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Der eiserne Pfad

Der eiserne Pfad", Aharon Appelfeld, Alexander Fest Verlag, Herbst 1999 Buchbesprechung von Marie Luise Knott "Seit Ende des Krieges bin ich, wie man so sagt, ständig auf Achse" beginnt der Roman "Der eiserne Pfad" des israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld. Mit Regionalzügen, Schienenbussen, Taxis und Pferdewagen reist der Ich-Erzähler Erwin Sigelbaum Jahr für Jahr durch die österreichischen Berge. Dabei folgt er einer immergleichen Route. Ausgangspunkt ist ein Ort namens Wirblbahn, jener Ort, an dem der Erzähler und Protagorüst einst, am 27. März 1945, als Überlebender der Judenvernichtung einem Todeswaggon entstieg und "befreit" das Licht der Welt ein zweites Mal erblickte. "Wirblbahn ist eine Wunde, die nicht verheilt", sagt der Erzähler lakonisch. Hier also beginnt an einem 27. März Ende der Achtziger Jahre der heimatlose, rastlos umherirrende Jude Sigelbaum in dem Roman seine Reise.

Marie Luise Knott | 11.01.2000
    Der "eiserne Pfad", wie der Titel lautet, ist die wörtliche Übersetzung des hebräischen Wortes für "Eisenbahn". Sigelbaums eiserner Pfad besteht aus zwei Lebenssträngen: Der erste Strang, dem das Ich folgt, ist durch seine Tätigkeit ausgelegt. Denn Sigelbaum ist ein Reisender in Sachen Antiquitäten. Auf abgelegenen Trödelmärkten und auf den Speichern von Bauernhöfen sucht er nach alten, hebräischen Handschriften, siebenarnügen Leuchtern und anderen Kultgegenständen. Diese Suche hat im Roman zuallererst symbolische Bedeutung. Wenn es für ihn, den Überlebenden, nur noch eine "Scelenheimat" gibt, wenn in diesem zentraleuropäischen Landstrich heutzutage kaum mehr ein jüdischer Überlebender anzutreffen ist, dann will er zumindest die überlebenden Gegenstände retten. Die bedeutendsten Funde verkauft er nach Israel.

    "Kaum erwähnt jemand Israel, werde ich traurig", lässt Appelfeld den Ich-Erzähler sagen. Und weiter: "Wie gerne wäre ich dort, um neue Kraft zu schöpfen und dann gestärkt hierher zurückzukehren. Ein Monat in Israel würde mich in einen mutigen Menschen verwandeln und lehren, den Zügen fernzubleiben und in den Wäldern zu leben. "

    Doch Israel bleibt hier, wie in allen Romanen Appelfelds, ferne, projizierte Heimat. Sigelbaum folgt auf seiner Reise einem inneren Zwang. Er weiß, dass auch die überlebenden Gegenstände inuner weniger werden, doch vorwärtsgetrieben von seinen Ängsten und auf der Flucht vor seinen Erinnerungen ist er immer unterwegs, auf der Bahn, in Gaststätten, Pensionen und Hotels. Vor allem auf der Bahn. "Schienen machen mich glücklich", sagt er einmal. Doch längst hat sich die zurechtgelegte "Schienenheimat" als Illusion erwiesen. Die Menschen - Pensionswirtinnen, Kneipiers, Speisewagenkellner und Taxifahrer - , mit denen er auch Momente der Ruhe, der Nähe und des Glücks erlebt hat, haben ihm keinen Halt in der Welt beschert. Kaum dass Nähe aufkam, kaum daß Vertrauen als Möglichkeit aufschien, löste sich die jeweilige Beziehung auf. Alle Menschen sind von der Geschichte infiziert- die einen erweisen sich als Antisemiten und Mörder, die anderen, seine Lieben, werden, wie er selber, von inneren Zwängen und Ängsten zerfressen. Es gibt nur kurze Momente der Linderung - in Musik, Essen und Begegnungen.

    Auch in Oberherben, wo der Protagonist eines Tages ein besonders wohltuendes Bad genoß, ist die Zuflucht nicht von Dauer. Hier kehrte nach dem Krieg erstmals ein Gefühl für Zeit in ihn zurück, fast so etwas wie Ruhe, und so machte er Jahr für Jahr eine Nacht hier Station. Als er jedoch einmal seinen Aufenthalt um einen Tag verlängern wollte, konnte er sich der Erinnerungen kaum erwehren. "Seither bleibe ich in Oberherben nie länger als einen Tag", berichtet er. Andere Gegenden, in denen er auf seiner Suche nach Zuflucht einmal Halt machte, haben sich längst in "brennende Zimmer" verwandelt - gespenstische, einsame Verhältnisse überall. Der zweite Strang des eisernen Pfades folgt dem inneren Auftrag, den Mörder seiner Eltern zu finden und deren Tod zu rächen. Wann immer der Ich-Erzähler in Depression zu versinken droht, weist der Auftrag ihm seinen Weg: Er soll und wird den Mörder finden - und töten. Hier weiß er sich einig mit den jüdischen Kommunisten, die Sigelbaum unterwegs trifft oder aufsucht. Sie sind die letzten Boten aus der Welt seiner Eltern und für ihn sind sie eine Stärkung, denn sie repräsentieren die Hoffnung auf eine bessere Welt; sie allein besitzen die Willenskraft, "den Wall des Lebens zu festigen".

    Der Mörder, den Sigelbaum schließlich findet, ist ein armseliger alter Mann, der - genau wie die Juden - von Heimatlosigkeit und Einsamkeit erzählt. Am Ende erschießt ihn Siegelbaum trotzdem - jedoch nicht von vorne, wie einen Gegner, sondern von hinten, wie einen Flüchtenden.

    "Mein Kopf ist leer", lässt Appelfeld Sigelbaum nach der Tat sagen. Und weiter: "Sicher, den Mord hatte ich mir anders vorgestellt. Ich war überzeugt gewesen, daß ich kurz darauf selber umkommen, zumindest festgenommen würde. Ich hatte mir vorgestellt, von wütenden Menschen durch die Straßen geschleift zu werden, bis mein letzter Tropfen Blut verronnen war. Die Tatsache, daß ich lebte, in einem Zug saß und eine Scheibe Toast mit Butter bestrich, ließ ein ungewohntes Gefühl der Sicherheit in mir aufkeimen." Der Mörder Sigelbaum fährt also sein "gewohntes Leben" fort, als sei nichts gewesen. Der Mord, genauso wie der Mord der Nazis an den Juden, wird ungerecht bleiben.

    Hier zeigt sich die besondere Kunst Appelfelds: Ohne das Schreckliche je auszusprechen, läßt er es langsam wie Gift in den Leser eindringen. Und auch in den Protagonisten, denn nach der Tat, am Ende der Geschichte, sitzt Sigelbaum wieder im Zug: Er ist wieder auf dem Weg nach Wirblbahn, doch nicht, um seine Jahresreise anzutreten. Sein Leben ist ausgebrannt, die beiden Stränge seines eisernen Pfades haben sich aufgelöst. Wirblbahn, der Ort seiner Wiedergeburt muß vernichtet werden, denn er kann mit sich als Mörder nicht zusammenleben und entwirft deshalb einen Amoklauf gegen die Welt, in der die Mörder zur Tagesordnung übergehen.

    Der Roman "Der eiserne Pfad", 1991 in Israel erschienen, erzählt mit scheinbar unbeteiligter Lakonie einen höchst dramatischen Stoff: Vom Trauma des Überlebens und vom Weltverlust. Längst hat sich Appelfeld, der in Israel über 30 Romane veröffentlicht hat, in die Annalen der Erinnerungsliteratur eingeschrieben. Doch anders als viele Erinnerungsromane sperren sich seine Werke gegen jede Mystifizierung. Die Tragik wird entrückt, die sprachlichen Mittel suggerieren Normalität und zwar gerade in jenen Momenten, da es um die äußerste Verlassenheit des Helden geht. Es ist eine besondere Leistung der Übersetzung, diese fiktive Normalität zu vermitteln, ohne dem Tragischen irgendetwas von seinem Schrecken genommen zu haben.