheitsreform verzeichnet Kreischer daher auch nur einen Patientenrückgang von fünf bis acht Prozent, weit weniger als der Durchschnitt. Umsatzeinbußen habe er deshalb nicht, sagt Kreischer. Auf Dauer werde er wieder mehr Patienten haben, weil der Hausarzt wichtiger werde.

    Der Hausarzt wird nach und nach mehr zur Anlaufstelle, wie es im Gesetz vorgesehen ist und wie es auch sinnvoll ist. Und der Patient kommt mit mancher Bagatelleerkrankung an der Haut oder anderen Organen auch zum Hausarzt und fragt dann: 'Doktor, können sie das mal schnell noch mitbehandeln?' Und in den meisten Fällen kann das der Hausarzt auch.

    Dennoch unterschreibe er 3- bis 4mal so viele Überweisungen wie vor der Reform, sagt Kreischer. Das sei schließlich die neue Rolle des Hausarztes: Er soll eine Lotsenfunktion im Gesundheitswesen für seine Patienten übernehmen.

    Praxis Dr. Kreischer, von Thörne, guten Tag...

    Auch Kreischers Arzthelferin Anne von Thörne sieht einen positiven Aspekt der Gesundheitsreform.

    Der Patient ist sich vielleicht auch darüber im klaren, dass Gesundheitsvorsorge vielleicht was Gutes ist, dass man wirklich was für seine Gesundheit tut, aber ich glaube, das dauert noch eine Weile, bis sich das wirklich durchgesetzt hat bei den Menschen. Also zum Beispiel Sport, wir empfehlen hier oft Sport zu machen, bei Rückenschmerzen. Vielleicht hat der Patient dann doch irgendwann die Erkenntnis: Vorsorge ist gut.

    Im Wartezimmer sitzt die 77jährige Rentnerin Anne Weidner. Die ehemalige Sportjournalistin betreibt bereits heute Gesundheitsvorsorge, möchte dabei aber von ihrer Krankenkasse unterstützt werden.

    Es gibt einen schönen Spruch: Deutschland bewegt sich. Ich finde, dass die Krankenkassen dafür ruhig mal etwas ausgeben sollten. Ich persönlich turne im Gesundheitszentrum in der Furkenbeckstraße, aber natürlich für mein Geld. Und da sollte die Kasse sich beteiligen.

    Hausarzt Kreischer kritisiert den gestiegenen Verwaltungsaufwand. Er habe eine Helferin abstellen müssen, die sich nur mit Abrechnungen, Buchhaltung und Praxisgebühr befasst. Der Ärztefunktionär kritisiert aber vor allem die Umsetzung der Reform:

    Wir haben große Verunsicherungen seit Einführung der Gesundheitsreform. Und zwar auf Seiten der Patienten und auf Seiten der Ärzte.

    Seine Arzthelferin Anne von Thörne sei völlig überlastet, weil sie den Patienten fast täglich neue Gesetze, Maßnahmen und Kostenkonzepte erklären müsse. Arzthelferin von Thörne sagt, die Abrechnung der Praxisgebühr mache zwar viel Arbeit. Die Gebühr selbst werde aber von den meisten Patienten akzeptiert.

    Praxisgebühr, das klappt ganz gut, aber es gibt auch jede Menge Menschen, die Probleme haben, das zu bezahlen. Das heißt, es ist oft so, dass wenn sie ihre zehn Euro bezahlt haben für die Praxisgebühr, sie dann klagen und sagen: Für die Apotheke wird es nicht mehr reichen.

    Die Praxisgebühr kann man nur vermeiden, wenn man nicht zum Arzt oder Zahnarzt geht. Genau so reagierten viele Patienten, sagt Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe - und zwar nicht nur jene, die den Arztbesuch bislang als Gelegenheit zum netten Plausch betrachtet hätten:

    Es sind welche dabei, die das System in Anspruch genommen haben aus Gründen, die nicht unbedingt den Arztbesuch vorne gesehen haben – also ich weiß, dass z.B. manches nettes Zusammentreffen von Leuten im Wartezimmer unterbleibt wegen der zehn Euro. Da muss man ja dann sagen: Das ist in Ordnung. Während insbesondere sozial Schwache und Obdachlose – das können wir eindeutig nachweisen - nicht zum Arzt gehen und ihrer Krankheiten verschleppen. Und das sind manchmal Krankheiten, die nicht so ganz ohne sind, bei denen sich das richtig negativ auf deren Lebenserwartung und –qualität auswirken kann.

    Dies bestätigt Uwe Kraffel, Vorsitzender des Berufsverbands der Augenärzte:

    Es gibt Patienten mit bestimmten Entzündungen der Hornhaut, die eben später gekommen sind, was dann natürlich höhere Kosten für die Krankenkassen auslöst, weil es dann natürlich schwerer zu beheben ist. Die Patienten sind länger krank, die Patienten müssen länger leiden.

    In den ersten acht Monaten der Gesundheitsreform, sagt Kraffel, habe er rund fünf solcher Fälle behandelt. Doch wer einen Arztbesuch verschleppt, weil er die zehn Euro Praxisgebühr sparen muss, landet oft nicht beim Augenarzt, sondern in der Notaufnahme.

    Die Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses. Hier arbeitet der Arzt Maurice Hägemann, der seinen richtigen Namen nicht im Radio hören möchte. Seit Einführung der Gesundheitsreform, berichtet der Mediziner, habe er zwei Patienten gehabt, die fast gestorben wären, weil sie die zehn Euro Praxisgebühr nicht zahlen konnten.

    Ich bin zur Rettungsstelle gerufen worden mit einem Patienten, der torakale Beschwerden hatte, typische Beschwerden für einen Herzinfarkt, das hat sich dann im Labor und im EKG bestätigt und der gab an, die Beschwerden schon seit mehreren Tagen zu haben und auch an Luftnot gelitten zu haben und nicht zum Arzt gegangen zu sein, weil er diese zehn Euro nicht hatte aufbringen können. Aufgrund der Verzögerung ist er intensivpflichtig geworden und ist behandelt worden wie ein normaler Herzinfarkt, aber es war schon eine Verkomplizierung des Fall, weil er so spät gekommen ist.

    Derartige Komplikationen können auch auftreten, wenn Kranke notwendige Medikamente nicht einnehmen, weil sie rezeptfrei sind und deshalb vom Patienten komplett selbst bezahlt werden müssen. Augenarzt Uwe Kraffel sagt, das schade der Gesundheit und könne die Kosten der Kassen erhöhen:

    Es wird ständig gewünscht, verschreibungspflichtige Medikamente zu bekommen, oder es wird auch mal drum gebeten, ein Ärztemuster zu bekommen. Einfach weil die Leute sich die Sachen nicht mehr leisten können. Natürlich, wird schon nachgefragt. Die haben sich dann beim Apotheker erkundigt und sagen dann: Der Apotheker sagt, dieses und jenes Medikament, das könnten sie aufschreiben.

    Anne von Thörne, Arzthelferin beim Hausarzt Kreischer in Berlin Zehlendorf:

    Zum Beispiel bei Hämorroidenmitteln, die ganz starken Sachen, die sind für den Patienten interessanter. Andererseits sind sie nicht unbedingt angezeigt, weil ein milderes meistens dann doch das Bessere ist. Das heißt, das können wir dann gar nicht aufschreiben, auch wenn der Patient das möchte.

    Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, BPI, Bernd Wegener, fordert, dass die Ausgaben für rezeptfreie Medikamente auf die Höchstgrenzen bei der Selbstbeteiligung angerechnet werden, was bisher nicht der Fall ist. Die Obergrenze für die Zuzahlungen betragen bei Chronikern ein Prozent des Jahresbruttoeinkommens, bei allen Anderen zwei Prozent:

    Für die Patienten hat die Ausgrenzung der verschreibungsfreien Arzneien aus der Erstattung eine massive Verschlechterung der Versorgung zur Folge. Der BPI fordert die Installation einer Härtefallregelung für die Versicherten. Verschreibungsfreie Arzneimittel müssen auf die Höchstbelastungsgrenze angerechnet werden, weil es sich um notwendige Medikamente handelt, wie das Gesundheitsministerium stets selbst betont.

    Natürlich geht es der Pharmaindustrie auch darum, auf diese Weise die sinkenden Umsätze mit rezeptfreien Arzneien wieder zu stabilisieren. Da spielt die Politik nicht mit. Die SPD will aber zumindest durchsetzen, dass alle Jugendlichen rezeptfreie Arzneien kostenlos erhalten. Bisher gilt das nur bis 14 Jahre. Die Kinderärzte dringen auf die Nachbesserung, weil nach ihren Beobachtungen immer mehr Jugendliche notwendige Medikamente aus Kostengründen nicht mehr einnehmen.

    Wegen der Überschüsse wollen viele Kassen ihre Beitragssätze zum Jahreswechsel senken. Bisher wurden die Beiträge für rund 26 Millionen Versicherte leicht reduziert. Hochgerechnet auf alle GKV-Mitglieder bedeutet das: Der durchschnittliche Beitragssatz sank lediglich von 14,4 auf 14,2 Prozent.

    Mühsam nähert man sich also dem von Koalition und Opposition errechneten durchschnittlichen Beitragssatz von 13,6 Prozent. Der sollte eigentlich schon längst erreicht sein. Das wird auch nächstes Jahr schwer, weil zu viele Kassen ihre Überschüsse ganz oder teilweise zur Schuldentilgung einsetzen müssen. Barmer-Chef Eckhardt Fiedler ist dennoch optimistisch:

    Dann wird im Januar in meinen Augen eine sehr deutliche Beitragssatzsenkungswelle entstehen, die den Beitragssatz auf die 13,6, wenn nicht sogar darunter bringt. Die Prognose hängt natürlich damit zusammen, dass es zu dieser Ausgliederung des Zahnersatzes kommt und dann dieses Geld in entsprechende Beitragssatzsenkung umgewandelt wird.

    Da allerdings liegt der Haken. Denn der Zahnersatz – so das Gesetz – soll vom kommenden Jahr an alleine von den Versicherten bezahlt werden – jeder würde monatlich eine pauschale Prämie von voraussichtlich knapp sieben Euro monatlich zahlen. Alternativ kann man sich auch privat versichern - darauf hatten sich zumindest Regierung und Opposition geeinigt und so steht es bisher im Gesetz. Daraus wird wohl dennoch nichts mehr. Ulla Schmidt:

    Diese kleine Kopfpauschale, die würde bei 6,50 Euro dann noch zwei Euro Bürokratie, also Verwaltungsaufwand kosten. Das kann keiner wirklich wollen, dass wir jetzt sagen: Leute lasst es uns prozentual machen.
    Auch die CDU, auf deren ausdrücklichen Wunsch die Zahnersatzprämie in die Reform kam, hat die Lust daran verloren. Der chronisch kranke Rentner Karlheinz Maczassek hat nichts anderes erwartet:

    Überrascht mich überhaupt nicht. Ich weiß ja wo das herkam mit dem Zahnersatz, kam von Frau Merkel. Wenn man das weiß, schon von vornherein, dann ist es ja schön, wenn Frau Merkel jetzt zurückgeht.

    Eigentlich sollte die Ausgliederung des Zahnersatzes der Probelauf für die Kopfpauschalen werden. Doch darauf will die CDU jetzt verzichten. Laurenz Meyer:

    Man muss befürchten, dass von der jetzigen Regierung alles unternommen würde, um das System einer Gesundheitsprämie zu diskreditieren durch bürokratische Ausführung. Und von daher ist es nicht sinnvoll, dieses Risiko einzugehen, dass man eine so gute Lösung wie die Gesundheitsprämie in die Hände dieser Regierung gibt – auch selbst in kleinen Teilbereichen nicht. Ganz sicher ist, wenn man keine Prämie hat, dass es 'ne Lohnbezogenheit bleibt.

    Dann aber ist die Private Krankenversicherung außen vor. Sie sollte die Zahnersatzversicherung in Konkurrenz zu den gesetzlichen Kassen anbieten. Fällt das weg, müsste das Gesetz geändert werden. Deshalb schlägt Ministerin Schmidt vor, den Zahnersatz erst Mitte 2005 neu zu regeln. Gleichzeitig soll die Neuregelung des Krankengeldes, das künftig ebenfalls allein von den Versicherten ohne Arbeitgeberanteil bezahlt werden muss, um ein halbes Jahr vorgezogen werden - und dann ebenfalls in neun Monaten in Kraft treten.

    Dann steigt die Belastung der Versicherten, weil sie für beide Leistungsbereiche die vollen Beiträge bezahlen müssen - den Arbeitgeberanteil gleich mit. Das kostet sie pro Monat 0,45 Prozent ihres Bruttoeinkommens. Gleichzeitig aber sollen die Kassen ihre Beitragssätze senken – und zwar um 0,45 Prozentpunkte Mitte 2004 und um weitere 0,45 Prozentpunkte 2006.

    Doch obwohl die Gesundheitsreformer darauf besonders stolz sind: Beitragssatzsenkungen nützen praktisch nur den Gesunden. Wer halbwegs regelmäßig Gesundheitsleistungen benötigt oder Medikamente einnehmen muss, zahlt mehr drauf, als er an Beitragsermäßigung erhält. Das spüren viele Patienten am Portemonnaie.

    Zusätzlich verwirren voreilige Diskussionen um Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen die Versicherten. Es geht um die Finanzreform des Gesundheitswesens. Denn das Gesundheitssystem mit seinen langfristig steigenden Ausgaben wird derzeit nur durch Abzüge auf Arbeitsentgelte gespeist - das aber verteuert die Arbeitskosten. Das ist nicht nur beschäftigungsfeindlich – es reicht auch finanziell künftig schlichtweg nicht aus.

    Also will die Regierung weitere Einkünfte beitragspflichtig machen: beispielsweise aus Vermögen, Mieten und Aktien. Das Ganze soll dann Bürgerversicherung heißen. AOK-Vorstandschef Hans-Jürgen Ahrens:

    Wenn man da nicht zu Potte kommt – und das wird nur übergreifend gelingen – dann bleibt die einzige Lösung, dass wir wieder Leistungsbereiche herausnehmen. Und das ist dann das Ende dieser sozialen Krankenversicherung.

    Wenn Selbständige, Beamte und Besserverdienende in die Bürgerversicherung kommen, bringt das alleine kaum finanzielle Vorteile. Der Hauptteil der Beiträge orientiert sich weiter an den Arbeitsentgelten - und es bleibt dabei: Die Arbeitgeber zahlen die Hälfte zu. Das würde künftig die Lohnnebenkosten in die Höhe treiben und so den Arbeitsmarkt belasten. Denn Experten rechnen damit, dass sich wegen des teuren medizinischen Fortschritts und der zunehmenden Zahl alter Menschen die Krankenkassenbeiträge in den nächsten 30 Jahren verdoppeln könnten.

    Die SPD will deshalb auch Beiträge auf Kapitalerträge und Zinsen erheben. All das könnte die Krankenkassenbeiträge um bis zu zwei Prozentpunkte sinken lassen, nicht mehr. Langfristig würden sie weiter steigen. Das könnte in der Bürgerversicherung nur durch eine kräftige Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze aufgefangen werden – mithin durch eine Mehrbelastung der Besserverdienenden.
    Die Grünen wollen deshalb aus beschäftigungspolitischen Gründen den Arbeitgeberbeitrag absenken und einfrieren, wogegen sich die SPD vehement wehrt. Ein weiteres Problem: Ob man die private Krankenvollversicherung in ihrer jetzigen Form wirklich auslaufen lassen kann, ist verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft.

    Das ist auch der Grund, warum die Regierung die Private Krankenversicherung an der Bürgerversicherung beteiligen will. Dann würde zwar Private Krankenversicherung draufstehen, drin wäre aber die Gesetzliche – eine Mogelpackung also, gegen die die Privatversicherungen bereits Verfassungsklage angekündigt haben.

    Bei so vielen offenen Fragen scheint es verständlich, dass SPD und Grüne ihr Reformprojekt erst einmal auf die Zeit nach 2006 verschoben haben. Solange will auch die CDU mit ihrer Finanzreform warten. Sie ist derzeit noch heillos zerstritten über die von der CDU beschlossenen Kopfpauschalen. Die bringen übrigens überhaupt keine Beitragsentlastung, entkoppeln die Gesundheitskosten aber dauerhaft von den Arbeitsentgelten.

    Einkommensschwache sollen niedrigere Prämien zahlen müssen, so plant es die CDU. Dieser Sozialausgleich würde anfangs weit über 40 Milliarden Euro betragen. Das kann praktisch nur durch Steuererhöhungen gegenfinanziert werden. Die würden bei steigenden Gesundheitsausgaben - ebenso wie die Prämie selbst - weiter in die Höhe gehen. Das ist ein Grund, warum die CSU sich bisher diesem Modell standhaft verweigert. Ihr Sozialexperte Horst Seehofer:

    Stellen Sie sich mal vor, wir versprechen den Leuten einen Sozialausgleich und erhöhen dafür die Mehrwertsteuer – und die Mehrwertsteuer zahlen genau wieder die kleinen Leute. Das kann niemand wollen.

    Hinzu kommt: Bürgerversicherung und Kopfpauschalen sind zustimmungspflichtig. Nur wenn die Union die nächste Bundestagswahl gewinnt, stehen die Chancen gut, dass sie ihr Konzept der Kopfpauschalen verwirklichen kann, denn sie verfügt über eine Mehrheit im Bundesrat.

    Ob Kopfpauschale oder Bürgerversicherung: Noch produziert die aktuelle Gesundheitsreform manche Ungereimtheit und Ungerechtigkeit, da streitet die Politik bereits über die nächste Reform. Die ist zweifellos notwendig. Aber eigentlich können die Bürger erwarten, dass zuerst die geltenden Bestimmungen wasserdicht ausgestaltet werden, bevor ihnen neue und unausgegorene Reformmodelle vorgesetzt werden. Schon das macht klar, dass Bürgerversicherung und Kopfpauschalen derzeit vorrangig Wahlkampfmunition sind.