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Der dunkle Kontinent der Menschen

Auf den ersten Blick ist das Unbewusste der große Feind der rationalen Wissenschaft. Doch oft ist es auch Quelle für neue Erkenntnisse, schreiben die Autoren des Sammelbandes "Das Unbewusste".

Von Thomas Kleinspehn | 14.01.2010
    Ich würde auch denken, dass das Unbewußte zumindest die Phantasie auslöst, dass es beherrschbar ist. Wenn man den Prozess sich genauer anguckt, dann kann man sagen, dass sich das Unbewusste immer weiter verkriechen muss in immer dunklere Bereiche des Lebens, um überhaupt noch die Funktion zu erfüllen, die es einmal hatte als Motor des Zufalls, der Innovation, der Krise, die jede Gesellschaft für die Innovation bedarf.

    Das Unbewusste als letztes Refugium in einer Gesellschaft, in der scheinbar alles an die Öffentlichkeit gezerrt wird. So könnte man den Ausgangspunkt von Überlegungen Christina von Brauns zum "dunklen Kontinent" des Menschen umschreiben. Zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen hat die Berliner Kulturwissenschaftlerin einen umfangreichen Band zum Thema herausgegeben, in dem bis zum Schluss unentschieden bleibt, ob es tatsächlich um "das" Unbewusste als Subjekt geht oder doch eher um unbewusste Prozesse. Die Autorinnen und Autoren suchen nach dem Wandel des Unbewussten und seiner Verwissenschaftlichung genauso wie nach dem Unbewussten in Kunst, in Politik oder in Bildern.

    Auf den ersten Blick ist das Unbewusste der große Feind der Wissenschaft, weil die Wissenschaft bewusst Rationalität, Logik sich auf die Fahnen geschrieben hat. Und das Unbewusste eher den Zufall repräsentiert oder das, was eben unberechenbar ist. Also genau das Gegenteil von Wissenschaft als Bewusstheit definiert. Gleichzeitig wissen aber alle, dass auch viele Entdeckungen in der Wissenschaft gerade diesen Zufall, Unfall auch oder auch Momenten im Halbschlaf, also wo das Unbewusste stärker agiert, sich verdanken. Und insofern ist das Unbewusste auch das Kapital der Wissenschaft, weil es immer wieder neue Anstöße gibt und der Wissenschaft neue Möglichkeiten, ein unbesetztes Terrain noch zu finden, eröffnet.

    So wird - das ist Christina von Brauns These - das Unbewusste als ein gefährliches Terrain domestiziert und gleichzeitig doch auch gebraucht. Dass manche wissenschaftliche Entdeckung ohne Anstöße aus dem Unbewussten gar nicht denkbar gewesen wäre, das kann man etwa in dem Beitrag von Ute Frietsch lernen. Sie zeigt am Beispiel eines Chemikers aus dem 19. Jahrhundert, wie ein Traum kurz vor dem Erwachen den Wissenschaftler zur entscheidenden Formel des Benzols geführt hat. Von derartigen unbewussten Anstößen geprägt ist die Wissensgeschichte, die der Band zusammenträgt. Hier ist das Unbewusste Kapital der Wissenschaft. Doch das ist hoch ambivalent.

    Die Herausgeberinnen interessiert besonders die andere Seite, die Seite der Krisis: das Unbewusste als Bedrohung von Wissenschaft und Politik. Das zeigt sich vor allem in der Geschlechterordnung. An ihr wird nach Ansicht von Christina von Braun der gesellschaftliche Umgang mit dem Unbewussten besonders deutlich.

    Man kann sagen, dass die westliche Wissenschaft über Jahrhunderte Frauen ausgeschlossen hat. Man kann sich nun fragen, was ist eigentlich passiert, seitdem Frauen zugelassen wurden an der Universität. Hat sich der Universitätsbetrieb verändert? Und eine der Antworten darauf ist, dass tatsächlich das Unbewusste stärker als ein Motor der Wissensproduktion begriffen wurde und durchaus auch Weiblichkeit in diesem Sinne dann zu einem inhärenten Teil der Wissenschaft geworden ist. Man muss diese verschiedenen Prozesse einfach in Parallele zueinander sehen, um zu begreifen, warum die Wissenschaft nun doch viel stärker das Unbewusste nicht mehr auszuschließen versucht aus ihrer Logik, sondern als Teil ihrer eigenen Logik begreift. Und man kann insofern sagen, dass die Wissenschaftsgeschichte, die Wissenschaftstheorie, die ja auch ein relativ neues Feld ist und die Einzug hält mit diesem Prozess einer Aufnahme des Unbewussten, dessen Repräsentant oder Symbolgestalt das Weibliche ist. Dass die Wissenschaftstheorie also gewissermaßen dann auch Einzug hält in die Wissenschaft selber und die Disziplinen anfangen über sich selbst und ihre Geschichte nachzudenken. Also diese ganzen Prozesse sind miteinander zu lesen.

    Und genau deswegen steht das bedrohliche Andere, stehen die unbewussten Prozesse, Sexualität und Geschlechtlichkeit so hoch im Kurs des wissenschaftlichen Diskurses. Von der Psychologie bis zur Hirnforschung richten Wissenschaftler ihr Augenmerk auf verborgene Prozesse, die sich aber nie ganz entschlüsseln lassen. Immer scheint dennoch ein Rest Geheimnis des Köpers, der Sexualität, der Weiblichkeit oder kurz der Lebendigkeit und Vitalität zu bleiben. Die Autoren und Autorinnen finden das im Körperdiskurs und verstärkt in der Kunst. Hier greifen sie das wieder auf, was Walter Benjamin einmal bezogen auf den Surrealismus und visuelle Medien als das "Optisch-Unbewusste" bezeichnet hat. Das Buch ist im Grunde ein Plädoyer dafür, die Domestizierungsversuche des Unbewussten zu problematisieren.

    Was wir versuchen darzustellen, ist dass die Wissenschaft immer profitiert hat vom Unbewussten und dass das Unbewusste ein ganz wichtiger Motor der Wissensproduktion immer gewesen ist. Und insofern auch diese Dichotomie zwischen Wissenschaft einerseits und Unbewussten andererseits aufzubrechen. Da gibt es durchaus auch schon Ansätze bei der neueren Forschung, die eben auch Wissenschaftsreflexion mit sich gebracht haben. Und das noch mal aufzubrechen, das war durchaus ein Anliegen des Buches.

    Nicht in jedem der über 20 Aufsätze des Sammelbandes ist diese Fragestellung jedoch so präsent, wie sie Christina von Braun hier formuliert. Zu breit gefächert und disparat ist der Themenkanon. Vielen Aufsätzen ist das Spezialistentum einer Disziplin anzumerken, das die Autorinnen und Autoren nur mühsam auf das Gesamtthema beziehen. Dort wo es gelingt, öffnet sich das Feld zu spannenden Thesen und Überlegungen: etwa bei Michael Hagners Aufsatz über das Unbewusste und die Gehirnforschung, bei Christina von Brauns eigenen Text über das Geschlecht des Unbewussten oder Joseph Vogls und Eva Johachs unterschiedliche Versuche zum Unbewussten und dem Sozialen. Oder schließlich Kathrin Peters Betrachtung zu Ästhetik und visuellen Medien. Hier werden spannende Brücken geschlagen zu neueren kulturwissenschaftlichen Theorien. Aber es wäre womöglich produktiver gewesen, nur jene Aufsätze, die sich tatsächlich auf die Ambivalenz des Unbewussten gleichermaßen als Kapital und Krisis der Wissenschaften beziehen, zu bündeln und zu profilieren. Dann wäre vielleicht ein überschaubarer Band zu einem äußerst spannenden Thema zustande gekommen. Jetzt wird der Kern des Themas - vielleicht unbewusst - auf den fast 500 Seiten zu sehr versteckt.

    Braun, Christina von; Dornhof, Dorothea; Johach, Eva, (Hrg.): Das Unbewusste
    Über das Verhältnis von Wissen und Geschlecht

    transcript Verlag, Bielefeld 2009, 36,80 Euro