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Der herrlichste Pedant der Weltliteratur

Im dritten Viertels seines Lebens war Vladimir Nabokov gezwungen, sich seinen Unterhalt als Literaturdozent am Wellesley College in Massachusetts zu verdienen. Frucht dieser Jahre sind die "Vorlesungen über russische Literatur", die gerade als Teil der Nabokov-Werkausgabe erschienen sind.

Von Uli Hufen | 23.08.2013
    Die spöttische Vorsehung, der erbarmungslose Zufall und wer immer sonst für derartige Zauberei verantwortlich ist, haben dafür gesorgt, dass das Leben von Vladimir Nabokov in vier mehr oder weniger perfekt gleichlange Abschnitte zerfiel. Nabokov entstammte einer hochprivilegierten Petersburger Adelsfamilie und verbrachte seine frohe Jugend zwischen 1899 und 1919 in einem von dienstbaren Geistern bevölkerten Paradies aus palastartigen Stadtwohnungen und Landgütern, Kunst, Natur und Wohlstand. Die Oktoberrevolution nahm der Familie alles und zwang sie 1919 in die Emigration. Es folgten 20 Jahre mehr oder minder drückender Armut in England, Deutschland und Frankreich. 20 Jahre, denen die Welt Nabokovs neun auf Russisch geschriebene Romane verdankt, darunter sein Meisterwerk "Die Gabe". 1940 zwingt die vorrückende Wehrmacht Nabokov und seine Familie erneut zur Flucht: Wie 1919 per Schiff.

    Noch auf der Überfahrt in die USA beginnt Nabokov seinen ersten Roman auf Englisch. Knapp 20 Jahre später ermöglicht ihm der immense Erfolg von "Lolita" 1959 die Rückkehr nach Europa. Bis zu seinem Tod 1977 verbringt Nabokov weitere knapp 20 Jahre in der Art von Wohlstand, die er als Kind gekannt hatte und wohl für angemessen hielt: in einem Grandhotel am Genfer See. Im dritten Viertel seines Lebens aber war Nabokov gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt als Literatur-Dozent am Wellesley College in Massachusetts und an der Cornell-Universität zu verdienen. Frucht dieser Lehrjahre sind die "Vorlesungen über russische Literatur", die gerade als XVII. Band der wunderbaren Nabokov-Werkausgabe des Rowohlt-Verlages erschienen sind. Wobei Russische Literatur für Nabokov heißt: die russische Literatur des 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts: Puschkin, Gogol, Lermontow, Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoj, Tschechow, Gorkij. Die sowjetische Literatur der 20er-, 30er- und 40er-Jahre lehnte Nabokov aus Prinzip ab, obwohl er sie offensichtlich schlicht nicht kannte.

    Überaus lesenswert und unterhaltsam sind Nabokovs Vorlesungen deshalb, weil Nabokov kein Literaturwissenschaftler, sondern in erster Linie ein Literaturliebhaber, passionierter Leser und Fan war. Und zwar einer mit ebenso starken wie streitbaren Ansichten und einer, der anders als die meisten Akademiker, keine Sekunde davor zurückscheute, seine streitbaren Ansichten so laut und so unversöhnlich wie möglich hinaus zu posaunen.

    "Ich habe einen dauerhaften Groll gegen Leute, die ihre Literatur gern erzieherisch oder erbaulich, patriotisch oder so gesund wie Ahornsirup hätten."

    Das klingt vernünftig. Doch verbirgt sich hinter dem scheinbar harmlosen Satz weit mehr als eine gesunde Abneigung gegen primitive didaktische Literatur zweit- und drittklassiger Schreiberlinge im Dienste von Parteien, Diktaturen oder Ideologien. Unter Nabokovs Bannfluch fiel jede Art von sozial engagierter Literatur, Literatur, die sich mit politischen Ideen auseinandersetzte und überhaupt alles, was auch nur im Entferntesten nach Ideologie roch. Dazu gehörten für Nabokov auch Thomas Mann, Stendhal oder Dostojewskij. Kein großer Schriftsteller, so Nabokov, könnte sich je dazu herablassen, sich mit etwas so niedrigem wie der sozialen Realität um ihn herum zu befassen. Für ihn sind Nikolaj Gogols "Tote Seelen" mitnichten eine Anklage gegen Feudalismus und Leibeigenschaft, sondern ein literarisches Vexierspiel, dessen Größe in seiner Irrationalität und seiner Traumlogik liegt. Dasselbe gelte für Gogols Theaterstück "Revisor":

    "Gogols Stück wurde von den politisch Gesinnten als sozialer Protest missdeutet und zeugte in den 1850ern und 1860ern eine brodelnde Masse von Literatur, welche die Korruption und andere gesellschaftliche Missstände anprangerte, und dazu eine Orgie von Literaturkritik, die jedem den Titel eines Schriftstellers absprach, der seinen Roman oder seine Erzählung nicht der Anprangerung von örtlichen Polizeimeistern und Mushik prügelnden Gutsherren widmete."

    Genauso, wie Nabokov selbst jedem den Titel des Schriftstellers abspricht, der das tut. Was große Literatur und große Schriftsteller wie ihn selbst, darf man annehmen, auszeichnet, erläutert Nabokov ebenso apodiktisch und humorlos:

    "Dem bewundernswerten Leser geht es nicht um allgemeine Ideen: Sein Interesse gilt der besonderen Sehweise. Ihm gefällt ein Roman nicht deshalb, weil er durch ihn gemeinschaftsfähiger wird....; er gefällt ihm, weil er jede Einzelheit des Textes in sich aufnimmt und versteht, sich an dem freut, woran er sich nach dem Willen des Autors freuen soll: er strahlt innerlich und äußerlich, begeistert sich an den Zauberbildern des Meisterfälschers, des Phantasieschmieds, des Magiers, des Artisten."

    Für Nabokov ist große Literatur letztlich eine möglichst ununterbrochene Kette von wunderbaren Details, die von einem wunderbar begabten Seher bemerkt oder erdacht, in wunderbare Sprache gekleidet und einem möglichst kultivierten Leser dargereicht werden. Eine hochfiligrane Intarsienarbeit für gebildete Connaisseure, eine Schweizer Uhr, eine Juweliersarbeit für Könige. Große Kunst bezieht sich vor allem auf sich selbst und lebt nach ihren eigenen Gesetzen.

    Man kann all das für engstirnigen, snobistischen Humbug halten. Man kann Nabokov diesen engstirnigen, snobistischen Humbug verzeihen, weil die Literatur für ihn wohl zeitlebens ein Refugium vor all dem politischen Irrsinn war, der sich vor seinen Augen in der Welt abspielte und der seine Lebenspläne mehrfach so rabiat über den Haufen warf. Das Letzte, was Nabokov in der Kunst suchte, war der Wahnsinn, den er morgens in der Zeitung fand. Falls er Zeitung las. Man kann auch darauf hinweisen, dass in den Händen eines Genies wie Nabokov selbst engstirniger, snobistischer Humbug zuweilen verführerisch schillert. Und trotzdem: Wenn Nabokov einen Schriftsteller hasst, so wie er Dostojewskij und Gorki hasst, dann schlug dieser Hass Funken, blieb aber letztlich langweilig und wenig überzeugend: Dostojewskij ist für Nabokov nichts weiter als ein Autor billiger Kriminalromane. Er führt seine Leser in

    "eine düstere Welt kalter Vernünftelei, die der Geist der Kunst verlassen hat."

    An Stellen wie dieser muss man leider sagen: Vladimir Nabokov, der große Nabokov konnte auch ein engstirniger Pedant sein. Wenn Nabokov aber einen Schriftsteller liebte, so wie er Lew Tolstoj liebte, dann trieb ihn diese Liebe zu Meisterstücken, die auch heute noch faszinieren und Nabokovs Liebe zur Literatur vermitteln. Am Schönsten gelingt das im Herzstück des Bandes, einer 160 Seiten langen Ode an Tolstois Roman "Anna Karenina", den der Exzentriker Nabokov "Anna Karenin" nennt, weil es im Englischen keine weibliche Form von Nachnamen gibt, wie im Russischen.

    Nabokovs Methode ist im Grunde einfach: Er zitiert ausführliche Textpassagen, nicht ohne auf die jederzeit mangelhaften Übersetzungen hinzuweisen, und beschreibt dann haarklein und mit einem geradezu unheimlichen Auge für feinste Details, was Tolstoi seiner Meinung nach groß macht. Wie geschickt Tolstoi die Handlungsstränge mal parallel führt und sich dann wieder kreuzen lässt! Wie gekonnt er Träume und Albträume verschiedener Figuren aufeinander bezieht und vorbereitet! Welch Bedeutung die rote Handtasche von Anna hat! Wie meisterlich er dem unaufmerksamen Leser eine höchst vertrackte Zeitstruktur unterjubelt!

    "Tolstois Absicht und Leistung war es, sieben zentrale Lebensläufe zeitlich aufeinander abzustimmen, und diesem Zeitmanagement müssen wir folgen um uns rational das Vergnügen zu erklären, mit dem seine Magie uns erfüllt."

    Nabokov erklärt, wie es kommt, dass Anna und Wronskij schneller leben als Lewin und Kitty. Und er erklärt, warum wir das nicht merken. Er erläutert das für Ausländer überaus verwirrende russische Namenssystem und er zeigt, wie die Züge aussahen, in denen Anna, Wronskij und die anderen ständig zwischen Moskau und Petersburg hin- und herzuckeln. Und das Wichtigste: Die Welt mag voller Lehrer sein, die ihren Schülern mit derartigen Analysen die Freude an Büchern ein für alle mal austreiben. Nabokov aber hat mit seinen Vorlesungen Generationen von Studenten dazu gebracht, Anna Karenina nicht einmal, sondern vier, fünf oder sechs Mal zu lesen, und es zu genießen. Vladimir Nabokov: ein unvergleichlicher Snob und der herrlichste Pedant der Weltliteratur.

    Vladimir Nabokov: "Gesammelte Werke. Band 17: Vorlesungen über russische Literatur"
    Hrsg. von Dieter E. Zimmer und Fredson Bowers
    Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer,
    Rowohlt Verlag, Hamburg 2013, 752 Seiten, 38 Euro