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Der eher "unspanische" Lyriker

Wer war der spanische Lyriker Luis Cernuda? Um dem Leser seines Gedichtbandes "Wirklichkeit und Verlangen" einen ersten Eindruck zu vermitteln, wählte der Suhr-kamp-Verlag ein Foto des jungen Dichters von 1934: Der ephebenhafte Luis sitzt ne-ben einem vor Anker liegenden Schiff, lässig die Beine übereinander geschlagen, mit glatt und streng gescheitelten Haaren, offenem Hemd, weiß lackierten Fingernägeln, weißer Freizeithose und ebenfalls weißen Leinenschuhen. Keine Spur von spanischem Macho verraten diese Züge, eher die Haltung eines Dandy, eines Sonderlings.

Von Klaus Englert | 08.12.2004
    Man könnte meinen, Luis Cernuda sei der unspanischste Dichter gewesen – zumindest der unspanischste unter der Lyrikergruppe von 1927. Vieles hatten die eigenen Kolle-gen ihm vorgeworfen. Eduardo Vázquez nannte ihn den "perfekten Stutzer aus Sevil-la", Leopoldo Panero war entsetzt, da Cernuda sich anmaßte, die heilige Institution der Familie und das Christentum zu entweihen. Und alle waren sie empört, weil er nicht nur offen seine Homosexualität lebte, sondern sich auch in den Gedichten zu ihr be-kannte. Darin unterschied er sich von seinem homosexuellen Dichterkollegen García Lorca, der sich feiern und zum Idol erheben ließ. Anders Cernuda: Seine Dichtung war zu skeptisch und bewegte sich abseits von den Strömungen der spanischen Lyrik. Von den meisten Intellektuellen fühlte er sich verlassen, zu spießbürgerlich empfand er ihre Welt. Im Jahr 1931, zu Beginn der Zweiten Spanischen Republik, schrieb Cernuda an den Lyriker Gerardo Diego:

    Ich hasse die Wirklichkeit, wie ich alles hasse, was zu ihr gehört, meine Freunde, meine Familie, mein Land. Ich weiß nichts, will nichts, erhoffe nichts – und wenn ich noch etwas erhoffte, dann nur, dort zu sterben, wo noch nicht die groteske Zivilisation Einzug gehalten hat, auf die sich die Menschen soviel einbilden.

    Man bekäme ein falsches Bild von Cernudas Heimatstadt Sevilla, orientiert man sich nur nach dem gängigen Klischee einer lebensfrohen und offenen Stadt. In einem Ge-dicht über seine Kindheit im erzkatholischen Sevilla, mit seiner mystischen Marien-verehrung, vermittelt Cernuda dagegen den Eindruck einer beengenden und muffigen Atmosphäre.

    Entsinnst du dich, entsinnst du dich des Schauspiels,
    das du Tag für Tag verfolgtest mit Geduld,
    in der Kindheit, fern wie nur ein Traum am Morgen?
    Schweres Schweigen, zugezogene Vorhänge,
    der Lichtkreis auf der Tischdecke, feierlich
    wie ein Altartuch, und darum versammelt
    jener Familienrat, den viele schon besangen,
    während du, von hartem Kern, es noch nicht tatest.

    Am Kopfende der verdrossene Vater,
    die launische Mutter ihm gegenüber,
    mit der älteren Schwester, unerträglich und freudlos,
    und der jüngeren und sanfteren, kaum freudvoller,
    bildeten sie mit dir das Heim, das Elternhaus, das Nest der Menschen,
    brüchig und starr wie Glas,
    das jeder bricht, doch keiner biegt.


    Der Sevillano Luis Cernuda ist sicherlich der subtilste und schwierigste Dichter der Generation 27, zu der García Lorca, Rafael Alberti, Pedro Salinas, Jorge Guillén und Vicente Aleixandre gehörten. En vogue waren lange García Lorca und Alberti, die als Poeten des Widerstands galten. Sie suchten im Rhythmus die Nähe zum andalusischen Volkslied – anders als Cernuda, dessen Verse dennoch von großer Musikalität sind. Von all diesen Erneuerern der spanischen Lyrik lagen Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache vor. Nur von Cernuda gab es lediglich einzelne Gedichte in deutschsprachigen Anthologien und ein 1978 in Leipzig erschienenes Auswahlbänd-chen.

    Diesem Mangel ist nun endlich abgeholfen. In einer vorzüglichen Übersetzung von Susanne Lange liegt jetzt die zweisprachige Ausgabe von "Wirklichkeit und Verlan-gen" vor – eine Anthologie, die einen schönen Einblick in das Werk dieses außerge-wöhnlichen spanischen Lyrikers gibt. Da Susanne Lange bemüht ist, den eigenwilligen Rhythmus der Verse beizubehalten, wird der deutsche Leser bald bemerken, wo Cer-nudas Vorbilder zu suchen sind. In ihrem Nachwort klärt die Übersetzerin darüber auf, der unpolitische Dandy Cernuda habe, als er während des Spanischen Bürgerkriegs Feder gegen Gewehr eintauschte, in den Bergen der Sierra Guadarrama Hölderlin ge-lesen. Deswegen kommen dem Leser die Verslänge, der Ton und die komplexe Satz-stellung merkwürdig vertraut vor – vertrauter als dem spanischen Leser. Luis Cernuda hat sich aber nicht nur von Hölderlin, sondern auch von den französischen Surrealisten und den zeitgenössischen englischen Lyrikern beeinflussen lassen. Deswegen galt er unter den bodenständigen spanischen Dichtern als der kosmopolitischste. Früh wollte er die Enge der spanischen Heimat verlassen. Bereits Anfang der dreißiger Jahre zieht es Cernuda nach Frankreich und mit Beginn des Weltkrieges arbeitet er als Lektor in Glasgow, London und Cambridge. Nach dem Krieg unterrichtet er in den Vereinigten Staaten und 1952 beschließt er, sich endgültig in Mexiko-Stadt niederzulassen. Spa-nien, während der schier endlosen Zeit des Franco-Regimes, ist ihm nur noch geistige Heimat, verbunden durch die Liebe zur Sprache. In seinem mexikanischen Exil schreibt er das "Spanische Diptychon":

    Dies geschieht in deinem Land, dem Land der Toten,
    wo nun alles tot geboren wird,
    tot lebt und auch tot stirbt;
    ein zäher Albtraum: ein träger Aufzug
    mit restaurierten Resten und Reliquien,
    eskortiert von Ordenskleidern, Uniformen,
    ganz in Schweigen: alle stumm,
    trostlos vor dem endemischen Chaos,
    das die Furcht nicht zügelt, nur gefügig macht.

    Ich bin ein Spanier wider Willen,
    der recht und schlecht fern seinem Lande lebt,
    ohne Kummer, ohne Heimweh. (...)
    In einem Land
    will ich nicht leben, dessen Glauben, wenn es einen hat, nicht länger meiner ist,
    dessen Gebräuche mir selten eigen waren,
    dessen Andenken mir feindlich geworden ist
    und dem mich die Ferne und die Zeit entfremdeten.


    Die ihn gebührende Anerkennung fand Luis Cernuda erst nach seinem Tode im No-vember 1963. Wenige Monate später schrieb sein hochgeehrter Kollege Octavio Paz, als er gerade mexikanischer Botschafter in Neu-Delhi war, eine überschwengliche E-loge an den gerade Verstorbenen. Paz schrieb, dass Cernudas Anklagen gegen Kirche und Vaterland, sein offenes Bekenntnis zur Homosexualität, keineswegs den Kitzel des Skandalösen suchten. Cernudas Radikalität muss woanders gesucht werden: In der rückhaltlosen Selbstbefragung, die für ihn Ausgangspunkt seiner Kunst war.

    Cernudas Werk ist ein Weg zu uns selbst. Hier liegt sein moralischer Wert. Er ist nicht nur ein großer Dichter, er ist auch einer der wenigen Moralisten in der spani-schen Geschichte, so wie Nietzsche der größte Moralist des modernen Europa ist. (...) Cernudas Lyrik ist eine Kritik unserer Werte und Glaubensvorstellungen; in ihr gehen Destruktion und Kreation zusammen.

    Während Octavio Paz zu Euphemismen greift, sind Luis Cernudas eigene Worte gera-dezu bescheiden:

    Wie jeder andere Mensch habe ich lediglich versucht, meine Wahrheit zu finden, meine eigene, die weder besser noch schlechter als die anderer ist, sondern nur an-ders.

    Luis Cernuda: Wirklichkeit und Verlangen. Gedichte. Auswahl, Übertragung und Nachwort von Susanne Lange, Suhrkamp 2004, 293 S., 24,90 Euro.