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Der Gipfel (5/5)
Kohls "Sherpa" erinnert sich

"Sherpas" werden die Berater der Kanzler, Premiers und Präsidenten in Europa genannt, die diplomatischen Lastenträger der EU-Gipfel. Sie verhandeln für ihre Chefs, sind die treibende Kraft hinter vielen Entscheidungen. Der ehemalige Sherpa von Altbundeskanzler Helmut Kohl, Joachim Bitterlich, erlebte die EU von Beginn an in der Krise.

Von Benjamin Dierks | 15.12.2017
    Bundeskanzler Helmut Kohl und sein langjähriger Berater Joachim Bitterlich (l) unterhalten sich am 22. Mai 1996 im Bonner Kanzleramt.
    Bundeskanzler Helmut Kohl und sein langjähriger Berater Joachim Bitterlich im Bonner Kanzleramt. (picture-alliance / dpa / Michael Jung)
    Eine Polizeikolonne rauscht heran, schwarze Limousinen fahren vor, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union steigen nach und nach aus und begrüßen den Gastgeber. Frankreichs Präsident Francois Mitterand posiert etwas lustlos fürs Begrüßungsfoto neben Bundeskanzler Helmut Kohl. Ihm folgt der Brite John Major
    Die Führungsriege der EU kommt zum Gipfeltreffen zusammen — allerdings nicht in Brüssel, sondern in Essen. Die Szene spielt vor fast 23 Jahren. Damals fanden die EU-Gipfel noch in den Mitgliedsstaaten statt. Mit in Essen dabei waren 1995 erstmals auch die assoziierten osteuropäischen Staaten, die knapp zehn Jahre danach der EU beitraten.
    Helmut Kohl: "Es war heute eine historische Stunde für die Europäische Union und auch für Europa, wenn ich das so sagen darf."
    Helmut Kohl sitzt am Verhandlungstisch flankiert von Außenminister Klaus Kinkel und Finanzminister Theo Waigel. Außerdem ist auf den Filmaufnahmen ein hagerer Mann zu sehen, der von hinten an den Kanzler herantritt und ein paar Worte zu ihm spricht. Kohl dreht sich kaum um. Er hört zu und nickt dann.
    Kohl vertraute in EU-Fragen auf Joachim Bitterlich
    Der Mann ist Joachim Bitterlich, Kohls europapolitischer Berater. Der "große Europäer" Kohl vertraute in EU-Fragen seinem "Europäer". Bitterlich erinnert sich noch gut, was Kohl im damals aufgetragen hatte bei der Vorbereitung des Essener Gipfels:
    "Kohl sagte zu mir: Hör mal zu, wie die Leute da vom Protokoll das immer festlegen, das hat keinen Sinn. Organisiere mir den Europäischen Rat bitte so, dass ich vorneweg anderthalb Stunden habe mit meinen Kollegen, wo ich einen Kaffee trinke mit denen, wo wir einfach reden können. Und, zweitens, das Abendessen organisierst du mir bitte genauso."
    Joachim Bitterlich ist äußerlich ganz Diplomat geblieben: Dunkelblauer Club-Blazer, grauer Pullunder und Krawatte. Die Brille hat keinen Rand, die Haare liegen locker im Seitenscheitel. Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Bitterlich in Brüssel, später als Kohls Sherpa.
    So werden die politischen Berater der Regierungschefs genannt, nach dem Himalaya-Volk, dessen Angehörige als Lastenträger anheuerten. Die diplomatischen Sherpas sind Lastenträger ihrer Regierungschefs. Sie kennen die verhandelten Themen bis ins Detail, bereiten die Treffen der Chefs vor, loten Kompromisse aus, bevor die überhaupt wissen, worüber entschieden werden muss. Dadurch haben sie großen Einfluss auf die Politik. Bitterlich wurde damals in der Presse "Nebenaußenminister" getauft:
    "Und ich war dann der unsichtbare Notetaker quasi, der bei den Chefs geduldet war immer, irgendwo in der Ecke ganz brav, der im Grunde nur sich Stichworte notiert hat, nach dem Motto: Achtung, da ist was am Dampfen, da könnte was entstehen. Stimmungen aufnehmen."
    "Öfter mal ungewöhnliche Dinge treiben"
    Aber Bitterlich tat mehr, als nur zuzuhören. Er erlebte die EU von Beginn an in der Krise und er versuchte auf seine Weise, der Krise Herr zu werden.
    "Ich erinnere mich an den ersten Europäischen Rat, Pressekonferenz Kohl, 'Euroskleros'" war das Stichwort."
    Auf wirtschaftliche Schwäche reagierten die EU-Staaten damals mit protektionistischen Anwandlungen. Dass die Briten politische Entscheidungen blockierten und auf ihrem Rabatt bei den EU-Haushaltszahlungen bestanden, war Ausdruck davon. Bitterlich entwarf einen radikalen Plan: Kohl sollte den Briten drohen, in Finanzfragen notfalls auch ohne sie weiterzumachen. Damals sei der Schock so groß gewesen, dass London einknickte:
    "Krisenmanagement. Du musst öfter ungewöhnliche Dinge treiben, um zu erreichen, was du wirklich willst. Mal Umwege gehen, mal anders gehen, mal schockieren, mal was an die Wand setzen. Das war in Europäischen Raten möglich."
    Europäischer Rat auf informellem Treffen entstanden
    Dieses höchste Gremium der EU entstand 1974 zunächst quasi aus Gewohnheit als regelmäßiges informelles Treffen der Staats- und Regierungschefs samt Fachministern. Erst zwölf Jahre später wurde er in die Vertragstexte der EU aufgenommen und erhielt mit dem Vertrag von Maastricht 1992 einen formellen Status.
    "Der Europäische Rat wurde immer mehr zu einem echten Entscheidungsorgan. Schon in meiner Zeit war der Europäische Rat - ich nenne das immer: - die Berufungsinstanz und auch die Impulsinstanz."
    In Bitterlichs Zeit unternahm der Rat bedeutende Schritte für die Einigung der EU: Das Wachsen auf 12 und später auf 15 Mitgliedsstaaten, die Vorbereitungen für die Osterweiterung, die Arbeit am gemeinsamen EU-Binnenmarkt. Schließlich der Beschluss einer gemeinsamen Währung. Und heute?
    "Der Europäische Rat hat sich verändert. Die Chefs haben mehr und mehr selbst Verhandlungen geführt und Dinge gemacht. Politikgestaltung ging mehr auf die Ebene der Chefs statt auf die Ebene der Fachminister."
    Der Austausch fernab des Protokolls habe nachgelassen
    Bitterlich bedauert, dass das Miteinander, das Interesse füreinander nachlasse, der Austausch fernab des Protokolls — was mit 28 statt wie damals 15 oder gar 12 Mitgliedsstaaten naturgemäß auch schwieriger sei. Kohl habe darauf geachtet, die politischen Entwicklungen seiner Partner zu verfolgen und mit Rat zur Seite zu stehen. Bitterlich berichtet vom Regierungschef eines kleineren EU-Staats, der ihm mal gesagt habe, wie hilfreich diese offene Haltung Kohls gewesen sei.
    "Er sagte: Bei uns Kleineren, wir hatten das Gefühl, wir hatten einen, der uns zuhört. Der einzige der Großen, der uns Kleinen zuhörte. Und er sagte: Eine solche Stimmung, eine solche Art und Weise von Arbeit haben wir nie wieder erfahren."
    Bitterlich, der mit einer Französin verheiratet ist und in Paris sowie in Berlin lebt, findet die passende Beschreibung im Französischen:
    "Es gibt ein wunderschönes französisches Wort dafür: Complicité. Das ist dieser Zusammenhalt, dieser innere Zusammenhalt."
    Ein Zusammenhalt aber, der nicht überdauert habe, sagt Bitterlich.