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Der erste dänische Großstadtroman

"Ein Titel muss kein Küchenzettel sein", schrieb Lessing in seiner "Hamburgischen Dramaturgie". Ein Titel, der nur aus einem einsilbigen Wort besteht, dürfte wahrlich kein Küchenzettel sein, und doch verrät der Titel unseres Romans praktisch alles von dessen Inhalt. Er lautet "Stuck", und Stuck ist zwar schön - was gar nicht zu verachten ist -, aber eben doch nur eine Dekoration aus Gips, bekannt von Zimmerdecken und Fassaden. Besonders beliebt war der Stuck in Gründerzeiten, das war in Deutschland nicht anders als in Dänemark.

Von Peter Urban-Halle | 24.05.2006
    Der Däne Herman Bang ist nicht unwesentlich schuld daran, dass der arme Stuck so einen sprichwörtlich schlechten Ruf hat, den hat er nämlich erst seit Bangs gleichnamigem Roman, darin wurde der Stuck zum Inbegriff verlogenen Plunders. Dabei hätte der homosexuelle dänische Dandy, der sich stets in eine Wolke aus schwerem Patschuli hüllte und nach dem letzten Schrei gekleidet war, all der Pracht und Draperie doch eine gewisse Wertschätzung entgegenbringen müssen. Hat er auch, nur bei ihm war die Dekoration sozusagen echt, und außerdem machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube, wie man so sagt. - Und zwar im Gegensatz zu den Figuren seines Romans.

    Die Menschen Bangs scheinen immer aneinander vorbeizusprechen. Eine furchtbare Aura der Einsamkeit umgibt sie alle ...

    ... schrieb Klaus Mann, der die Verehrung für den dänischen Dichter von seinem Vater Thomas übernommen hatte. "Stuck" handelt in erster Linie vom Verschweigen, von der Unmöglichkeit, etwas auszusprechen. Der Held des Romans, der Journalist Herluf Berg, dessen Initialen nicht von ungefähr mit denen Herman Bangs übereinstimmen, schafft es zum Beispiel nie, der jungen Asta seine Liebe zu gestehen. Obwohl ständig geplaudert, geschwatzt und getuschelt wird, über Mode, Geschäfte und die neuesten Schlagzeilen - ein tiefschürfendes Gespräch kommt nie zustande. Ernsthaftigkeit oder Würde blitzt nur hier und da auf, eher unabsichtlich. Herluf erinnert sich an eine Szene mit einer Tante, die offenbar in seinen Vater verliebt war, man merkt das, wie sie dessen Bild anschaut und von ihm spricht und sich der Erinnerung hingibt, und dann essen sie zusammen, sie hat einen Riesenappetit, und schließlich heißt es:

    Die Tante begann, die Dinge aus der Speisekammer wieder wegzuräumen: "Ja", sagte sie und starrte in die Luft. "Das war damals." Und sie versank in Gedanken, während sie den Butterkrug zudeckte.

    Muss man den Symbolgehalt dieser Aussage noch erklären? Und sowenig wie über private Beziehungen kann man über politische Gegebenheiten sprechen. Historische Grundvoraussetzung von "Stuck" ist die traumatische Niederlage der Dänen gegen die preußisch-österreichischen Truppen 1864. Herluf Berg stammt wie Bang von der Insel Alsen, die die Deutschen nach der Erstürmung der Düppeler Schanzen besetzen. In einem ausführlichen, etwas gewalttätig hineinmontierten Rückblick wird an Herlufs idyllische Kindheit in der Oberförsterei der Insel Alsen erinnert, die in großen Zügen Herman Bangs eigener Kindheit nachgezeichnet ist.

    Die Niederlage von 1864 ist in "Stuck" zwar ständig präsent, aber man spricht sie nicht aus, ebensowenig wie die Liebe, man verdrängt sie durch einen wilden Aktionismus, Dänemarks Gründerzeit beruht - im Gegensatz zur deutschen - auf einer Niederlage, sie ist der reine Stuck. Berg, als Journalist nicht mehr ganz so gefragt, wird dann Kodirektor einer neuen Boulevardbühne, die nun ausgerechnet Victoria-Theater heißt. Beim Bau zeigt ihm der Architekt eine Reihe von Gipsstücken, es sind tanzende Putten für die Logenbrüstungen.

    "Was glauben sie, was das ist?" sagte er. ( ... ) Er hielt Berg die Kehrseite des Gipsstücks hin: Das dralle Knäblein war dünnste Pappe.
    "Verflixt, wie raffiniert", sagte Berg und amüsierte sich.


    Selbst die Siegesgöttin im Foyer sieht nur so aus, als wäre sie aus reinster Bronze, das allerdings "verdammt echt". So ist es mit allem. Es sieht nur so aus. Alles ist nur billiges Blendwerk für sich selbst betrügende Bürger.

    Bang ist ein Dichter der Stimmungen, weniger der Charaktere. Er gilt als Impressionist, weil er nicht episch und analytisch wie die Franzosen schreibt, sondern szenisch, als Autor tritt er hinter seine Figuren zurück, als wollte er mit seiner Schöpfung nichts mehr zu tun haben, die Figuren reden drauflos, ohne groß nachzudenken, und befinden sich dabei in voneinander unabhängigen "Augenblicksbildern", wie es der Übersetzer Aldo Keel in seinem Nachwort nennt. "Stuck" ist eigentlich mehr ein kritisch-realistischer Roman, ungemein hektisch und atemlos, unvermittelt wird von Idee zu Idee, von Person zu Person gesprungen, Höhepunkt der Nervosität ist der nahezu "große hysterische Anfall" der Primadonna bei der Festvorstellung für den skandinavischen Ärztekongress, der gerade in Kopenhagen tagt.

    Dann hatte sie ihr Haar gelöst, das lange, rote Haar, und ihre Brust entblößt und die Spitzen von ihren Ärmeln gerissen. "Das Gold, das Gold", schrie sie. "Hier!", und riß die Türe auf.

    Die Hysterie steckt an, der Beifall wird zur Raserei. Wie die Menschen, so die Stadt: "Stuck", 1887 erschienen, ist der erste dänische Großstadtroman, Kopenhagen wächst wie im Rausch, Ruhm und Reichtum locken und werden erlangt - und dann wieder verloren, denn wo es einen Boom gibt, lassen die Betrüger nicht lange auf sich warten, am Ende fällt alles in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Die dänische Kapitale, kurz zuvor noch als Weltstadt bejubelt, muss ausgerechnet von einem Deutschen das Endurteil entgegennehmen: Kopenhagen sei nichts anderes als eine "leere Blase", sagt der enttäuschte und wütende Investor Herr Theodor Franz. - Die Stadt und ihre Bürger haben dem exzentrischen Bang teilweise übel mitgespielt. Mit seinem Roman "Stuck" hat er es ihnen doppelt und dreifach heimgezahlt.

    Herman Bang: Stuck
    Manesse Verlag, Zürich