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Der Hafen von Rotterdam (4/5)
Rohstoffe für die deutsche Stahlproduktion

Nirgendwo sonst in Europa wird so viel Erz und Kohle umgeschlagen wie im Rotterdamer Hafen. Die Rohstoffe werden vor allem in Deutschland für die Stahlproduktion gebraucht. Vom größten Hafen Europas werden sie zum größten Binnenhafen nach Duisburg transportiert.

Von Kerstin Schweighöfer | 18.01.2018
    Einen Kilometer ist er lang, der Seekai des Erzumschlagterminals EECV im Rotterdamer Hafen. Ein Kilometer - das ist gerade lang genug, um drei große Massengutfrachter gleichzeitig anlegen zu lassen. Schüttgutfrachter werden sie auch genannt. Europoort heißt dieses Hafenteilgebiet. Auf der anderen Seite der Maas liegt Hoek van Holland. So nah war die Nordsee mit der Flußmündung noch nie. Und die Innenstadt von Rotterdam noch nie so weit entfernt, nämlich mehr als 40 Kilometer.
    Bis zu 18 Meter hohe Erz- und Kohleberge ragen in den grauen Winterhimmel. Wie verschneite Hügel. Davor türmt sich die Berge Odel auf, ein riesiges Erzschiff. Es fährt unter panamesischer Flagge, erklärt Diplomingenieur Burkhard Decker. Der 58-Jährige ist der technische Geschäftsführer von EECV – ein ruhiger, jovialer Mann, den nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Auch nicht die Minustemperaturen und der eisige Ostwind.
    Vier Tage zum Entladen eines Schiffes
    "Das Erz, was da drin sitzt, das sind ungefähr knapp 300.000 Tonnen, die dieses Schiff als Kapazität hat. Das kommt aus Brasilien und liegt jetzt hier bei uns auf unserem ersten Liegeplatz, den wir extra reserviert haben für Schiffe dieser Größenordnung."
    Über 300 Meter ist sie lang, die Berge Odel. Und 50 Meter breit. Gut zwei Wochen hat sie gebraucht für die Reise von Ponta da Madeira in Nordbrasilien nach Rotterdam. Nun beugt sich ein riesiger blauer Greifer-Kran über sie. Ein so genannter Entlader, mehr als 70 Meter hoch. Er holt das Erz aus ihrem Bauch und sorgt dafür, dass es auf Förderbändern landet. Wie lange braucht er, um den Bauch der Berge Odel zu leeren?
    "Also für dieses Schiff werden wir in etwa vier Tage benötigen. Und es geht rund um die Uhr mit einem oder zwei Kränen. Und dann dreht es wieder um und fährt zurück nach Brasilien und läuft immer hin und her."
    Vom Seekai zu den Binnenfahrtschiffen
    Neben Erzschiffen laufen am EECV-Seekai auch Schüttgutfrachter mit Kohle ein. Die landet ebenfalls auf Förderbändern. Diese Bänder transportieren die Rohstoffe von der Seekade zu den Lagerplätzen auf der Mitte des Terminals und von dort aus weiter an die Südseite, auch Erzseite oder Erzkade genannt: Dort liegen Binnenfahrtschiffe der Reederei Veerhaven bereit, sogenannte Schubleichter, die das Erz und die Kohle flussaufwärts nach Deutschland bringen.
    Genauer gesagt in die Hochöfen von Duisburg: in die Duisburger Hütte im Norden und die Hüttenwerke Krupp Mannesmann HKM im Süden. Und damit zu Thyssen-Krupp, dem größten Stahlproduzenten Deutschlands. Deren größter Kunde: die deutsche Automobilindustrie. Denn Kohle und Eisenerz sind die wichtigsten Rohstoffe bei der Stahlherstellung, erklärt Decker:
    "Für eine Tonne Stahl braucht man knapp zwei Tonnen Kohle und Erz."
    Sowohl das Erzumschlagunternehmen EECV als auch die Reederei Veerhafen sind Tochtergesellschaften von Thyssen-Krupp. Beide wurden 1967 gegründet. Um die Rohstoffzufuhr für die Stahlproduktion in Deutschland sicherzustellen, erklärt Burkhard Decker. Egal, ob sulvidische, oxidische oder silikalische Erze, Eisen-, Mangan- oder Chromerz: Decker weiß alles über dieses schwarze Gestein:
    "Mir macht das total Spaß hier, ich find’ das herrlich hier."
    Er ist schon seit 1985 mit dabei – ganz am Anfang auf der Hütte in Duisburg, seit 2011 in Rotterdam.
    "Ich bin dem Rhein gefolgt. Ich bin in Wesel geboren und bin seit gut sechs Jahren hier in den Niederlanden."
    Wasser und Zellulose werden auf die Erzberge gesprüht
    Der Pfeifton ist eine Anfahrwarnung, erklärt er, als wir der Berge Odel den Rücken zuwenden und ins Auto steigen: Irgendwo auf dem riesigen Terminal hat sich ein Förderband in Bewegung gesetzt:
    "Wir fahren jetzt auf die Erzseite. Und weil das Gelände 100 Hektar groß ist, nehmen wir das Auto."
    Die Fahrt von der Seekade zum Binnenhafen mit der Erzkade gleicht einer Reise durch eine Winterlandschaft mit weißbekuppten Eisen- und Erzhügeln. Fehlen nur noch schlittenfahrende Kinder. Aber, so stellt Decker klar: Weiß sind die Rohstoffhügel immer, auch im Sommer:

    "Um Staubverwehungen zu verhindern, sprühen wir eine Mischung aus Wasser und Zellulose auf die Berge.
    Der Boden der Erzkade ist rötlich gefärbt, ein tiefes Rot ist es, vermischt mit Schnee. Wie Spaghettisoße. Oder Tomatensuppe. Das kommt durch das Eisenerz, das von den Förderbändern gefallen ist. Rundum die Uhr fahren vollbeladene Leichter Richtung Duisburg ab, dem größten Binnenhafen Europas.
    "Die Reisezeit dauert 24 Stunden, gegen die Strömung, vollbeladen. Und die leeren Verbände, die zurückkommen, mit der Strömung, in ungefähr 18 Stunden. Das ganze Jahr durch, 24 Stunden am Tag."
    Duisburger Hafen, größter Binnenhafen in Europa.
    Der Duisburger Hafen ist der größte Binnenhafen in Europa (imago / Hans Blossey)
    Kein Stahl in Deutschland ohne den Hafen von Rotterdam
    Die Leichter sind mehr als 76 Meter lang. In der Regel fahren sie im Verband, meist sechs aufeinmal neben- und/oder hintereinandergekoppelt. Bis zu 270 Meter lang werden sie dann.
    "Sie müssen sich vorstellen, wenn wir jetzt hier mit Sechserverband fahren, dann sind da 16.500 Tonnen Erz und Kohle drin, dazu bräuchten Sie ungefähr 800 LKW. Und das sind dann nur 16.500 Tonnen. Wir machen aber pro Tag 80.000 Tonnen."
    Wir stehen mit den Stiefeln im rotgefärbten Schnee und beobachten, wie ein vollbeladener Schubleichter ablegt. Ganz langsam und ruhig bewegt sich das flache geduckte Schiff flussaufwärts, um über Alte Maas und Waal schließlich den Rhein und das 240 Kilometer entfernte Duisburg zu erreichen.
    Was wäre, wenn diese Nabelschnur, die das Ruhrgebiet mit dem Rotterdamer Hafen verbindet - was wäre, wenn diese Lebensader plötzlich abgeschnitten würde? Klarer Fall, antwortet Burkhard Decker:
    "Ohne den Rotterdamer Hafen hätte Deutschland, zumindest Thyssen-Krupp und HKM, keinen Stahl."