Freitag, 19. April 2024

Archiv


Der Glaube an das Böse im Menschen

Er war ein Pessimist, wenn es um die Natur des Menschen ging: Allenfalls ein starker Glaube könne ihn im Zaum halten. Mit seinem 1954 erschienenen Roman "Herr der Fliegen", eine Parabel auf die Brüchigkeit unserer Zivilisation, traf William Golding den Nerv der Zeit. Am 19. September wäre der Literaturnobelpreisräger 100 Jahre alt geworden.

Von Ruth Fühner | 19.09.2011
    "Come on Jack, that's crazy. We're gotta work together. Come on, what do you say?”
    "I say: Fuck you."

    Sie sind notgelandet im Paradies – und sie machen die Hölle daraus. Eine Gruppe von Schülern, evakuiert aus einem unbenannten nuklearen Krieg, strandet nach dem Absturz ihres Flugzeugs auf einer einsamen Insel. Bald platzt der zivilisatorische Firnis ab, zutage tritt die nackte Barbarei. Der Roman "Lord of the flies", "Herr der Fliegen", machte William Golding weltberühmt. Erschienen 1954, wirkte das Buch wie eine Parabel auf die menschliche Natur, beglaubigt durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs.

    "Das Buch reagierte auf eine Welt, die in Kummer und Schmerz befangen war, die entdeckt hatte, was zivilisierte Leute einander antun konnten. Es ging ja nicht um einen wilden Stamm im Kongo, sondern um europäische Kinder. Europa war, und hier kann man nur Shakespeare zitieren, wir waren knietief im Schrecken, und der größte Schrecken waren wir selbst. Ich habe das Buch geschrieben, um meinem Volk, den Engländern zu sagen: Ihr glaubt, ihr wart die Guten, und vielleicht wart ihr das auch – aber das könnte auch in England geschehen, wenn man nicht vorsichtig ist, denn diese Dinge passieren, das liegt in der menschlichen Natur.”"

    William Golding wurde am 19. September 1911 in St. Columb Minor im englischen Cornwall geboren. Der Vater, ein Lehrer, war ein wissenschaftsgläubiger Sozialist, die Mutter neigte der Frauenbewegung zu. Es war ein kühles Elternhaus, in dem selbst Weihnachten in getrennten Zimmern begangen wurde. Goldings durchdringender Glaube an das Böse im Menschen, seine Neigung zu metaphysisch überhöhten Parabeln sind eine einzige Absage an die betont rationale, optimistische Weltsicht der Eltern. Auch das auf ihren Wunsch hin widerwillig begonnene Naturwissenschaftsstudium gab er bald auf, um Englisch zu studieren – mit einem klaren Ziel vor Augen:

    ""Ich hatte – schon von klein auf – dieses Gefühl für Worte und Geschichten, ich wusste, ich würde Bücher schreiben, ich würde ein Dichter sein, ein Romancier, ich würde Stücke schreiben. Daran gab es keinen Zweifel."

    Goldings erster Gedichtband erschien noch vor Abschluss seines Studiums in Oxford, doch der literarische Erfolg ließ vorerst auf sich warten. So trat er 1939 eine Stelle als Englischlehrer in Salisbury an; ein gruppendynamisches Experiment mit Schuljungen, die er gegeneinander antreten ließ, fand später ein Echo in "Herr der Fliegen". Vor allem aber flossen in das Buch Erfahrungen ein, die Golding als Marineoffizier im Zweiten Weltkrieg machte – bei der Zerstörung des deutschen Schlachtschiffs Bismarck und bei der Invasion in der Normandie.

    Mehr als zwanzig Verlage lehnten das Manuskript ab, doch als Faber and Faber schließlich zugriff, wurde "Herr der Fliegen" schnell zu einem Kultbuch. Zwar schrieb Golding insgesamt ein gutes Dutzend Romane, von denen einer – "Rites of Passage", zu deutsch "Äquatortaufe" - auch mit dem Booker Preis ausgezeichnet wurde. Aber, konstatierte Golding mit grimmigem Humor:

    "'‚Herr der Fliegen' hat meine anderen Bücher überschattet, aber es hat auch mehr Geld eingebracht, damit kann ich leben … Mein Lieblingsbuch ist nicht ‚Herr der Fliegen', sondern das Buch, das ich danach schrieb, ‚Die Erben'. Es handelt von einem primitiven Geschlecht, das vom Homo sapiens vernichtet wird, also von uns, der Krönung der Schöpfung. Das ist sicher ein besseres Buch als ‚Herr der Fliegen'."

    Auch der schwedische König, der Golding 1983 den Nobelpreis überreichte, ersparte ihm nicht die Bemerkung, dass er "Herr der Fliegen" in der Schule gelesen habe. Der Nobelpreis für Golding war eine Überraschung. Graham Greene galt als der aussichtsreichere englische Kandidat, und sogar aus der Jury sickerte Kritik an dieser Entscheidung durch. Immerhin erhob die Queen Golding 1988 auch noch in den Adelsstand. Den Lehrerberuf hatte er da schon lang an den Nagel gehängt. Als zurückgezogener Sonderling, weißbärtig und zerzaust und nicht immer ganz nüchtern auf den Spuren des Monsters von Loch Ness, verbrachte er seine letzten Lebensjahre in Cornwall. Dort starb er am 19. Juni 1993.