Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Der Gott aus der Bonbonbox

In Frankreich ist der Romancier David Foenkinos derzeit in aller Munde: Im Rennen um den diesjährigen Goncourt-Preis gehört der 35-Jährige zu den heißen Favoriten, Ende des Jahres kommt die Verfilmung seines achten Roman "La Délicatesse" in die Kinos. Unter "Nathalie küsst" ist soeben die deutsche Übersetzung erschienen.

Von Christoph Vormweg | 25.05.2012
    David Foenkinos hat eine Vorliebe für alles, was schief läuft: gerade im Liebesalltag. Doch ist die Ehe seiner Helden Nathalie und François der Inbegriff perfekter Ausgeglichenheit: sieben Jahre und 25 Buchseiten lang - bis dass der Tod sie scheidet. Beim sonntäglichen Joggen wird Puzzle-As François von einer Blumenbotin überfahren. Das Glück löst sich mit einem Schlag in Nichts auf. Monatelang vergräbt sich Nathalie in ihrem Kummer, aus der Distanz von Familie und Freunden überwacht. Dann kehrt sie wieder in ihr Büro in einem schwedischen Möbelhaus zurück. Ihr verheirateter Chef Charles, der sie schon immer begehrt hat, wittert Morgenluft. Doch an Liebe ist für Nathalie nicht zu denken, auch nicht an Sex. 3 lange Jahre lang.

    "Es stimmt: 'Nathalie küsst' ist ein ernsteres Buch als meine vorherigen. Es handelt von der Rekonstruktion des Liebeslebens, von der Trauer. Ich mag den Ausdruck 'Trauerarbeit' sehr. Das trifft die Sache. Der einzige Unterschied: Arbeit ist normalerweise zeitlich begrenzt. Trauer hingegen ähnelt dem Liebeskummer. Unser Körper entscheidet, wann es uns wieder besser geht. Das kann einen Tag dauern, einen Monat, ein Jahr, zehn Jahre. Die biologische Uhr entscheidet - bis zu dem Tag, wo man aufwacht und der Schmerz verflogen ist. Auch das sinnliche Leben von Nathalie erwacht von einem Tag auf den anderen wieder. Und da trifft es sich gut, dass ein etwas sonderbarer Schwede in ihrem Büro aufkreuzt."

    David Foenkinos psychologisiert nicht. Seine Figuren geben sich über ihr Handeln zu erkennen. Im Mikro-Klima des schwedischen Möbelhauses kann er so ein ums andere Mal seine begnadete Beobachtungsgabe für kleine Gesten und Alltagsabsurditäten ausspielen. Selbst aus dem Jammertal von Nathalies Dauertrauer zieht er treffsichere Pointen: mal ironisch, mal schräg, mal mitfühlend.

    "Das ist ein Buch über den Zauber des Zufalls, vor allem aber über den richtigen Moment. Ein Schlüsselsatz des Buches lautet: Es gibt tolle Begegnungen, die wir zum falschen Zeitpunkt im Leben machen, und es gibt Begegnungen, die toll sind, weil man sie im richtigen Moment macht. Und es stimmt: dieser Markus, dieser Schwede, taucht im richtigen Moment in Nathalies Leben auf. Ist das Zufall? Ist das die Wunderlichkeit des Schicksals? Anfangs habe ich mich gefragt: Warum gerade er? Was hat er denn Besonderes an sich? Doch kann man sich – wie Nathalie - unbewusst von Leuten angezogen fühlen, die einem Gutes tun wollen. Markus gleicht da als Mann ein wenig einem Verbandskasten. Aber das Gegenteil kommt natürlich auch vor. Manchmal sind wir von Leuten angezogen, die uns Böses tun werden."

    Nathalie, eine schöne, von allen begehrte, trauernde Witwe küsst überfallartig einen unscheinbaren Untergebenen. Mit diesem Kuss, heißt es, "hatten ihre Neuronen eine jähe anarchische Kundgebung abgehalten, dieser Kuss war ein grundloser, unmotivierter Akt." Ein Betriebsunfall also. Denn, nüchtern betrachtet, taugt der Schwede allenfalls als Neben-Anti-Held in einem Houellebecq-Roman. Markus ist ein Einsamer, nie Angekommener, der sich seinen Alltag mit Gewohnheiten zugestellt hat. Doch Nathalies Kuss ist ein märchenhafter Erweckungskuss. Nicht nur für Markus, sondern für die ganze gelangweilte Belegschaft des Möbelhauses. Mit wunderbarer ironischer Lakonik entwirft David Foenkinos eine verschlungene Balz-Choreographie: im Mittelpunkt die Kuss-Täterin, die plötzlich von nichts mehr wissen will. Umkreist wird sie nicht nur vom immer entfesselteren Markus. Im Hintergrund lauert auch - als Inbegriff der Unberechenbarkeit - Charles, der abgewiesene Chef. Er will die Balz-Konkurrenz heim nach Uppsala versetzen und noch mal seine Chance suchen.

    "Vielleicht ist der Humor in diesem Buch in der Tat ein bisschen weniger verrückt, ein bisschen weniger burlesk, ein bisschen weniger grotesk. Die osteuropäischen Einflüsse haben sich bei mir ein wenig abgeschwächt. Vielleicht ist das jetzt ein Humor, der breitenwirksamer ist. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht recht, wie man Humor definieren soll. Aber vielleicht bin ich mit 35 Jahren auch ein alter, weiser Schriftsteller geworden."

    Seinen anarchischen, zuweilen spätpubertären Witz, der seinen preisgekrönten Roman "Das erotische Potential meiner Frau" auszeichnete, hat David Foenkinos abgelegt. In seinem Roman "Nathalie küsst" zeigt er sich als geduldiger Erzähler, der seine Pointen auf lange Sicht vorbereitet. Trotzdem bleibt sein Humor immer überraschend: mal schlagfertig, mal subtil, mal mokant. Vor allem aber ist er wiedererkennbar, gleichsam ein Markenzeichen. Mehr noch: David Foenkinos´ Romanprosa ist der Inbegriff der legendären französischen Leichtigkeit - auch wenn die in der deutschen Übersetzung zwangsläufig von ihrer Spritzigkeit verliert. Doch ist es eben keine hohle Leichtigkeit. Zum einen, weil die Romankonstruktion mit urkomischen Mini-Exkursen und Querverweisen auf andere Schriftsteller aufwartet, zum anderen weil David Foenkinos die Dilemmata und Absurditäten der Pariser Metropolen-Existenz permanent und gezielt auf die Schippe nimmt: die täglichen Scheinfluchten, die Nervengemetzel in den Hierarchien, die Hörigkeit gegenüber der Mode, die Liebesstillstände, et cetera.
    Trotz Nathalies Trauerarbeit verwöhnt uns David Foenkinos also. Er bringt uns ständig zum Lachen, zum Schmunzeln – und lässt uns doch als Leser nie ungeschoren davon kommen. Als Meister der Tragikomödie schafft er aber auch, uns zu rühren: etwa durch die Magie, die eine PEZ-Box entfachen kann. Sie erinnern sich: das ist die Spender-Box mit den rechteckigen Bonbons, die durch viele Kindheiten geistert. Für Nathalies Rückkehr ins Leben ist diese PEZ-Box der Deus-ex-machina.

    David Foenkinos:
    "Nathalie küsst"
    Roman. Aus dem Französischen von Christian Kolb.
    C. H. Beck Verlag, München 2011. 240 Seiten, 16,95 Euro.