Donnerstag, 28. März 2024

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Der Himmel kann warten

Wenigen gibt er Lohn und Brot, aber alle holt er eines Tages zu sich: Gevatter Tod ist eine verläßliche Instanz. Daß wir sterben müssen, sichert den Bestattern ihr Auskommen; daß wir nicht wissen wann, sorgt für ihr unternehmerisches Risiko. Gewiß, geburtenstarke Jahrgänge schlagen sich irgendwann in hohen Sterbezahlen nieder, aber ob das für blendende Wachstumsaussichten reicht? Denn wann immer der Tod eine besonders reiche Ernte einfährt - in Kriegen oder bei Naturkatastrophen -, profitiert das Bestattungsgewerbe am wenigsten. Der Massentod vernichtet Individualität, das Abschiednehmen wird zum puren Beseitigungsproblem, und die Kulturleistungen der Bestatter büßen ihre Notwendigkeit ein. Warum sich also einer Aktiengesellschaft anschließen, einem internationalen Sterbekonzern, obwohl der bei allem Fleiß eines nie können wird: die Produktivität steigern?

Florian Felix Weyh | 14.01.2003
    Diese Frage stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit auch Thomas Lynch. Während der kleine Beerdigungsunternehmer aus Milford/Michigan an seinem zweiten Essayband sitzt, nehmen die Übernahmeofferten der börsennotierten Konkurrenz unverhohlen die Form von Drohgebärden an: Familienunternehmer würden vom Markt hinweggespült, schlössen sie sich nicht nationalen Ketten an! Ist das so? Lynch zögert und zweifelt, und weil er ein langsamer Schreiber ist, dokumentiert sein Buch Aufstieg und Niedergang einer Leichen-Hausse an der Börse. Am Ende sind sie alle pleite, die internationalen Funeralkonzerne, und Lynch kann beruhigt auf sein überschaubares, aber konstantes Geschäft blicken. Nirgendwo gilt der Slogan All business is local! mehr als in diesem Bereich, und nirgendwo wiegt der persönliche Name schwerer als im Bestattungsgewerbe. "McSarg" bleibt eine schauerliche Utopie.

    Wir kennen und verehren ihn, den Stoiker Thomas Lynch. "Im Auftrag des Herrn" hieß sein erstes Buch vor drei Jahren; das neue trägt den gleichen Untertitel wie damals: "Lebensansichten eines Bestatters". Noch immer geleitet der irischstämmige Lyriker und Essayist aus der tiefsten amerikanischen Provinz Menschen zu ihrer letzten Ruhestätte - nicht, weil er das für einen guten Werbegag hielte, sondern weil er in ein Familienunternehmen hineingeboren wurde, das eine andere Erwerbsbiographie schwierig gemacht hätte. Mit Lyrik und Essays sind keine vier Kinder zu ernähern, und woher nähme man die Stoffe für die Literatur? "Poesie", verkündet der Freizeitdichter keineswegs resigniert, "stimmt unsere Sinne auf die Sprache ein. Und Bestattungen stimmen unsere Sinne auf unser sterbliches Wesen ein." Lynch fühlt eine vollkommene Einheit seiner beiden, für Außenstehende bizarr auseinanderklaffenden Lebensbereiche. Auch Poesie stimmt unsere Sinne auf Sterblichkeit ein. Zumindest die von Thomas Lynch, der selbst in bacchantischen Passagen nie den Schatten des Todes verschweigt. Memento mori, morgen schon kann alles Glück zuende sein.

    Gibt es noch Leser, die vom Genuß der Ernsthaftigkeit sprechen? Die sich nicht zerstreuen, sondern sammeln wollen? Bei Thomas Lynch sind sie gut aufgehoben. In eindringlichen autobiographischen Passagen hält er über sich selbst Gericht, weil er weiß, daß Schuld niemals ins Grab versinkt, ohne Unheil in den kommenden Generationen anzurichten. Das Protokoll des eigenen, überwundenen Alkoholismus, sein bitteres Resümee der Scheidung als lebenslanges Unglück für die Kinder, sind im Wortsinn erschütternd. Als der Alkoholismus in verheerender Form bei seinem ältesten Sohn wieder aufersteht, schwankt Lynch zwischen tiefer Verzweiflung und gnadenloser Wut: Welch strafender Spiegel der eigenen Verfehlungen! Daß er nicht in religiösem Fanatismus, in falschen Bußgesten Heilung sucht, hebt ihn von falschen Predigern ab. Lynch führt ein Modell von Menschlichkeit vor, das nichts verschweigt - auch die eigene Eitelkeit und die Züge seiner Rachsucht nicht - und darum tröstlich wirkt: Man kann dieses Leben zum Tode ertragen, wenn man es immer wieder auf Einflußmöglichkeiten hin absucht. Zwar fällt unsere Handlungsfreiheit viel kleiner aus, als wir denken, doch nutzt kaum jemand all seine Spielräume aus. Denn dazu müßte er Abend für Abend Rechenschaft ablegen, ob er wach und aufmerksam durch den Tag geschritten ist - und das tut nur, wer stündlich mit dem Tode rechnet.