Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Der Hut ist die übliche Kopfbedeckung des türkischen Volkes"

Mustafa Kemal, Staatsgründer der modernen Türkei, orientierte die traditionelle Gesellschaft in den 1920er Jahren nach Westen. Die junge türkische Republik erlebte unter Kemal, auch Atatürk genannt, viele radikale Reformen. Aber keine war von so sichtbarer Symbolik wie die Einführung der europäischen Kleidung, die sich nicht auf den Hut beschränkte.

Von Niels Kadritzke | 25.11.2005
    "Der Hut ist die übliche Kopfbedeckung des türkischen Volkes. Die Regierung untersagt jede andere Art von Kopfbedeckung."

    So steht es in dem Gesetz, das vom türkischen Parlament am 25. November 1925 verabschiedet wurde. Das "Hutgesetz" war der Schlusspunkt einer politischen Kampagne, mit der Staatspräsident Mustafa Kemal seinem teils zögernden, teils renitenten Volk europäische Sitten beibringen wollte. Die junge türkische Republik erlebte viele radikale Reformen. Aber keine war von so sichtbarer Symbolik wie die neue Kleiderordnung, die sich nicht auf den Hut beschränkte.

    "Schuhe oder Stiefel an euren Füßen, Hosen an euren Beinen, darüber ein Hemd mit Kragen und Krawatte, Weste und Jackett. Und dazu eine Kopfbedeckung mit einem Sonnenschutz, die ich mit seinem richtigen Namen bezeichnen will: Man nennt es Hut."

    Mit solchen Erläuterungen begann Mustafa Kemal im Sommer 1925, die "international übliche Bekleidung" bis ins letzte Provinznest zu propagieren. Am 1. November verkündete der Staatschef vor dem Parlament:

    "Die Nation hat den endgültigen Beschluss gefasst, nach Form wie nach Inhalt die Lebensweisen und Usancen zu übernehmen, welche die moderne Zivilisation allen Nationen überantwortet hat."

    Die moderne Zivilisation sollte die "rückständigen" Sitten und Vorstellungen des Volkes überwinden. Der strenge "Vater der Türken" wollte eine zivilisierte Nation erzeugen - durch einheitliche Normierung von oben. So sieht es der Atatürk-Biograph Andrew Mango:

    "Während die Marxisten gegen die Klassenunterschiede kämpften, war Mustafa Kemal, der konsequenteste und radikalste aller türkischen Modernisierer, darauf aus, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebensweisen zu eliminieren – das heißt auch die Unterschiede in der Kleidung."

    Doch es ging nicht nur um textile Gleichmacherei. Der europäische Hut war die bewusste Alternative zum Fes, der traditionellen Kopfbedeckung der osmanischen Bürger:

    "Der Fes geht auf die roten weichen Filzkappen zurück, die von den Seeleuten der Mittelmeerregion getragen wurden. Die Tatsache, dass er keine Krempe hatte, machte ihn insbesondere für Muslimen geeignet, die bei ihren regelmäßigen Gebeten den Boden mit der Stirn berühren müssen."

    Für den Westen verkörperte der Fes die orientalische Rückständigkeit der Türken. Genau die wollte Kemal überwinden. Deshalb predigte er, den Panamahut in der Hand, in der anatolischen Provinz:

    "Wir werden zivilisierte Wesen werden. Wir werden in die Zukunft marschieren. Die Zivilisation ist ein schreckliches Feuer, das all diejenigen verschlingt, die es ignorieren."

    Die Drohung galt auch traditionell gekleideten Frauen. Zwar wurden Schleier und Kopftuch nicht verboten, außer in öffentlichen Gebäuden. Doch die Kampagne für europäische Sitten zeigte Wirkung, zumal in der städtischen Mittelschicht. Zehn Jahre später konnte man in der Londoner "Times" lesen:

    "Die modernen Frauen von Ankara haben sich der Zivilisation voll in die Arme geworfen. Sie rauchen, sie tanzen Tango, und sie haben schlanke und elegante Figuren."

    Eine moderne Europäerin war auch die erste First Lady der neuen Türkei, Kemals Ehefrau Latife. Das hinderte den strengen Reformer nicht, seine Frau auf traditionelle Art loszuwerden. Zwei Wochen vor Beginn der Kampagne, die den europäischen Hut in Anatolien verbreiten sollte, gab Kemal Pascha die Scheidung von Latife bekannt - nach muslimischem Recht, also durch schriftliche Kündigung seitens des Ehemannes.

    Eine Erziehungsdiktatur gegen die Tradition wird stets zwiespältige Resultate hervorbringen. Die Idee Atatürks, den Westen zu imitieren, war ein einfältiges und zu einseitiges Konzept.

    "Es dominierte die Vorstellung, dass die Schuld an der Armut und Schwäche des Landes bei den Traditionen, den religiösen Organisationsformen und überhaupt der alten Kultur zu suchen sei."

    So sieht es der Istanbuler Schriftsteller Orhan Pamuk, dem kürzlich der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Pamuk kritisiert, die kemalistische Ideologie verleugne einen Teil des geistigen und kulturellen Erbes, der ebenfalls zur türkischen Identität gehöre. Diese komplexe Identität sei ein Reichtum, der den Weg der Türkei nach Europa keinesfalls behindere. In seiner Frankfurter Rede hat er es so ausgedrückt:

    "Ich habe immer geglaubt, dass die Türkei auf ihr doppeltes geistiges Erbe stolz sein sollte, und nicht versuchen sollte, das eine über das andere zu stellen. Wenn wir die Kriterien für Menschenrechte, für Demokratie und ethische Geschäftspraktiken erfüllen, können wir der Europäischen Union auch mit unseren Schnurrbärten und Wasserpfeifen beitreten."