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Der Fänger im Roggen

"Seine Tragik war die, daß, als er den Versuch unternahm, in die Gesellschaft der Menschen einzutreten, überhaupt keine menschliche Gesellschaft da war." Mit diesen Worten hat William Faulkner das Grundmotiv von Jerome D. Salingers Roman "Der Fänger im Roggen" umrissen, der das Unbehagen an der erstickenden Konformität des american way of life in einer nie da gewesenen Radikalität schilderte. Erzählt aus der Perspektive eines verkrachten College-Studenten, gelang Salinger ein Werk, unter dessen schnoddriger, von Jugendslang und drastischer Umgangssprache geprägter Idiomatik existentielle Abgründe gähnten. Der 1951 erschienene Roman ist längst ein Klassiker der amerikanischen Literatur und gelangte in den sechziger Jahren auch in Deutschland zu Kultstatus.

Klaus Modick | 13.06.2003
    Die erste Übersetzung, 1954 von Irene Muehlon angefertigt, wurde 1962 von Heinrich Böll überarbeitet und galt wegen der Autorität Bölls als sakrosankt. Da Umgangssprache und Jugendslang jedoch besonders schnellen Alterungsprozessen unterworfen sind, galt Bölls Übersetzung auch schon bald als hüftsteif, hausbacken und antiquiert. Vierzig Jahre später hat nun Eike Schönfeld den "Fänger im Roggen" neu übersetzt, sprachlich entrümpelt und behutsam modernisiert.

    Wo es im Original beispielsweise heißt, "that sort of scared me a little bit", wählte Böll ein fast soigniertes "das jagte mir einen leisen Schrecken ein"; Schönfeld setzt dafür: "das jagte mir nun doch ein bißchen Angst ein". "I was feeling pretty horny" übersetzte Böll bieder und umständlich mit "Es war mir ziemlich nach Weibern zumut", während Schönfeld knapp und treffend "Ich war ziemlich heiß" schreibt – "geil" statt "heiß" käme "horny" noch näher, aber beckmessern läßt sich an jeder Übersetzung. Eine der zentralen Passagen des Romans lautet: "It is so something really! Certainly it is! Why the hell isn’t it? People never think anything is anything really. I’m getting goddam sick of it." Bei Böll las sich das so: "Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das hab ich allmählich schon verdammt satt." Schönfelds geschmeidige Aktualisierung erlaubt sich eine gewisse Freiheit und kommt dem kolloquialen Ton des Originals dennoch näher: "Doch, das ist was Richtiges! Und ob das was Richtiges ist! Warum denn nicht, Mensch? Nie wird einem geglaubt, dass was was Richtiges ist. Das hab ich verflucht satt."

    Die Neuübersetzung ist gelungen; ob sie zeitgeistresistent ist, wird sich erweisen müssen. Abgesehen von schlichten Irrtümern können im Übrigen die Kategorien von Richtig und Falsch für Übersetzungen nicht gelten. Denn Übersetzungen sind nicht nur anderssprachige Versionen eines Originals, sondern auch dessen Interpretation und Kommentar. Der Kommentar ist aber immer an die sprachliche Zeitgenossenschaft des Übersetzers gebunden, und die Interpretation kann dazu führen, einen Text perspektivisch neu zu konstruieren. Bölls und Schönfelds Salinger-Übersetzungen führen das exemplarisch vor.

    Im Original nämlich läßt Salinger seinen Holden Caulfield einen imaginären Adressaten ansprechen, und zwar in Form des englischen "you", das fünf deutsche Möglichkeiten eröffnet: Erstens das allgemeine, unpersönliche "man", in Ansprache von Einzelpersonen zweitens das persönliche "du" und drittens das formelle "Sie", in Ansprache mehrerer Personen viertens das "ihr" und fünftens das "Sie".

    Indem Böll sich für das "Sie" entschied, ließ er offen, ob die Ansprache einer einzelnen Person oder sozusagen dem geneigten Publikum galt. Jedenfalls konstruierte dies "Sie" eine reizvolle Distanz zwischen Caulfields Erzählung und dem oder den Angesprochenen, die wegen der formellen Anrede vom Leser als Erwachsene zu denken sind. In dieser Variante spräche Caulfield also zu jener Generation, gegen die er rebelliert – der Roman wird gewissermaßen zu einem Legitiamtionsversuch seines Verhaltens gegenüber der Gesellschaft.

    Demgegenüber wählt Schönfeld den persönlichen Plural des "ihr". Caulfield spricht demnach zu einem Kreis von Vertrauten, zu seinesgleichen. So bekommt der Roman nun den Gestus eines intimen Verständigungstextes innerhalb einer bestimmten Generation.

    Beide Versionen haben ihre innere Logik und ihren Reiz und sind nicht gegeneinander auszuspielen, beide Versionen müssen die flexible Offenheit des englischen "you" zu strengerer Eindeutigkeit umstrukturieren. Wer sich als Leser durch diese unvermeidlichen Festlegungen gegängelt fühlt, dem kann geholfen werden – durch die Lektüre des Originals, dessen stilistische Kohärenz von keiner Übersetzung einzuholen ist.