Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Der Grenzgipfel

Bergwanderern ist das Dreiländereck Österreich-Schweiz-Liechtenstein ein Begriff. Vielen Hütten und öfters Almwirtschaft sorgen dafür, dass Wanderer zwischen 1000 und 3000 Meter Höhe auf ihre Kosten kommen. Das Grenzgebirge Rätikon lädt zu vielen Touren ein, die alpinistisch unbedenklich sind für den Normalwanderer. Sein höchster Gipfel, die Schesaplana, liegt am Ende des Brandner Tales und ist fast auf den Meter genau so hoch wie Deutschlands höchster Berg.

Von Gerd Michalek | 30.08.2009
    "Es stürmt so stark, ich kann kaum schreiben, 23. Juli 2009."

    So steht es, erfahre ich später, im Gipfelbuch der Schesaplana, dem höchsten Berg des Rätikon. Stolze 2965 Meter über dem Meer, Windböen bis zu 100 Stundenkilometer jagen über den Grenzkamm zwischen Österreich und Schweiz. Schon auf 2000 Meter bläst der starke Föhnwind so sehr, dass wir uns gegen ihn stemmen müssen. In mäßig steilen Serpentinen geht es nach oben. Immer kleiner wird der türkisblaue Lünersee. Eine knappe Wegstunde ist es noch bis zur Totalphütte, dem Gipfelausgangspunkt. Dort empfangen uns der Duft von Kaiserschmarrn und Leberknödelsuppe, freundliche Wirtsleute: In der Stube sitzen einige Wanderer, vor Stunden schon von der Schesaplana abgestiegen.

    "Der Wind war eine alpinistische Herausforderung, die ich noch nicht kannte, bei starken Böen. Da musste man warten, bevor man den nächsten Schritt macht."

    Schon 1730, als der Schweizer Pfarrer Nikolin Sererhard die höchste Erhebung des Rätikons bestieg, wunderte er sich über Dinge, die vom Wind auf den Berg geblasen wurden:

    Wir kamen endlich auf den obersten Gipfel des Berges da ging es an eine echte Verwunderung wir fanden auf dem Gletscher Stücke von Nussschalen, Roß-- wie Menschenhaar. Ich schriebe es den Sturmwinden zu, welche dergleichen Dinge erhebt, und durch die Luft hierher getragen.

    Der Brandner Gletscher ist inzwischen mächtig geschrumpelt. Fast 280 Jahre sind es her, dass Nikolin Sererhard den ersten Besteigungsbericht der Ostalpen verfasste und von einem "entsetzlich großen Gletscher" sprach! Schon 1610 sollen Menschen auf der Schesaplana gestanden haben. Seitdem hat der leicht erreichbare Gipfel unzählige Wanderer angezogen. An schönen Sommertagen öfters um die 100!

    "Ich habe gelesen, sie sei ein Modeberg geworden, die Schesaplana, Hinz und Kunz kommen dahin, wenn man einigermaßen sportlich ist, schafft man das auch noch mit 50 oder 60."

    Der Rätikon ist sehr gut erschlossen. Schon vor mehr als 100 Jahren wurden hier Steige angelegt, auch kühne Steiganlagen. Etwa der aus dem Zalimtal führende reizvolle Leibersteig, der als zweite Zugangsvariante zur Schesaplana gilt und schon 1905 in den Fels gesprengt wurde. Ein gutes Dutzend Hütten stehen im Brandnertal. Die höchste von ihnen, die Mannheimer Hütte, befindet sich auf 2679 Meter Höhe, am Rand des Brandner Gletschers. Knapp 300 Meter niedriger liegt die Totalphütte, wo Hüttenwirtin Conny Müller im Juni ihren Traumjob gefunden hat.

    "Ich liebe es, in der Höhe zu leben. Und habe beschlossen, wenn die Stelle mal frei wird, werde ich mich hier bewerben, das habe ich gemacht. Die oder keine, da bin ich wählerisch. Wenn ich meine beiden Kinder frage, welchen Berg sie besteigen wollen, sagen sie immer: Schesaplana. Es ist ja kein Kletterberg, aber man muss schon mal die Hände benutzen, das ist schon spannend."

    Die Hüttenwirtin zieht es eher zur etwas abgelegenen Gierenspitze. Herrlich sei es dort oben, so ganz alleine. Da könne man auch noch Edelweiß finden. Ich halte die Wirtin für eine Schweizerin. Irrtum! Sie kommt aus Brand in Voralberg, spricht den alemannischen Dialekt. Das rührt daher, dass die Brandner ursprünglich aus dem Schweizer Walis eingewandert sind. Ein Bergvolk - sehr geschickt in der Landwirtschaft, heute zumeist im Tourismus tätig - wie Conny Müller, die über den Kontrast zum Volk da unten im Tal schmunzelt:

    "Dreimal durfte ich bisher ins Tal, toll fand ich Autofahren und Ö3 hören, ich fuhr mit Wollsocken, Jeans und Jacke, unten in Bludenz sahen die Leute für mich wie Nackte aus, wie von einem anderen Planeten."

    Um die Totalphütte herum regnet es die ganze Nacht. Gespannt schauen wir morgens zum Fenster raus. Es hat gottlob aufgeklart - kein Sturm, ein Blick rüber zum Schweizer Tor - eine imposant großen Lücke zwischen zwei Felsmassiven, wo noch Reste einer alten Zollwachhütte stehen, Spuren der alpinen Schmugglerzeit, als Kaffee und Tabak von der Schweiz nach Österreich getragen wurden. Doch unser Tagesziel heißt Schesaplana.

    Über Schneefelder ziehen Dutzende Wanderer dem Gipfel entgegen. Nach knapp zwei Stunden passieren wir das Grenzschild Österreich- nur 100 Meter noch bis zum gut neun Meter hohen Gipfelkreuz, Windstille, Alpenglück.

    "Das ist die Mühe wert, auch wenn der Puls ab und zu auf 170 hoch geht, wenn man oben ist - alles vergessen. Ist ja herrlich heut, man schaut bis in die Schweizer Berge."

    Nicht nur das! Im Osten erscheinen die Ötztaler Alpen, Silvretta, Piz Bernina, auch der Ortler in Norditalien- das beste ist die Fernsicht nach Nordwesten, die kein Gebirge verstellt. Ein riesiger hellblauer See erscheint rund 60 Kilometer entfernt:

    "Das wusste ich gar nicht, ich bin schon dreimal hier gewesen, dass man den Bodensee sehen kann!"

    Bilderbuchwetter, nur wenige Wolken beschränken etwas die Sicht. Fast so ideal wie im Sommer 1730, als Pfarrer Sererhard staunte.

    Man sieht soweit, so weit als das Auge ertragen mag nichts als Berge - eine unglaubliche Weite ringsumher, außer bei einer Öffnung über den Lindauer See hinaus ins Schwabenland, das präsentiert sich das schönste Ansehen Welt, die Städte Lindau, Konstanz und Insel Reichenau. Mit dem Perspektiv kann man die Tächer und Gebäude gar wohl distinguieren.


    Mangels Fernglas kann ich Sererhards These, die von Adleraugen zeugen, weder betätigen noch widerlegen. Ich sehe keine Dächer am Bodensee-Ufer. Trotzdem zieht uns der majestätische Gipfelblick in seinen Bann:

    Und der Abstieg macht Spaß, denn ich kann Ende Juli Hunderte von Metern die steilen Schneefelder herunter rutschen.