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Der dritte Bildersturm

Hunderte von Kirchen schließen in den Niederlanden. Kreuze, Kelche, Kirchenbänke stehen zum Verkauf. Die niederländische Stiftung "Einrichtung Gotteshäuser" hat einen kunsthistorischen Leitfaden entwickeln lassen und hilft den Bistümern beim Entrümpeln.

Von Kerstin Schweighöfer | 17.02.2012
    Nur widerwillig gibt die schwere alte Holztür nach – und den Blick frei in das Kirchenschiff der Sint Anna Kerk im niederländischen Amstelveen. Es ist so gut wie leer, denn die Kirche wurde im Mai 2011 geschlossen, in Kürze soll sie abgerissen werden. An den Wänden sieht man Ränder: Dort hingen bis vor kurzem noch die 14 Kreuzwegstationen, erklärt Harry Lammers, der Vizevorsitzende vom St. Anna-Kirchenrat.

    Eine andere Kirche im benachbarten Pfarrbezirk konnte sie zum Glück gebrauchen, erzählt der 72-Jährige. Das große Kreuz über dem Altar allerdings hängt noch immer. Es kommt aus Oberammergau. Das wolle keiner haben, das sei zu groß. Auch der Tabernakel hat trotz seiner prächtig verzierten Jugendstiltüren noch keinen Abnehmer gefunden.

    "Was sollen wir damit bloss machen?" fragt Lammers ratlos und wendet sich an seinen Begleiter Marc de Beyer. Der ist Konservator am Utrechter Catharijnekonvent, einem Museum für christliche Kunst und Kultur, und hat ein Handbuch herausgebracht mit Richtlinien für das Schließen von Kirchen und das Veräußern von Kircheninventar. Der Rat des 40-jährigen Kunsthistorikers ist gefragt: In den letzten drei Jahren mussten in den Niederlanden 300 Kirchen schließen.

    Das sind 100 pro Jahr, jede Woche zwei, rechnet de Beyer vor. Noch schneller sterben die Klöster in den Niederlanden: 160 gibt es derzeit noch, 1500 mussten in den letzten 15 Jahren schließen. Lediglich zehn, so schätzt de Beyer, werden überleben. Er spricht vom dritten Bildersturm:

    "Der erste war im 16. Jahrhundert, der zweite kam in den 1960er Jahren mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, als beschlossen wurde, auch katholische Kirchen schlichter einzurichten und Gegenstände wie der Beichtstuhl verschwanden. Und nun haben wir den dritten Bildersturm."

    Dutzende leer stehender Sakralbauten bekamen in den Niederlanden in den letzten Jahren eine neue Funktion. Einige dienen immer noch als Gotteshaus, sind jetzt aber Moscheen, andere wurden in Wohnungen, Restaurants und Hotels umgewandelt, in Läden, Kindergärten und sogar Supermärkte. Jüngstes Beispiel: In der St. Josefs Kirche in Arnheim wurde Ende letzten Jahres ein Skaterpark eröffnet. Dort rollen nun Jugendliche auf ihren Skateboards über Rampen und andere Hindernisse durchs Kirchenschiff und heben ab.

    Harry Lammers ist froh darüber, dass seiner St. Annakirche dieses Schicksal erspart bleibt: Die Schließung war zwar unvermeidlich, da die Kirchenbänke jeden Sonntag zu Dreivierteln unbesetzt blieben. Aber hinzu kommt eine Autobahnverbreitung: Die 1924 erbaute Kirche ist im Weg und muss abgerissen werden. "Ein Glück im Unglück", findet Lammers.

    Denn ein Skaterpark oder Supermarkt käme für seine Gemeinde nicht in Frage, ebenso wenig eine Moschee - da sei ein Abriss schon vorzuziehen. Auch wenn ihm als praktizierender Katholik dabei das Herz blute.

    "Es tut weh, sehr, sehr weh. Hier wurde ich getauft, hier habe ich geheiratet, hier fand auch die Taufe meiner Kinder statt, und von hier aus wollte ich bei meinem Begräbnis eigentlich auch meinen letzten Weg zum Friedhof antreten. Beim Abriss werde ich ein Taschentuch brauchen, aber ich werde dabei sein."

    Vielen Kirchgängern ist es ein Trost, wenn sie in ihrer neuen Kirche zumindest ein paar vertraute Gegenstände wiederfinden. Bei der Auflösung eines Kircheninventars sollte die zuständige Gemeinde deshalb als erstes versuchen, möglichst viele Gegenstände in den Kirchen benachbarter Pfarrbezirke unterzubringen. Dann können sich die Kirchgänger dort zumindest ein bisschen zuhause fühlen, so Konservator de Beyer:

    "Nächster Abnehmer sind Kirchen im Ausland. Vor allem in den einstigen Ostblock-Ländern ist die Nachfrage groß: Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus werden die lange leer stehenden Kirchen dort wieder bezogen und neue Kirchen gebaut. In der Ukraine etwa konnten bereits mehrere Gotteshäuser mit Kirchenbänken, Kreuzwegstationen und Kerzenständern aus geschlossenen niederländischen Kirchen neu eingerichtet werden.
    Auch in der Dominikanischen Republik wurde gerade eine Kirche mit Mobiliar ausgestattet, das aus Kirchen und Klöstern in Den Haag und Nimwegen stammt. Denn auch wenn die Zahl der Christen in Westeuropa dramatisch sinkt: Weltweit wächst das Christentum stärker als der Islam."

    Mit seinem großen Schlüsselbund bewegt sich Harry Lammers Richtung Sakristei. Hier stehen noch ein paar Heiligenbilder und gut ein Dutzend größere und kleinere Kerzenständer, die bislang keinen Abnehmer fanden. Und in den Schubladen liegen ein paar übrig gebliebene liturgische Gewänder.

    Die werden wohl im Depot landen oder - im äußersten Falle – vernichtet werden. Das ist die sechste und letzte Richtlinie im Handbuch von de Beyer, er kam nicht darum herum, sie aufzunehmen. Das liegt vor allem daran, dass die katholische Kirche im Gegensatz zur protestantischen die profane Nutzung geweihter Gegenstände verbietet. Von der allerletzten Möglichkeit, Privatpersonen als Abnehmer zu gewinnen, kann die katholische Kirche dadurch nur in beschränktem Maße Gebrauch machen. Außerdem, so betont de Beyer ganz nüchtern:

    "Wir können nicht alles aufbewahren, immerhin geht es um schätzungsweise 150 000 Objekte, die bis 2018 überflüssig werden!"

    Für den Tabernakel allerdings ist ihm inzwischen eine Idee gekommen:
    Die wertvollen Jugendstildekorationen auf den Türen, so meint er beim Verlassen der Sakristei, die ließen sich doch ganz einfach abnehmen, die könne man erst einmal aufbewahren – und den Tabernakel selbst ganz funktionell als Schließfach oder Tresor benutzen.

    "Ausgezeichnet! … "

    … pflichtet ihm Harry Lammers hocherfreut bei. Er weiß auch schon eine Pfarrgemeinde, die für ein solches Schließfach Verwendung hätte. Als er zurück durch das Kirchenschiff auf den Ausgang zusteuert, kommt er an einem von drei Reliefs vorbei, die noch aus der Mauer herausgebrochen werden müssen. Es zeigt die Heilige Anna zusammen mit ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind.

    Diese zauberhafte Anna selbdritt ist Lammers im Laufe der Jahrzehnte besonders ans Herz gewachsen. Ein Abnehmer hat sich noch nicht gefunden. Vielleicht, so hofft der alte Mann, und man merkt ihm an, dass er es kaum wagt, die Vorstellung zu Ende zu denken, …

    " … vielleicht kommt es ja soweit, dass ich sie mit nach Hause nehmen darf."

    Auch seine Kinder, da ist er sich ganz sicher, würden sie in Ehren halten.