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Der feinsinnige Kosmopolit

Als der Kunstmäzen, Publizist, Verleger und Diplomat Harry Graf Kessler 1937 im Exil in Frankreich starb, war er einsam, mittellos und fast vergessen. Seit einigen Jahren wird er wiederentdeckt. Auf die umfangreiche Kessler-Biografie des amerikanischen Historikers Laird Easton lässt nun der Berliner Literaturwissenschaftler Friedrich Rothe ein elegant geschriebenes Porträt folgen. Volker Ullrich stellt es vor.

31.03.2008
    Anders als das Werk Laird Eastons ist Friedrich Rothes Biographie nicht auf Vollständigkeit angelegt. Rothe geht es vor allem darum, die intellektuelle Entwicklung Kesslers nachzuzeichnen und sein Engagement für die moderne Kunst zu würdigen. Der Politiker und Diplomat Kessler tritt demgegenüber in den Hintergrund.

    Rothe zeigt: Schon von seiner ganzen Herkunft und Prägung her war Kessler ein Kind des "alten Europa" vor 1914. Sein Stammbaum weist väterlicherseits in die Schweiz, zum Reformator Johannes Kessler, die mütterliche Linie führt zurück auf ein altes irisches Adelsgeschlecht. Der Vater Adolf Kessler hatte es als Bankier zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. 1881 wurde er von Kaiser Wilhelm I. in den Adelsstand erhoben. Die Mutter Alice war eine umschwärmte Schönheit der Belle Époque. Der einzige, 1868 in Paris geborene Sohn Harry verbrachte seine Schulzeit im Internat St. George’s in Ascot und auf dem altehrwürdigen Johanneum in Hamburg. Nach dem Abitur 1888 entschloss er sich zu einem Jurastudium, zunächst in Bonn, dann in Leipzig, das er bereits 1891 mit Staatsexamen und Promotion beendete.

    Ein eigenes langes Kapitel widmet Rothe der Weltreise, zu der Kessler, einer Tradition junger Leute aus vornehmem Hause folgend, im Jahre 1892 aufbrach. Sie führte ihn über die Vereinigten Staaten, Japan und Indien bis nach Ägypten. In das anschließende militärische Dienstjahr bei den Garde-Ulanen in Potsdam fiel ein einschneidendes Erlebnis: Kessler verliebte sich heftig in Otto von Dungern, einen 19-jährigen Kadetten - die erste seiner Männeraffären. Kessler selbst hat sie mit äußerster Diskretion behandelt.

    Auch in seinen Tagebüchern finden sich darüber nicht mehr als Andeutungen - kein Wunder, denn in der wilhelminischen Gesellschaft war Homosexualität ein Tabu, das, wenn es verletzt wurde, zur gesellschaftlichen Ächtung führen konnte, wie der Skandal um den Vertrauten Wilhelms II., Philipp Graf zu Eulenburg, im Jahr 1907 zeigte. Friedrich Rothe spart das Thema nicht aus, ohne allerdings Schlüssellochphantasien zu bedienen.

    In den feinen Berliner Salons und auf den Hofbällen des Kaisers war der polyglotte, gutaussehende junge Kessler, der nach dem frühen Tod des Vaters 1895 über ein bedeutendes Vermögen verfügte, ein gern gesehener Gast. Was er darüber seinem Tagebuch anvertraute, wirft grelle Schlaglichter auf die adlige Gesellschaft um 1900.

    "In giftigen Kontrasten von Grün und Rot sitzt die lange Reihe der Fürstinnen und Botschafterinnen zu beiden Seiten des Thrones beieinander; der Glanz ihrer Diamanten ist in der krassen Beleuchtung hart und unecht; die hohen Damen sehen aus wie eine von einem farbblinden Regisseur geordnete Bank schlecht aufgeputzter Theaterprinzessinnen."

    Doch mehr und mehr ödete Kessler seine Rolle als Salonlöwe an. Es drängte ihn nach praktischer Betätigung. Seine Pläne für eine Karriere im diplomatischen Dienst zerschlugen sich; stattdessen wandte er sich nun seiner eigentlichen Leidenschaft zu - der modernen Kunst. Kessler gehörte zu den wichtigsten Förderern und Mitarbeitern des "PAN", einer exklusiven Kunstzeitschrift, die gegen den spießigen wilhelminischen Geschmack zu Felde zog. Und beherzt griff er zu, als er 1903 das Angebot erhielt, die Leitung des Museums für Kunst und Gewerbe in Weimar zu übernehmen.

    Einen "Lichtbringer der Moderne" nennt Rothe seinen Protagonisten, und eindrucksvoll schildert er, was der frischernannte Museumsdirektor alles unternahm, um die verschlafene Residenz zur Hauptstadt der kulturellen Avantgarde in Deutschland zu machen.

    Dabei stieß er allerdings bald auf Widerstände, nicht nur in der Umgebung Wilhelms II., der Kessler einen "Querkopf" schalt und die Moderne als "Rinnsteinkunst" abqualifizierte, sondern auch am Weimarer Hof selbst. Im Juni 1906, nachdem eine Ausstellung von Rodin-Zeichnungen einen Aufschrei der Sittenwächter ausgelöst hatte, musste Kessler sein Amt niederlegen – "eine Hinrichtung aus heiterem Himmel", so Rothe.

    Zu Recht macht der Autor auf einen frappierenden Widerspruch im Leben Harry Graf Kesslers aufmerksam: Seine Homosexualität wie auch seine Sensibilität für die künstlerische Avantgarde stempelten ihn in der wilhelminischen Gesellschaft zu einem Außenseiter. Zugleich aber war er, was seine politischen Überzeugungen betraf, ein nicht ganz untypischer Vertreter seiner Generation. Er stand, wie viele seiner Zeitgenossen, unter dem Einfluss des Philosophen Friedrich Nietzsche. Und seine Bewunderung für französische Kunst und englischen Habitus schloss eine Unterstützung der auftrumpfenden deutschen "Weltpolitik" nicht aus.

    So erklärt sich auch, dass der feinsinnige Kosmopolit, der in London und Paris ebenso zu Hause war wie in Berlin, nach Beginn des Krieges 1914, wie die meisten deutschen Intellektuellen, förmlich auflebte. Der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal, der den Freund im Januar 1915 als Ordonnanzoffizier an der Ostfront wiedersah, notierte:

    "Er sah unglaublich wohl aus und war nie so männlich schön wie jetzt, er ist mit der Uniform und dieser ganzen Lebenslage völlig zusammengewachsen."

    Ohne jede Beschönigung schildert Rothe, wie bedingungslos sich Kessler mit den Kriegsanstrengungen des kaiserlichen Deutschland identifizierte. So kommentierte er den Propagandastreifen der Heeresleitung "Bei unseren Helden an der Somme" vom Herbst 1916:

    "Sturmangriffe, Flammenwerfer, Gaswolken. Szenen von großer wilder Schönheit. Die neue deutsche Sturmhaube wirkt fast antik."

    Wer fühlt sich, angesichts solcher Passagen, nicht an Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" erinnert? Andererseits zeigt Rothe, dass die Wandlung Kesslers vom Anhänger eines "Siegfriedens" und maßloser Kriegsziele zum Pazifisten und Befürworter der Völkerverständigung nicht erst im Angesicht der militärischen Niederlage im Herbst 1918 erfolgte, sondern sich bereits in den letzten beiden Kriegsjahren vorbereitete.

    Seit September 1916 war Kessler an die deutsche Gesandtschaft in Bern abkommandiert mit dem Auftrag, die deutsche Kulturpropaganda in der Schweiz zu organisieren. Und hier, in der entspannten Atmosphäre des neutralen Landes, wurde ihm der Wahnsinn des Krieges zunehmend bewusst, auch wenn er sich bis zuletzt Illusionen über Deutschlands wahre Lage machte.

    Im November 1918 stellte sich Kessler hinter die neue revolutionäre Regierung der Volksbeauftragten, die ihn für einen Monat als Gesandten nach Warschau schickte. Danach engagierte er sich vor allem in Organisationen der Friedensbewegung und in der Kampagne für die Idee des Völkerbundes. 1924 bewarb er sich, wenn auch vergeblich, um ein Mandat der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei für den Reichstag. Der "rote Graf" wurde er nun genannt - eine Bezeichnung, gegen die er nichts einzuwenden hatte, gehörten seine Sympathien doch eher den linken Sozialisten als den biederen Sozialdemokraten um Friedrich Ebert.

    Seit Mitte der 20er Jahre zog sich Kessler aus dem politischen Leben zurück, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Er schrieb unter anderem eine bis heute lesenswerte Biografie des 1922 ermordeten deutschen Außenministers Walter Rathenau. Inflation und Weltwirtschaftskrise zehrten das einst stattliche Vermögen aus. Nach der Emigration Anfang März 1933 wurde der Rest des Besitzes von den Nazis beschlagnahmt. Der generöse Mäzen, der so vielen Künstlern geholfen hatte, war bei seinem Tode am 30. November 1937 bettelarm. Auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise wurde er beigesetzt.

    Wer die Biografie Laird Eastons gelesen hat und nun auch das elegant geschriebene Porträt Friedrich Rothes zur Hand nimmt, dem erschließt sich das ungewöhnliche Leben eines der faszinierendsten Intellektuellen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Und der wird sich auch der nicht ganz leichten Lektüre seiner Tagebücher mit umso größerem Genuss widmen können.


    Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler
    Siedler Verlag, München 2008
    348 Seiten, 22,95 Euro