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Der heillosen Welt der Erwachsenen nicht angehören

Franz Hessel, Jahrgang 1880, gehört zu den aus Deutschland vertriebenen jüdischen Schriftstellern. Es ist ein großes Glück für die Literatur, dass sein Werk in den letzten Jahren wieder entdeckt wurde.

Von Gabriele Killert | 13.08.2012
    Franz Hessel gehört zu den stillen, noblen Rebellen der Literatur, die wissen, die Welt, wie sie nun einmal ist, können sie nicht aus den Angeln heben. Sie vertrauen dem melancholischen Eigensinn, mit dem sie sich einer utopischen Gegenwelt verschreiben, einer schöneren zweiten Welt in der ersten, wie Jean Paul die Poesie nannte. Noch vor und mit seinem Freund Walter Benjamin entwickelte Hessel eine Ästhetik des Flanierens als eine "Schule des Genusses", in der man die verborgenen Geheimnisse von Straßen und Menschen "lesen" lernen kann. Seine Romane sind ein Hymnus auf das Glück der besitzlosen Liebe. Doch auch die will erlernt sein. Die Maxime vom "besitzlosen Genuss" als Lebensprogramm entwickelt Hessel erzählerisch erstmals in "Kramladen des Glücks", seinem Debutroman von 1913. Es ist die autobiografisch angelehnte Chronik einer Kindheit und krisenhaften Jugend in Berlin am Vorabend des Krieges.

    Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich schon sehr alt. Ich weiß, das ist vom Standpunkt der Erwachsenen lächerlich. Aber wenn ich es doch so empfinde - so alt schon, dass ich nur immer das Gleiche erfahren kann. "Jugend ist leidsüchtig", habe ich irgendwo gelesen. Das ist wahr. Ich brauche bloß stillzuliegen und dem nachzusinnen, dass die Martha weit weg ist. Ich will ja nichts Bestimmtes von ihr, gewiss nicht, ich schäme mich, so etwas bloß zu denken. Ich wollte, sie wäre nur immer da. Wäre sie nur im Zimmer nebenan. Hörte ich nur ihre Stimme, wenn sie mit anderen spricht. Es ist unheimlich, dass man mit einem Mal kein Kind mehr ist.

    Das weltschmerzliche Bekenntnis des Protagonisten aus Franz Hessels kleinem Romanerstling ist von anrührender Komik, denn der hier spricht, ist ja noch ein Kind. Gustav, Sohn aus gutbürgerlichem, berliner, jüdischen Elternhaus ist gerade mal 16 und unglücklich verliebt in eine Freundin des älteren Bruders, der schon studiert und es mal zu was bringen wird. Gustav will gar nichts groß werden. Der preussische Drill in der Schule ist ihm ein Graus. Er, das Sorgenkind des Vaters, will immer nur träumen. An der Seite Marthas, die er manchmal begleiten und auf dem See im Berliner Tiergarten rudern darf, sehnt er sich zurück in alte Zeiten, als die Mutter noch lebte und Kränze aus blauen Blumen flocht, die er ihr pflückte. Die blaue Blume für den kleinen blauäugigen Seelenbruder des Eichendorff'schen Taugenichts oder Robert Walsers Jakob von Gunten, der seine Zartbesaitetheit mit Aufsässigkeit tarnt. Die Frauen mögen solche lieben frechen Träumer, in deren Empfindsamkeit sie sich spiegeln können. Sie streicheln ihm mütterlich über den Kopf und sagen -wie Martha - "Du Kind!" zu Gustav. Aber sie lieben die Eroberer. Die Lektion muss Gustav lernen. Mit Freunden stürzt er sich ins Berliner Nachtleben. Im "Cafe Chantant", im "alten Ballhaus" spielt er den Lebemann, spendiert kleinen Modistinnen Likör, vertändelt mit der scheuen Vrenele oder einer "kleinen Mathilde aus Mecklenburg" die Nächte gemäß dem kategorischen Imperativ der Studenten, zu denen er nun auch gehört

    Bummle so, dass die Norm deines Bummelns allgemeines Gesetz sein könnte.

    Doch meistens ist er nur Tröster, Lückenbüßer für abwesende Bräutigame. Und er selbst schreckt auch vor der Gewalt des Eros und den Folgen, vor dem Ernst des Lebens zurück. Er will frei und ungebunden bleiben, zu Füßen einer zärtlichen Kornelie sitzen, den Kopf in ihren Schoß legen und das von rauschenden Brunnen und grundlosem Glück träumende Kind bleiben. Das Leben soll immer ein Fest sein.

    "Ein Fest?" - "Nun ja. Nicht etwa alte Kostüme anziehen und Rokokospiele spielen. Nein, aus dem Theater fort in Wälder und Gärten gehen mit vielen Freunden und Frauen. Und da sollen die Frohen und Schönen tanzen und einander umarmen. Und davon sollen auch die anderen froh und schön werden..." - Kornelie sah ihn von der Seite an: "Und am anderen Morgen? Was bleibt von alledem?" - "Es gibt kein Morgen", rief Gustav leidenschaftlich, "alles ist heute. Keiner darf morgen sagen oder wissen, was heut einer sagte oder tat. Nur ein heimlicher Schimmer bleibt und eine ungewisse Glückseligkeit... Ach, ich weiß wohl, wenn man erst weiter darüber nachdenkt, ist das alles sinnlos..."

    Das Leben als ein ewiges Fest, ein Ringelreihen in kosmischer Harmonie und Glückseligkeit - das war 1913, am Vorabend noch des 1. Weltkriegs, als der Roman "Kramladen des Glücks" erschien, die praktizierte Lebensphilosophie der Bohème und Wolkenkuckucksheimer mit ihren nicht enden wollenden Künstlerfesten, wo man sich als Pierrot oder Gott Pan kostümierte, ein neues Heiden- und Hetärentum predigte und in korybantischem Taumel die Nächte durchtanzte. Gustav gerät in dieses Treiben um die Gräfin Gerda von Broderson, in der Franziska von Reventlow unschwer zu erkennen ist, zu deren Schwabinger Kreis Hessel eine Weile gehörte. Gustav wird hier nicht froh, so wenig wie der Autor es wurde.

    Franz Hessel findet mit diesem kleinen Roman einer "éducation sentimentale" seinen eigenen, unverwechselbar heiter-abgründigen Ton. In einem impressionistischen Bilderreigen kleiner komödienhafter Szenen persifliert er dieses Milieu mit sanfter Ironie aber auch - bei aller Leichtigkeit - oft jähen Mollverschattungen. In einem Feuilleton Hessels über das Chichi, die "billige Pracht" der Berliner Modewelt ist einmal von Schmuckstücken die Rede, "deren Vorteil es ist, Schäden zu haben, die fast nicht sichtbar sind". So lupenscharf, doch ohne Bitterkeit blickt Hessel auf die ganze Epoche, deren Brüchigkeit noch kaschiert war unter dem Flitter der Basare, deren Konkurs sich schon ankündigte. Man betäubte sich im Rausch kopierter Saturnalien, während die saturnische Geschichte bereits mobil machte, um mit kettenrasselnden Panzern diese gar nicht heile Welt auszulöschen. Franz Hessel deutet die Zeichen mit seismografischem Gespür voraus. Sein kindliches Alter Ego, der oft einsame und unglückliche Gustav, den die Christenknaben als "Jude" verspotteten und auch schlugen, wusste schon, warum er der heillosen Welt der Erwachsenen nicht angehören wollte.

    Da kam wohl ein Regiment oder eine Kompanie in die Stadt zurück. Aber dem Gustav war es, als lärmten tausend und aber tausend Feinde an den Toren seines Volkes. Und die Mauern rückten immer enger zusammen um die Geduckten, Geängstigten. Bald werden ihre Äxte unsere Tore zerbrechen, bald werden rote Würgearme hereinlangen, fantasierte der Knabe.

    Buchinfos:
    Franz Hessel: Kramladen des Glücks. Lilienfeld Verlag, Berlin, 2012, 310 Seiten, Preis: 21,90 Euro