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Der Fall Özgecan
Die Türkei diskutiert über Gewalt gegen Frauen

In der vergangenen Woche wurde eine 20-jährige Studentin von einem Minibusfahrer erst belästigt und dann brutal getötet. Seitdem berichten die Medien am Bosporus über weitere Fälle. Das Land ist zunehmend sensibilisiert für dieses Thema, das nach Ansicht vieler Beobachter seit Jahrzehnten in der Türkei unter den Teppich gekehrt wurde.

Von Luise Sammann | 24.02.2015
    Junge Frauen halten in Ankara Protest-Schilder mit Slogans und einem Foto der ermordeten Frau.
    Bei einer Demonstration in Ankara zeigt ein Plakat zeigt das Opfer Özgecan Aslan. (AFP / Adem Altan)
    Miniröcke über strammen Männerwaden, blonde Prinzessinenperücken und Lippenstift zum Vollbart. Nein, es war kein verspäteter Karnevalsumzug, was an diesem Wochenende in Istanbul stattfand. Es war bitterer Ernst: "Belästigung und Vergewaltigung müssen ein Ende haben. Zieht eure Röcke an und kommt nach Taksim!" hatte es in dem Aufruf zu der ungewöhnlichen Demonstration geheißen.
    Und nicht nur in Istanbul. Auch in Ankara und Diyarbakir, in Izmir und in Bursa gingen Türken gegen Gewalt an Frauen auf die Straße. 15.000 versammelten sich allein im westtürkischen Mersin - der Stadt, in der vergangene Woche die 20-jährige Studentin Özgecan von einem Minibusfahrer zuerst belästigt und dann brutal getötet worden war.
    "Ob aus Eifersucht oder aus Liebe oder manchmal einfach nur, weil das Essen nicht salzig genug ist. All das sind in der Türkei Gründe, eine Frau zu töten", empörte sich eine Demonstrantin. "Jeden Tag sterben in diesem Land Frauen wie Vögel. Wie können wir da weiter schweigen?"
    Hashtag #sendeanlat
    Der Mord an Özgecan hat die Türkei aufgeweckt. Mehr als 800.000 Nachrichten erschienen seit ihrem Tod unter dem Hashtag #sendeanlat - (erzähl auch du!) bei Twitter, wo aufgebrachte Türkinnen nun von ihren eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt berichten - egal ob in der Familie, am Arbeitsplatz oder im vollgestopften Linienbus. "Die Wut ist explodiert" betitelte die Tageszeitung "Cumhuriyet" den Aufschrei treffend. Denn bisher galt:
    "Gewalt zu erfahren, ist keine Schande. Wohl aber, darüber zu sprechen", meint Ilke Gökdemir von der Initiative Mor Cati, die seit 15 Jahren das erste private Frauenhaus der Türkei betreibt.
    Schuld an Özgecans Tod ist für Aktivistinnen wie sie vor allem eine gesellschaftlich Stimmung, in der Gewalt gegen Frauen noch immer als Kavaliersdelikt gilt. Ein Umfeld, in dem Täter mit Straffmilderung rechnen können, wenn sie später angeben, das Opfer hätte nun mal einen Minirock getragen oder heimlich gelächelt.
    "Wir kennen viele Fälle, in denen Frauen einfach nach Hause geschickt wurden, als sie Anzeige erstatten wollten. Die Polizisten sagten: Diese Dinge passieren eben, mein Töchterchen. Dein Mann liebt dich - und er schlägt dich. Oder Beamte versuchen, um jeden Preis Frieden zu stiften. Denn gerade die Einheit der Familie ist hier absolut heilig. Sie ist viel wichtiger als das Leid einer über Jahre geschlagenen Frau."
    281 türkische Frauen wurden nach Medienangaben im Jahr 2014 umgebracht. Fast 70 mehr als im Jahr zuvor. Nicht die Mordzahlen stiegen, sondern nur die Aufmerksamkeit, rechtfertigt die regierende AK-Partei den Trend. Bei Frauenleichen werde heute genauer hingeschaut, Statistiken seien detaillierter als früher. Doch vor allem Vertreter von Frauenverbänden widersprechen. Für sie tragen konservative Politiker wie Präsident Erdogan gar eine Mitschuld an der Situation.
    "Solange er öffentlich Dinge sagt, wie 'Frauen und Männer sind nicht gleich, dass widerspricht der Natur.' Solange die AKP-Regierung Paare ermutigt, so früh wie möglich zu heiraten. Und solange die Frau weiter ausschließlich als heilige Mutterfigur dargestellt wird, wird sich diese Gewalt nicht stoppen lassen", glaubt Canan Arin, eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen des Landes.
    Rechtliche Stellung türkischer Frauen
    Und so sind es auch keine neuen Gesetze, die die Menschen in diesen Tagen fordern, wenn sie mit dem Bild der ermordeten Özgecan durch die Straßen ziehen. Die rechtliche Stellung türkischer Frauen hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert. Der Strafnachlass bei sogenannten Ehrenmorden wurde gestrichen, endlich werden sexuelle Übergriffe als Verbrechen gegen Einzelpersonen - und nicht mehr als Angriff auf "Familie, Gesellschaft und Tradition" gewertet. Und endlich wurde auch die Regelung abgeschafft, nach der Vergewaltiger straffrei davonkamen, wenn sie ihr Opfer nach der Tat heirateten. Doch während sich die Paragrafen geändert haben, ist die Mentalität oft die gleiche geblieben. Erst im vergangenen Dezember forderte der damalige Vizepremier Arinc: Fauen sollten in der Öffentlichkeit bitteschön nicht lächeln.
    Dass Präsident Erdogan und Premier Davutoglu den Mord an Özgecan nun ungewöhnlich scharf verurteilten, kann Frauenaktivistin Arin deswegen nicht beeindrucken:
    "Für mich wirkt das, als würden da bloß Krokodilstränen vergossen. Die Gewalt gegen Frauen in der Türkei wird nicht aufhören, solange der Regierung der politische Wille fehlt, auf diesem Gebiet wirklich etwas zu verändern."