Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Der Holocaust als harmloser Hollywood-Stoff

"Wenn du nicht da warst, schreib auch nicht drüber." - Dieser Satz von Elie Wiesel gilt offenbar nicht für Hollywood. Regisseur Mark Herman hat sich an die Verfilmung des Jugendbuchbestsellers "Der Junge im gestreiften Pyjama" gewagt und das Sterben in der Gaskammer zu einer melodramatischen Pointe missbraucht.

Von Josef Schnelle | 07.05.2009
    Nach Auschwitz keine Gedichte mehr, aber immer mehr Auschwitz-Filme. Das kann doch nicht wahr sein. Immer mehr internationale Filme machen den Holocaust zur Kulisse für Abenteuerfilme der besonderen Art. Das jüngste Beispiel liefert der britischen Komödienregisseurs Mark Herman in seiner Verfilmung des Jugendbuchbestsellers "Der Junge im gestreiften Pyjama". Der Trick der Vorlage war schon, aus dem Blickwinkel zweier naiver Kinder von einem Vernichtungslager zu erzählen, das von ihnen als solches nicht begriffen werden wird. Da tun sich rätselhafte Dinge, die keiner durchschaut. Schon gar nicht die Sache mit dem Pyjama. Bruno, der Sohn des KZ-Kommandanten trifft einen Jungen, der auf der anderen Seite des Stacheldrahts sitzt.

    Bruno: "Hallo, wie alt bist du?"
    Shmuel: "Acht."
    Bruno: "Ich auch. Und wieso hast du den ganzen Tag einen Pyjama an?"
    Shmuel: "Die Soldaten. Sie haben uns die Kleidung weggenommen."
    Bruno: "Mein Vater ist auch Soldat, aber keiner, der den Leuten die Kleidung wegnimmt."

    Dass der achtjährige Sohn eines hohen SS-Offiziers 1944 keine Ahnung hat von dem, was in Deutschland vorgeht, gehört schon zu den problematischen Ungenauigkeiten im Film. Zwar wurden deutsche Jungs erst mit zehn zu Pimpfen und konnten dann die Biografie Adolf Hitlers aufsagen, bevor sie Hitlerjungen wurden, aber die antisemitische Stimmung der Eltern werden sie schon gekannt haben.

    Die Naivität von Brunos Pendant auf der anderen Seite des Stacheldrahts wirkt noch unglaubwürdiger. In Vernichtungslagern, und um ein solches handelt es sich ganz deutlich, wurden die nutzlosen Esser gleich vergast, während den Erwachsenen ein Tod durch Arbeit bis zur Erschöpfung blühte. Selbst den wenigen - für medizinische Experimente zum Beispiel - für eine Weile überlebenden Kindern wurde bestimmt nicht gestattet, im KZ-Pyjama am Stacheldraht herumzusitzen und mit der Welt zu hadern. Außerdem hatten sie sehr wahrscheinlich so viele tägliche Misshandlungen und Morde gesehen, dass sie sicher nicht im Unklaren über die Natur der Terrorherrschaft im KZ gewesen sein können. Das ist aber die Grundidee zu der Romanautor Boyne und in noch stärkerem Maße Regisseur Mark Herman Zuflucht nehmen. Dieser Film ist ein Skandal, der zumindest alle, die einmal Eugen Kogons KZ-Bericht "Der SS-Staat" gelesen haben, fassungslos zurücklässt. Es kann aber auch sein, dass dieser Film mit anderen Beispielen ein offenbar erfolgreiches Genre begründet, das nicht ohne Grund Harry-Potter-Produzent David Heyman entdeckt hat. So fängt der Film auch an. Als diffuse Abenteuerkonstruktion. Der Vater Brunos wird versetzt. Es ist eine Beförderung. Das neue Haus ist schön. In der Ferne lockt das Abenteuerland der Entdeckungen.

    Mutter: "Ich weiß es ist schwer, aber wir werden unseren Freunden für eine gewisse Zeit Lebewohl sagen müssen."
    Schwester: "Wir ziehen weg. Wohin?"
    Vater: "Soldat zu sein bedeutet: Wo immer dein Land dich braucht. Da gehst du hin. Betrachte es als Abenteuer. Wie in einem deiner Bücher."

    "Wenn du nicht da warst, schreib auch nicht drüber." Hat Elie Wiesel den Nachgeborenen ins Merkbuch für die eigene Geschichtsbewältigung diktiert. Jetzt kommen nach "Der Vorleser" Geschichten ins Kino, die auf schreckliche Weise auch das Tabu brechen, die Gaskammern nicht "fiktiv" zu betreten. Bruno schlüpft unter den Zaun zu seinem Freund Shmuel und schon werden die beiden in den Schreckensort getrieben. Sie halten einander die Hand. Der Film blendet ab und zeigt die Verzweiflung des Nazivaters, der seinen Sohn sucht mit unpassendem Donnergrollen und Parallelmontage. Fünf Minuten hat es gedauert, bis das Zyklon B auch die letzten Opfer am Rand der Kammer hingestreckt hat. Vorher hatte man alle anderen sterben sehen. Das Sterben in der Gaskammer in Hollywooddramaturgie zu einer melodramatischen Pointe zu missbrauchen, ist doch äußerst fragwürdig. Wer wirklich etwas über das Innenleben eines Lagerkommandanten und seiner Familie wissen will, der sollte sich weiterhin an Theodor Kotullas Film von 1977 "Aus einem deutschen Leben" halten. In dem spielt Götz George mit kalter Präzision den Ausschwitzschlächter Rudolf Höß frei nach dessen Tagebüchern. Die Tabuzone Gaskammer betritt dieser Film nicht.