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Der Dichter als Übermensch

Wie widersprüchlich darf der Charakter von Protagonisten in Büchern für junge Leser sein? Kaum, besser überhaupt nicht, und erst recht nicht, wenn dieser Mensch ein wirklicher Dichter ist und dazu noch einen runden Geburtstag feiert. So jedenfalls mag es sich Maren Gottschalk in ihrer zum dreißigsten Todestag von Pablo Neruda erschienenen Biographie des chilenischen Dichters gedacht haben. Von der der ersten Zeile an ist sie bemüht, das Bild eines einheitlichen und ausnahmslos vorbildlichen Charakters zu zeichnen - eines Menschen, den sie auf ein so hohes Podest gestellt hat, das dem Leser vor lauter ehrfürchtigen Nach-oben-Starren schon nach wenigen Zeilen der Nacken schmerzt. "Pablo Neruda", beginnt Gottschalk ihre Biographie, ...

Kersten Knipp | 24.01.2004
    ... war nicht nur einer der größten Dichter, die Lateinamerika je hervorgebracht hat, er war auch einer der produktivsten, streitbarsten und mutigsten Menschen des vergangenen Jahrhunderts. Unbeirrbar und konsequent kämpfte er sein Leben lang gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit, gegen die Kaltschnäuzigkeit der Machthaber, und er lieh seine Stimme all denen, die im Strudel von Kriegen und Diktaturen unterzugehen drohten.

    Sicher: Kinder brauchen Helden. Doch müssen es solche sein, wie jener, der da unter Gottschalks Händen zum strahlenden, makellosen Übermenschen heranwächst? Hat man Lust, viel über einen solchen Menschen zu erfahren? Oder besser: Hat man Lust, einen Text zu lesen, der von Anfang an so wenig von seinem Leser hält, dass er ihm ein eigenes Urteil partout nicht zutraut, sondern ihm von Anfang an und klipp und klar sagt, was er von dem zentralen Protagonisten zu halten hat? Die Vermutung nämlich, dass hier weniger der Porträtierte selbst als der Wille der Porträtierenden zum Pathos den Ton angibt, bestätigt sich auch im zweiten Abschnitt der ersten Seite, der dem Leser Neruda noch einmal als Großen vor Augen führt – diesmal als großen Liebenden. "Pablo Neruda", fährt Gottschalk fort, ...

    ... war auch ein großer Liebender, dessen Gedichte bis heute zu den schönsten der Weltliteratur gehören. Voller Leidenschaft liebte er die Frauen an seiner Seite, doch liebte er auch sein Heimatland Chile, das magische Araukanien, das schroffe Patagonien, die Atacamawüste und die Eisfelder, und besonders liebte er die Anden und das Meer, die sein Land vom Rest der Welt trennen.
    Sicher: Man kann die Passagen als kleinen Appetithappen deuten, der anhand der gängigsten Chile-Bilder – man könnte auch sagen: Chile-Klischees - Lust macht, mehr über dieses Land, mehr über seine Menschen, mehr über den Dichter zu erfahren. Es fragt sich dann allerdings, warum Gottschalk diesem Kapitel just die Überschrift "Der Mythos Pablo Neruda" gegeben hat, warum sie auf die einschlägigen Topoi verweist, nur um sie dann selbst nach Kräften zu bedienen. Gottschalk hat sicher Recht: Pablo Neruda ist ein Mythos, nicht nur in Chile. Und sicher möchte man Gottschalk auch darin zustimmen, dass, Zitat, "dieser Mythos droht, die Realität zu verdecken. Hinter all den Lobreden und dem betriebenen Kult ist es nicht leicht, den Menschen selbst zu erkennen."

    Vor allem dann nicht, muss man aber hinzufügen, wenn man wie Gottschalk nur jene Quellen studiert, die diesen Mythos ganz besonders pflegen. Macht man sich die überschaubare Mühe, die im Zitatverzeichnis angegebene Literatur nach ihren Quellen zu ordnen, so kommt man auf nicht mehr als dreizehn verschiedene Autoren, die Gottschalk zitiert - wobei die meisten Quellen sich aus Werken Nerudas selbst zusammensetzen, unter denen wiederum seine Memoiren "Ich bekenne, ich habe gelebt" herausragt. Dabei weiß die Biographin doch selbst, was von diesem Werk zu halten ist, Zitat:

    Wer die Memoiren (…) liest, spürt sofort, wie genüsslich Pablo Neruda Anekdoten vor uns ausbreitet, kleinen Ergebnissen große Bedeutung beimisst, wie er fröhlich fabulierend und manchmal auch etwas selbstverliebt ein Bild seines Lebens skizziert, das sicherlich nicht in den Rang einer Autobiographie erhoben werden darf.

    Warum aber um Himmels willen zitiert Gottschalk dann so ausgiebig aus ihnen? Und warum begnügt sie sich im Wesentlichen mit dem Text von Nerudas Freund und Hagiographen Volodia Teitelboim, dessen Biographie das bekannte Neruda-Bild wesentlich mitgeprägt hat? Wie will Gottschalk mit diesen Quellen den "Mythos Neruda" korrigieren, wie ein anderes Bild bieten, wenn sie die weiterführende Forschungsliteratur offenbar nicht gelesen, ja nicht einmal zur Kenntnis genommen hat? Ein Jugendbuch zu schreiben, kann doch nicht heißen, aktuelle Quellen zu ignorieren.
    Entsprechend ist auch der Aufbau des Buchs gehalten: Ausgiebig, ja quälend lang beschäftigt es sich mit den Kindheits- und Jugendjahren des Dichters, anschließend seinen Frauengeschichten, zu denen Neruda selbst sich ja hinreichend, um nicht zu sagen: ad nauseam geäußert hat.

    Es folgen Darstellungen der bekannten Abschnitte, der vierjährige Aufenthalt als Honorarkonsul in Asien, später das Engagement für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, der mutige Einsatz, der tausenden republikanischer Kriegsflüchtlinge das Leben rettete, die Flucht vor den Häschern des chilenischen Diktators Gonzales Videla, der Flirt mit der Sowjetunion, der Nobelpreis, schließlich das Ende der Regierung Allende und Nerudas Tod nicht einmal zwei Wochen später. All dies ist hinlänglich bekannt, zumindest jenen, die Neruda und seinem Werk schon vorher etwas abgewinnen konnten. Allen anderen Lesern mag es neu so. Insofern böte das Buch eine Chance, sich auf Neruda und die lateinamerikanische Literatur selbst einzulassen. Die Chancen stünden höher, wenn Gottschalk ihre Biographie auf die Höhe heutiger Standards gebracht hätte – die Gründen auch in der Jugendliteratur längst beachtlich sind.

    Maren Gottschalk
    ‚Es brennt das Leben’. Die Lebensgeschichte des Pablo Neruda
    Beltz & Gelberg, 203 S., EUR 16,90