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Der Erste Weltkrieg
Rückblick auf ein "Feld politischen Lernens"

Seinen Beinamen "Der große Krieg" trägt der Erste Weltkrieg zu Recht: Fast 70 Millionen Soldaten aus mehr als drei Dutzend Ländern waren beteiligt. Heute gilt er als Werkstatt aller Technologien, Strategien und Ideologien. Zwei Neuerscheinungen widmen sich unterschiedlichen Perspektiven.

Von Martin Hubert | 09.12.2013
    Ist das ein Lehrstück? Am 28. Juni 1914 ermorden Separatisten im serbischen Sarajewo den österreichischen Thronfolger. Einige Tage später erteilt das Deutsche Reich Österreich-Ungarn die berühmte "Blankovollmacht": Man garantiert bedingungslose Unterstützung bei kriegerischen Reaktionen. Gut vier Wochen später beginnt der Erste Weltkrieg mit den zentralen Akteuren Deutschland, Habsburgisches und Osmanisches Reich, England, Frankreich, Russland und schließlich den USA. Im kommenden Jahr jährt sich der Kriegsbeginn zum hundertsten Mal, also ist es Pflicht, an diese Fakten zu erinnern. Ist es aber mehr als nur eine historische Pflicht? Der renommierte Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler bejaht das in seinem Buch "Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918" entschieden.
    "Viele der Herausforderungen, die vor und nach 1914 das Handeln der Politiker und die Erwartungen der Bürger bestimmt haben, sind zwischenzeitlich zurückgekehrt und bestimmen auf die eine oder andere Weise erneut die europäische wie die globale Politik. Der Krieg von 1914 bis 1918 ist als Feld politischen Lernens wieder interessant geworden."
    Und zwar deshalb, so Münkler, weil der Erste Weltkrieg eine Werkstatt aller Technologien, Strategien und Ideologien gewesen sei, die bis heute nachwirken: durchgeplante Kriegsführung, propagandistische Mobilmachung, übersteigerter Nationalismus und imperiales Machtstreben. Auf mehr als 800 Seiten präsentiert er dem Leser daher eine beeindruckende Gesamtdarstellung des Krieges, die mit zahlreichen Abbildungen versehen ist.
    Ein großer Anteil der Intellektuellen
    Münkler beschreibt detailliert die militärischen Strategien an der West- und Ostfront und die taktischen Fehleinschätzungen quer durch alle Lager. Er schildert den Einsatz neuer Waffentechniken vom MG über das U-Boot bis zum Giftgas mit seinen grausamen Folgen. Und er beleuchtet die soziale Lage in den Kriegsländern sowie die politischen Auseinandersetzungen um Krieg oder Frieden.
    Dabei zeigt er, wie entscheidend die Intellektuellen zur Eskalation auf beiden Seiten beitrugen. Sie propagierten den Krieg als nationales oder völkisches Erweckungserlebnis oder als Befreiung aus einem Zeitalter des Materialismus und Niedergangs. Wobei Münkler vor allem die über Deutschland kursierende Ansicht korrigiert, das ganze Volk sei ungeteilt vom Kriegsrausch erfasst gewesen.
    "Zunächst ist festzuhalten, dass patriotisch aufgewallte Massen nicht nur in Berlin, München oder Wien, sondern ebenso in Paris, London und St. Petersburg zu beobachten waren. Doch ebenso wie in Mitteleuropa blieben die Umzüge und Versammlungen von Kriegsbegeisterten auch in den Ländern der Alliierten im Wesentlichen auf die Hauptstädte beschränkt und wurden überwiegend von den bürgerlichen Mittelschichten getragen. Das bestätigt die These, wonach der Erste Weltkrieg, zumindest in seiner Anfangsphase, ein Krieg der bürgerlichen Mittelschichten gewesen ist."
    Britische Kriegsschiffe 1916 vor dem Zusammentreffen mit der deutschen Flotte am Skagerrak.
    Britische Kriegsschiffe 1916 vor dem Zusammentreffen mit der deutschen Flotte am Skagerrak. (AP Archiv)
    Was löste den Krieg aus?
    Wer aber war wirklich Schuld am Ausbruch des Krieges? Münkler entwirft ein komplexes Bild sich wechselseitig verstärkender Faktoren. Insofern schließt er sich neueren Deutungsmustern an, welche die Alleinschuld Deutschlands relativieren ohne die besondere Verantwortung des Deutschen Reiches zu leugnen.
    "Der politischen und militärischen Führung Deutschlands sind zweifellos eine Reihe von Fehlurteilen und Fehleinschätzungen unterlaufen, aus denen dann Führungsfehler erwachsen sind, die zunächst in den Krieg und dann in die Niederlage geführt haben. Das beginnt beim Aufbau der deutschen Kriegsflotte und der ihr zugedachten weltpolitischen Aufgabe, geht weiter über den vermeintlich genialen Plan des Generals von Schlieffen, das Problem eines möglichen Zweifrontenkrieges zu lösen, und reicht bis zu dem verhängnisvollen Entschluss zu einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der die Mittelmächte endgültig auf die Verliererstraße brachte."
    Insgesamt, so Münkler, hätten sich ständig verstärkende Ängste zum Ersten Weltkrieg geführt, das Sarajewo-Attentat sei nur der entscheidende Anlass gewesen. Besonders das ökonomisch aufstrebende Deutschland hatte schon vor 1914 durch den Kriegsflottenbau Expansionsängste bei seinen europäischen Nachbarn geschürt. Die Briten verbündeten sich daher mit Frankreich und Russland gegen die Mittelmächte Deutschland und Habsburg. Umgekehrt fühlten diese sich eingekreist und speziell Deutschland fürchtete eine militärische Übermacht Russlands.
    Münklers Buch überzeugt vor allem durch die Art und Weise, in der es die Beschleunigungseffekte im damaligen Weltgeschehen herausarbeitet. So schildert es, wie die jeweiligen Maßnahmen rasch zu immer neuen Zwangslagen führten. Ingesamt führt Münkler nachdrücklich vor, wie ein Krieg, den keine Partei bewusst als Weltkrieg angestrebt hatte, seine eigene Logik entfaltet. Wenn das Militär nicht eindeutig kontrolliert wird, nationale Ideologien und Expansionsgelüste existieren und Misstrauen zwischen den Mächten besteht, ist eine solche Katastrophe programmiert. Man könnte bereits das als Lehrstück bezeichnen. Münkler stellt aber auch direkte Bezüge zur Gegenwart her. Zentrale Konstellationen des Ersten Weltkriegs würden sich heute wiederholen. Etwa der Zerfall alter Ordnungsstrukturen in Europa, was zu schweren Konflikten führen könne.
    "Die Betrachtung der EU nach dem Modell der Imperimsanalyse lässt die konfliktmindernde Wirkung der auf gegenseitige Toleranz zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen dieses Raums ausgelegte Politik der einstigen Großreiche deutlich werden. Ihr Zerfall vor und während des Ersten Weltkriegs gibt doch den einen oder anderen Fingerzeig, mit welchen Problemen und Herausforderungen die EU in diesem Raum in Zukunft zu rechnen hat; es gibt politische und kulturelle Eliten, die das Handeln der Brüsseler Kommission als das eines ausbeuterischen und unterdrückenden Imperiums darstellen und darüber den politischen Sprengstoff anhäufen, der 1914 entscheidend zur Katastrophe beigetragen hat."
    Über diese Interpretation lässt sich sicherlich streiten. Aber Münklers aktuellen Bezüge machen auf jeden Fall nachdenklich. Sein zwar nicht immer flüssig, aber verständlich geschriebenes Buch bringt dem Leser den Ersten Weltkrieg damit jedenfalls als modellhaftes politisches Geschehen nahe, das mehr als nur historische Aufmerksamkeit verdient. Wobei Münkler eher die großen Strategien und Zusammenhänge beleuchtet, die persönliche und individuelle Seite des Krieges aber nur streift.
    Der Krieg aus britischer Sicht
    Ganz anders handhabt das der amerikanische Journalist Adam Hochschild in seinem Buch "Der Große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg". Der Untertitel ist allerdings irreführend. Er sollte eher lauten "Der Niedergang des britischen Empire im Verlauf des Ersten Weltkriegs." Hochschild selbst schreibt:
    "Gewöhnlich wird ein Krieg als ein Duell zweier Seiten beschrieben. Ich habe stattdessen versucht, ihn durch die Kämpfe innerhalb eines Staates, innerhalb Großbritanniens zu begreifen."
    Hochschild hat zahlreiche Biografien britischer Sozialisten, Suffragetten, Generäle und einfacher Soldaten ausgewertet. Das Produkt liest sich fast wie ein historischer Roman, der einzelne Schicksale mit geschichtlichen Fakten verbindet. Hochschild geht die Kriegsjahre chronologisch durch, achtet dabei aber nicht auf historische Vollständigkeit. Wichtiger ist ihm, nachzuzeichnen, wie in Großbritannien manchmal quer durch die Familien Pazifisten und Bellizisten um Krieg und Frieden rangen. Ausführlich stellt er auch den Krieg des britischen Empire gegen die Buren vor 1914 dar, um zu zeigen, wie bereits hier humanistische und aggressiv-imperialistische Kräfte aufeinanderstießen. Hochschilds Verdienst liegt vor allem darin, den britischen Kriegsgegnern ein Denkmal zu setzen, ohne dabei unkritisch zu sein. Und zu zeigen, wie der Krieg immer wieder unbeabsichtigte, aber folgenreiche Nebenwirkungen hervorbringt. Etwa am Beispiel des britischen Staatsmanns Sir Alfred Milner.
    "Paradoxerweise machte der Krieg, an dessen siegreicher Beendigung Milner wesentlichen Anteil hatte, einer anderen seiner Illusionen ein Ende, dem Traum von einem "Bund britischer Nationen" mit einem gemeinsamen Parlament und Kabinett. Als er diese Idee während des Kriegs bei einem Treffen vorgetragen hatte, war sie mit einem peinlichen Mangel an Begeisterung aufgenommen worden. Das entsetzliche Blutvergießen des Kriegs erwies sich als überraschend ausschlaggebend für die kanadischen und australischen Bestrebungen, ihre nationalen Identitäten scharf gegen die Großbritanniens abzugrenzen. In beiden Ländern galten die bittersten und traurigsten Kriegserinnerungen den Zehntausenden Landsleuten, die von unfähigen britischen Generälen geopfert wurden."
    Herfried Münkler zeigt die innere Logik von Krieg und imperialer Machtpolitik, Adam Hochschild deren persönliche Kehrseite. Insofern liegen hier zwei Bücher vor, deren Bild des Ersten Weltkriegs sich bestens ergänzen.
    Herfried Münkler: "Der große Krieg. Die Welt 1914 -1918", bei Rowohlt verlegt, die 924 Seiten kosten 29,95 Euro.

    Adam Hochschild: "Der große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg", dieser Titel ist bei Klett-Cotta erschienen, füllt 525 Seiten und ist für 26,95 Euro zu erstehen.