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Der fürsorgliche Bettler

Bundespräsident Theodor Heuss nannte ihn den "genialsten Bettler, den Deutschland je gesehen hat". Der vor 100 Jahren verstorbene Friedrich von Bodelschwingh prägte wie kaum ein anderer die evangelische Diakonie in Deutschland.

Von Anna Gann | 02.04.2010
    Er sei der "genialste Bettler, den Deutschland je gesehen hat". Dies sagte der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss einst über Friedrich von Bodelschwingh, von 1872 bis 1910 Leiter der Heilanstalt für Epileptische in Bethel bei Bielefeld. Bekannt wurden u.a. seine "Pfennigsammlungen", die zur Spende noch so kleiner Beträge für Bethel aufriefen. Die heutigen von Bodelschwinghschen Anstalten verfügen bundesweit über insgesamt mehr als 19.000 Plätze für Behinderte, Wohnungslose, Jugendliche, alte und sterbende Menschen, sie unterhalten Schulen und eine kirchliche Hochschule. In diesem Jahr gedenken sie Friedrich von Bodelschwinghs, der heute vor 100 Jahren gestorben ist. Ein Beitrag von Anna Gann.


    "Die Allgemeinheit nannte ihn ja nur immer den 'alten Vater'. Und wenn er irgendwie auf der Straße jemandem begegnete, dann redete er ihn gewöhnlich an mit dem 'Brüderchen, wie geht es dir, und wo gehst du hin und was machst du', und erkundigte sich nach seinem ganzen Lebensinhalt."

    So erinnerte sich vor knapp 30 Jahren ein ehemaliger Mitarbeiter an Friedrich von Bodelschwingh. Der "alte Vater" prägte wie kaum ein anderer die evangelische Diakonie in Deutschland. Im Zentrum seines Wirkens stand die Heilanstalt Bethel bei Bielefeld. Theodor Heuss, der ehemalige Bundespräsident, schrieb über den charismatischen evangelischen Pfarrer:

    "Der schwere, leicht gebückte Mann mit der wunderbaren, hohen Stirn und dem durchfurchten Gesicht sah aus wie ein alter Seemann, der viel von der Welt geschaut."

    Friedrich von Bodelschwingh wurde 1831 im Tecklenburger Land als Sprössling einer alten westfälischen Adelsfamilie und Sohn des späteren preußischen Innenministers Ernst von Bodelschwingh geboren. Nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung studierte er Theologie, wurde Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Paris und übernahm später die Pfarrstelle in Dellwig an der Ruhr. Mit seiner Ehefrau und Cousine Ida von Bodelschwingh hatte er acht Kinder. Die vier ältesten starben 1869 innerhalb von zwei Wochen an Keuchhusten. Im Rückblick schrieb er:

    "Damals [...] merkte ich erst, wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmherzig geworden gegen andere."

    1872 wurde er Pfarrer und Leiter der Rheinisch-Westfälischen Epileptischenanstalt bei Bielefeld, die wenige Jahre zuvor gegründet worden war. Schon bald stellte er fest: Den meisten Kranken war nicht geholfen, wenn sie - gewissermaßen als Betreuungs-Objekte - bloß medizinisch versorgt wurden. Sondern sie wünschten sich auch eine sinnvolle Aufgabe.

    "Arbeit statt Almosen!"

    Nach diesem Grundsatz baute Bodelschwingh die Anstalt, die seit 1874 "Bethel" hieß, weiter aus. In anstaltseigenen Betrieben schuf er Arbeitsmöglichkeiten für die Bewohner. Mit viel Einfallsreichtum bemühte er sich um Spenden. Anfang des 20. Jahrhunderts bot die "Stadt der Barmherzigkeit" über 2000 Epileptikern, psychisch Kranken und Nichtsesshaften eine Heimat. Geistlicher Mittelpunkt Bethels - benannt nach dem biblischen Ort Beth'El, Haus Gottes - ist auch heute noch die Zionskirche.

    Auch wenn Bodelschwingh die sozialen Probleme seiner Zeit in den Blick nahm: Politische Reformen strebte der Freund Kaiser Friedrichs III. nicht an. Seine geistige Heimat war die damalige christliche Erweckungsbewegung mit ihrer verinnerlichten Frömmigkeit. In seinem wohlhabenden Elternhaus hatte er sie kennengelernt und sich ihr später im Theologiestudium bewusst zugewandt.

    "Die Lösung der sozialen Frage muss ihren Grund und Boden [...] nicht in starren Gesetzen suchen, sondern in der freiwilligen entsagenden Liebe zu unseren Brüdern, welche Kraft und Nahrung aus der ewigen Liebe Gottes schöpft."

    Friedrich von Bodelschwingh starb am 2. April 1910 nach einem Schlaganfall. Sein jüngster Sohn, er hieß ebenfalls Friedrich von Bodelschwingh, übernahm die Leitung Bethels. Das Bild des "alten Vaters von Bethel" wurde zunächst verklärt. In letzter Zeit werden von den Biografen aber auch die Schattenseiten benannt: seine patriarchale Dominanz und sein missionarischer Eifer, der von den Pflegenden in Bethel Selbstaufgabe bis hin zur Sterbebereitschaft forderte. Und seine gedankliche Nähe zum Antiliberalismus und Antisemitismus des preußischen Hofpredigers Adolf Stoecker, mit dem er befreundet war.

    Die heutigen von Bodelschwinghschen Anstalten gelten als das größte diakonische Unternehmen in Europa. Die Herausforderungen, die sich zur Zeit Friedrich von Bodelschwinghs stellten, seien geblieben, erklärt Matthias Benad, Kirchenhistoriker an der kirchlichen Hochschule Bethel und Wuppertal.

    "In welcher Weise können wir angemessen heute unter den Bedingungen des entwickelten Sozialstaates, der enorm sparen muss, Gedanken fortsetzen, die der Alte und Zeitgenossen mit ihm, produziert haben? Bis hin zu der immer wieder großen Aufforderung, dass man sich bitte vom Geld nicht regieren lassen soll."