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Der Erbfeind alles Lebendigen

Mit 91 Jahren ist am 6. Juli der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger Claude Simon gestorben. Das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit als einem Feind alles Lebendigen stand oft im Mittelpunkt seines Romanwerks, wie etwa in seinem frühen Roman "Das Gras" von 1958, der jetzt in einer neuer Übersetzung erschienen ist.

Von Gabriele Killert | 11.07.2005
    Ein weißes Haus auf einem Hügel in einem kleinen Ort am Fuß der Pyrenäen. Es ist Spätsommer. Hinter dem Fenster mit den geschlossenen Läden liegt die alte Marie im Sterben. Die wächserne Hand streicht ruhelos über das Laken, ihr "ungeheures Röcheln" dringt bis in den letzten Winkel. Unten im Garten trifft Louise, die mit Maries Neffen Georges verheiratet ist, ihren Liebhaber, der sie beschwichtigt:

    "-Aber sie steht dir doch nicht nahe.
    - Nein, sagt Louise.
    -Sie steht dir doch nicht nahe.
    -Nein, wiederholte sie gehorsam. Aber sie betrachtete weiter etwas vor ihr, was er nicht sehen konnte."
    Mit diesem "Aber", diesem "Nein", dieser doppelten Absage an Nähe und Anteilnahme wird gleich in der ersten Szene des Romans "Das Gras" das Skandalon überdeutlich benannt, das Claude Simons Schreiben, ja vielleicht jedes literarische Schreiben im Innersten an- und umtreibt: die universelle Gleichgültigkeit, die im Getriebe des Lebendigen triumphierende Impassibilité des Todes.

    " Durch die Bäume hindurch konnte man das Haus oben auf dem Hügel sehen und, zur Linken, das Fenster mit den geschlossenen Läden, hinter dem die alte Frau im Sterben lag, ... beflissen auf das Sterben konzentriert (einsam, hochmütig und schrecklich), im Halbdunkel des Zimmers, in dem das stiebende Licht des Sommers nur durch die Ritze zwischen den beiden geschlossenen Fensterläden drang: ein T..: wie die Initiale des Wortes Temps (Zeit) schlechthin, ein ungreifbarer, eigensinniger Buchstabe, der in dem moribunden Geruch dahin kroch ..."

    Darum geht es in Simons Romanwerk und ganz besonders in diesem frühen Roman von 1958: das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit, diesem "Erbfeind" alles Lebendigen. Das kurze Aufleuchten einer weißen, einsamen Fassade und das Schattentheater, das ein Ensemble von Figuren dahinter aufführt. Ihre rätselhaften Gesten und Handlungen und das "enorme Missverhältnis" zwischen diesen Gesten, Worten, Handlungen und der Unermesslichkeit, in der sie wieder versinken.

    Immer wieder wird Louise in den zehn Tagen, die Maries Sterben dauert, vor diesem ungeheuren Röcheln davonlaufen in den Garten zu ihrem Liebhaber, mit dem es auch keine Zukunft, keinen Ausweg aus ihrer unglücklichen Ehe gibt. Immer wieder wird sie sich sagen: "Es ist doch nur eine sterbende alte Frau, sonst nichts", während das Gras sich matt an ihren nackten Beinen wiegt. Das Sterben dieser herzensguten Alten, die wie Flauberts Magd Félicité in der Erzählung "Ein schlichtes Gemüt" ein gänzlich selbstloses, aufopferungsvolles Leben geführt hat, lässt sie nicht los. Vielleicht, weil ihr eigenes schon begonnen hat. Weil sie selbst schon dem Portrait sitzt, "der mit der Sensenspitze malt", um eine der überraschenden Wendungen bei Botho Strauß zu zitieren. Dem Tod Portrait sitzen, das träfe auch auf Pièrre zu, den 15 Jahre jüngeren Bruder Maries, dem sie unter Verzicht auf eigenes Glück ein Studium und eine Professorenkarriere ermöglicht hat. Ein früh gealterter, in seiner ungeheuren Fettleibigkeit kaum noch manövrierfähiger Mann, der seine theatralische Frau mit stiller Verdrossenheit erträgt. Diese grell geschminkte, mit Schmuck behangene und dem phantastischen Erfindungsreichtum unbefriedigter Ehefrauen gesegnete alternde Tragödin und Trinkerin macht ihm immer noch Eifersuchtsszenen wegen 40 Jahre zurückliegender eingebildeter Seitensprünge. Bei der Planung von Maries Beerdigung treibt sie vor allem die Sorge um, ob noch genügend Platz für ihre eigenen Gebeine im Familiengrab übrig bleiben wird. Die beiden sind- wie fensterlose Monaden- völlig verkapselt in ihrer gemeinsamen Trostlosigkeit, in der Parodie der Parodie einer abgelebten Ehe. Über Stunden ziehen sich diese absurden Streit-Duette hin, für die Simon bis zu dreißig Seiten investiert. Durch die Wand hinter dem Spiegel, in dem sie ihr verheultes Gesicht sieht, hört Louise das alles mit. Später, heißt es, wird sie sich erinnern an diese Tage und Nächte, den schwülen Verwesungsgeruch des Sommers, an diese feilschenden Stimmen - darunter ihre eigene-, die "wie von weit her aus Raum und Zeit" zu kommen scheinen, -ein mythisches Puppentheater in diesem Haus mit dem Tod als major domus. Sie wird sich erinnern an die traurige Mechanik ihrer Beziehungen, choreographiert in dem Auf und Ab des Suppelöffelns, in den abbrechenden Dialogen am Mittagstisch, weil es nichts zu sagen gibt, weil alles ist wie es ist und immer schon war und so weitergehen wird, ungerührt.

    Auch sonst in der Welt draußen geht, während die alte Frau stirbt, alles ungerührt seinen Gang. Da ist die Katze auf der Mauer, die ihren "scharfen gelben Blick" wie mit Krallen auf Louise heftet. Da sind die Bäume,

    "die Tausende unablässig schaukelnder Blättchen, die sich nicht darum scheren, die schwach sich wiegenden Zweige, die Wolken, die sich nicht darum scheren, das stete Summen der umherwirbelnden Insekten, die sich nicht darum scheren, die verflochtenen Stengel der wilden Sonnenblumen, das wilde Gras, die an ihren nackten Beinen leckenden Zungen des Grases"

    Und da ist, und das ist ja auch gemeint- ein trostlos leerer, gottverlassener Himmel, der sich nicht darum schert. Was wird bleiben von Marie, dieser schönen Seele, wenn sie bald unter diesem emblematischen Gras ihre Ruhe findet? Ein paar Fotos, ein paar löchrige, allmählich verblassende Erinnerungen Louises und eine Blechdose mit ein paar jämmerlichen Habseligkeiten, die Marie ihr vermacht hat: altmodische Schuhschnallen, Kettchen, Sicherheitsnadeln, Stopfgarn und anderer Krimskrams, und sechs peinlich in Schönschrift geführte Notizbüchlein über alltägliche Vorkommnisse, Rechnungen, die Einnahmen und Ausgaben über die Jahre. Und erinnern wird sich Louise noch später an ihr Erstaunen beim Durchblättern dieser Notizbücher, welch ungeheuren Aufwands an Energie es bedarf, um - wie es heißt - "einen Leichnam zustande zu bringen".

    "... die Seiten, die Kolonnen der Zahlen und Nachweise tauchten auf, erhoben sich.. zu einer Art geduldigen, Stein für Stein errichteten Grabmal, als gestatteten irgendwelche gesetzlichen Bestimmungen unseren müden Knochen erst dann, sich endlich auszustrecken und wieder zu dem ursprünglichen Staub zu werden, nachdem sie diese Art von sagenhaftem Mausoleum aus Zeit errichtet hätten, über etwas Asche sich auftürmender Zeit: Asche, Nichts und darüber eine Anhäufung der Leere."

    Man hat Claude Simon immer wieder mit Proust verglichen, wegen der ähnlich akribischen Filigranarbeit, der hohen "Auflösung" seines Erzählens. Aber Prousts Erzählen hat eine andere Psyche, eine hellere Grundgestimmtheit. Simons Weltbild ist nachgerade finster. Wenn es bei Proust um den Reichtum, um die Fülle, die wieder gewonnene Illusion des Glücks geht, zelebriert Simon geradezu manisch die Fülle des Todes, des "désastre final". Er kommt von den großen Desillusionisten her, - Flaubert, Maupassant- und steigert deren "Impassibilité" noch um einige Kältegrade. Eine stupende Kunstanstrengung: dieses nornenhaft webende mimetische Erzählen. Diese über 200 Seiten schwingende ausgeklügelte Komposition mit ihren komplizierten, gegen den permanenten Verfall und Verlust von Gegenwart protestierenden, sich auftürmenden Satzarchitekturen. Dies alles: Haus, Garten, Gerüche, die flüchtigen Schatten, die winzigen unbedeutenden Handlungen, sich wiederholenden Rapports unverständlicher Muster und Zeichen und ihr Versinken in Raum und Zeit zu übertragen, getreu abzubilden in einem fein gewebten Gobelin aus Worten: eine Herkulesarbeit, auch für die Übersetzerin Eva Moldenhauer, deren Anstrengung man nur bewundern kann.