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Der erste Popstar der Musikgeschichte

Franz Liszt, der Superstar: Wo immer der Pianist auftrat, brach eine wahre "Lisztomanie" aus, sagte Heinrich Heine einst. Doch das war nur die eine, bis heute populäre Seite seiner Kunst. Die andere war die eines Visionärs und Wegbereiters der Moderne, der immer noch auf Anerkennung wartet.

Von Michael Stegemann | 22.10.2011
    "Das versteht ihr alle nicht!"

    Die Worte, mit denen Hans von Bülow das Kopfthema des ersten Klavierkonzerts seines Lehrers Franz Liszt kommentiert hat, klingen bis heute nach wie ein Schlachtruf: Franz Liszt, eine der bedeutendsten Musiker-Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, ist noch immer ein Unverstandener.

    Sicher, Liszt ist weltberühmt. Geboren am 22. Oktober 1811 im burgenländischen Dorf Raiding, startete er von Wien und Paris aus eine beispiellose Karriere als der vielleicht größte Pianist, den es je gegeben hat - der erste "Popstar" der Musikgeschichte, Hyper-Virtuose und Salonlöwe, Frauenschwarm und Erotomane, Komponist wahrhaft "teuflischer" Klaviermusik ...

    Nach seiner Pianistenkarriere war Liszt zehn Jahre lang großherzoglicher Kapellmeister in Weimar und Begründer einer "Zukunftsmusik", über deren Wert oder Unwert es mit Kollegen wie Robert Schumann oder Johannes Brahms zu einem regelrechten "Romantiker-Krieg" kam. Ab 1861 lebte Liszt in Rom, nahm die niederen Weihen eines weltgeistlichen Abbés und wurde als Lehrer von mehr als 400 Schülern (in Weimar und Budapest) zum Wegbereiter des modernen Klavierspiels. Als er am 31. Juli 1886 mit 74 Jahren in Bayreuth starb, hatte seine Tochter Cosima - die Witwe Richard Wagners - vor allem Angst, der Tod des Vaters könnte den reibungslosen Ablauf der Festspiele stören.

    Bis heute gehören Werke wie die zweite Ungarische Rhapsodie oder der dritte Liebestraum zu den "Greatest Hits" der klassischen Musik. Aber das ist nur die eine Seite - die andere klingt so:

    Die Kreuzweg-Kantate Via crucis - Musik von einer solchen Radikalität, dass man eher an Arvo Pärt denken würde als an Franz Liszt.

    Von den rund 800 Werken Liszts werden heute kaum ein, zwei Dutzend noch gespielt. Ganze Gattungen (wie die Lieder oder die Kirchenmusik) scheinen aus dem Musikleben verschwunden - und mit ihnen das Bewusstsein, was die Musik des 20. Jahrhunderts Liszt zu verdanken hat. Vor 100 Jahren wussten das die Komponisten noch, zum Beispiel Arnold Schönberg:

    "Wir sind alle seine Schüler."

    Oder Ferruccio Busoni:

    "Im letzten Grunde stammen wir alle von ihm Wagner nicht ausgenommen."

    Oder Béla Bartók:

    "Die Bedeutung Liszts für die Weiterentwicklung der Musik ist größer als die Wagners."

    Ganztonleitern, Dreiklangs-Rückungen, Quarten-Akkorde und leere Quinten, unaufgelöste Dissonanzen, Tritonus-Folgen und cluster-artige Akkord-Ballungen: Tatsächlich ist Liszt nicht erst in seinen späten Werken zu Klangwelten vorgedrungen, die ihrer Zeit um wenigstens ein halbes Jahrhundert voraus waren. Dieser Franz Liszt also – der Visionär und Wegbereiter der Moderne – ist immer noch unverstanden, und vor allem unbekannt. Um den anderen braucht man sich keine Sorgen zu machen, so lange es Pianistinnen und Pianisten gibt - auch wenn nicht jeder, der ihn spielt, ein Vladimir Horowitz ist.