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Der Hype um ADHS

Der Philosoph Christoph Türcke kritisiert in seinem neuen Buch die "Aufmerksamkeitsdefizitkultur". Er sagt, nicht die einzelnen, hibbeligen Kinder sind krank, sondern eher unsere Gesellschaft.

Christoph Türcke im Gespräch mit Manfred Götzke | 06.06.2012
    Manfred Götzke: Wenn Kinder im Unterricht nicht das tun, was die Lehrer sich vorstellen, sondern Mitschüler mit Radiergummis bewerfen, permanent mit dem Stuhl kippeln oder sonstigen Quatsch machen, sind die dann besonders kreativ, schlecht erzogen oder vielleicht sogar krank? Es gibt Psychologen, die ganz schnell bei letzterem Befund sind: Diagnose ADHS, heißt es dann, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Die betroffenen Kinder müsse man behandeln, böse gesagt, ruhigstellen, mit Ritalin. Christoph Türcke hält diese Therapie für falsch, vielleicht, weil er nicht Mediziner, sondern Philosoph ist. Er sagt, nicht die einzelnen, hibbeligen Kinder sind krank, sondern eher unsere Gesellschaft. "Hyperaktiv – Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitskultur" heißt sein aktuelles Buch, und darüber möchte ich jetzt mit ihm sprechen. Guten Tag, Herr Türcke!

    Christoph Türcke: Einen schönen guten Tag!

    Götzke: Herr Türcke, hat also die gesamte Gesellschaft ADHS?

    Türcke: Zugespitzt könnte man das fast so formulieren, und zwar sage ich das nicht, weil ich Philosoph bin, sondern einfach nur, weil ich hinschaue. Sehen Sie doch selbst, ständig Mails checken, ständig nach SMS schielen, ständig von Bildmaschinen umgeben sein, die ruckartig ihre Einstellung ändern und die dauernd eine neue Einstellung auch von uns selber verlangen: Achtung, jetzt kommt dieses, Achtung, aufgepasst, jenes! Da habe ich jetzt keine Zeit dafür, muss ich unterbrechen, et cetera. Wenn eine solche Umgebung zur Dauer wird, dann ist doch die Aufmerksamkeit allmählich gesellschaftlich defizitär und nicht nur ein Krankheitszustand von Individuen, nicht? Also diese psychologisch-medizinische Diagnose unterstellt ja kranke Kinder in gesunder Umgebung. Aber schauen wir uns doch mal, lassen Sie uns doch mal diese Umgebung anschauen: Da ist doch ein allergrößter Zweifel dran angebracht, dass sie dieses Phänomen oder diese Störung enorm fördert.

    Götzke: Das heißt, die neuen Medien haben uns die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit genommen. Wie haben die eine solche Macht über uns erlangt?

    Türcke: Die neuen Medien selber natürlich nie, die sind nicht schuld, sondern immer nur der Umgang mit ihnen, der Umgang in einer ganz bestimmten Gesellschaft, was in unserem Fall eine globale, kapitalistische Gesellschaft ist, wo man ständig in Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit buhlen muss, sehen muss, dass man sie bekommt, dass man sie anderen abzwingt. Und damit hat eben zu tun, dass die Aufmerksamkeit ruckartig hin- und hergeworfen wird. Die neuen Medien, die potenzieren das nur in einer ganz bestimmten Weise, und da hat natürlich deren Struktur, also dieses ruckartige Agieren, ja, dessen Ursprung wir gleichsam im Bildschnitt des Films haben, einen entscheidenden Einfluss. Aber nicht in dem Sinne, die Medien sind an allem schuld – wir.

    Götzke: Man könnte das Ganze auch positiv wenden und sagen, durch die neuen Medien haben wir die Fähigkeit gewonnen, uns schneller auf neue Dinge einzustellen, uns auch mit verschiedenen Themen, Dingen gleichzeitig zu beschäftigen, wir können heute besser multitasken.

    Türcke: Ja, ja, das ist natürlich pure Fortschrittsideologie. Ein Stück weit dehnbar sind unsere Fähigkeiten, ja? Und das kann ich auch jedem empfehlen, sie zu dehnen, wie bei der Wirbelsäule, das ist auch gut, wenn man die dehnt, und trotzdem kriegen wir da nie ein Stückchen Gummi drauf, sondern die Dehnbarkeit, die ist sehr begrenzt. Einige Techniken haben wir uns längst angewöhnt, können wir alle, wir können Auto fahren und uns dabei unterhalten, auch eine gründliche Diskussion führen, das geht. Und bestimmte Dinge sind ein Stück weit kombinierbar wie – was weiß ich – ein Bild malen und Musik hören, das geht. Aber schon einen Sprechtext hören und selber einen schreiben zur gleichen Zeit, der mit ganz was anderem zu tun hat, das ist längst schon grenzwertig. Und die Vorstellung, mit dem Multitasking wird das immer besser, weil die Kinder das von klein auf ja gelernt haben, diese Vorstellung rechnet gewisse Anfänge hoch, ja, weil es ein Stück weit geht, geht es immer so weiter. Und das halte ich für eine vollkommen realitätsuntüchtige Einschätzung.

    Götzke: Wo sehen Sie selbst diese Aufmerksamkeitsdefizite in Ihrem Universitätsalltag? Sind die Studierenden, mit denen Sie zu tun haben, weniger aufmerksam?

    Türcke: Bei mir persönlich nicht so sehr, aber das hat auch damit zu tun, dass ich ganz bestimmte Veranstaltungsformen sehr begünstige, zum Beispiel Klausurtagungen, wo man sich vier Tage lang zurückzieht, abschottet, ohne WLAN und irgendwelche Schnickschnacks und sich nur mit einem Thema befasst. Und dann stellt sich heraus, wenn man das richtig macht und auch ein bisschen trainiert, das geht. Aber bestimmte Kollegen, die auch ihre Lehrveranstaltungen alle nur noch mit Powerpoint machen, nach dem Motto, wenn nicht ein Bild drunterliegt, dann hören die Studierenden gar nicht mehr zu, die erleben dann womöglich als Dank für diese Tätigkeiten, dass ihnen Studierende sagen: Lieber Professor, anderthalb Stunden Lehrveranstaltung hintereinander, nein, das halten wir nicht mehr durch, bitte ein bis zwei Pausen machen. Und dass auch früher mal Studierende unkonzentriert waren, einzelne, klar, das gab es. Aber dass ganze Gruppen das nicht nur zugeben, sondern daraus gewissermaßen hochschuldidaktische Konsequenzen ziehen und sagen, Professor, du bist ein didaktischer Hinterwäldler, wenn du dich da nicht auf uns einstellst, das halte ich für neu.

    Götzke: Herr Türcke, als Therapie schlagen Sie nicht Ritalin vor, sondern Rituale. Sie fordern für die Schule einen bestimmten Ritualunterricht. Ganz kurz zum Schluss: Wie soll der aussehen, wie soll das passieren?

    Türcke: Nicht einfach noch ein neues Schulfach zu allen anderen hinzu, sondern eine beruhigende Achse, die den ganzen Unterricht, und zwar von der Grundschule bis zum Abitur eingezogen werden soll, das jetzt nur ganz kurz für die Grundschule skizzieren: Da ging es darum, den gesamten Unterricht um regelmäßige kleine Aufführungen zu zentrieren, die in Abständen von – was weiß ich – drei bis vier Wochen stattfinden, wo alle Fächer integriert sind, nicht nur musischer Kram, und wo die Kinder genötigt sind, immer wieder gleiches zu machen, Dinge einzustudieren, dadurch lernen sie wiederholen, dadurch lernen sie eine bestimmte Form von Disziplinierung, die nicht als Disziplin von oben aufgedrückt wird, sondern von der Sache her passiert, sie selber fordert, und dabei lernen sie natürlich auch eine ganz bestimmte Form von Solidarität. Sie können ja bei Aufführungen immer nicht nur sich selbst blamieren, sondern auch die Klassenkameraden.

    Götzke: Herr Türcke, unsere Aufmerksamkeit leidet nicht, aber die Uhr tickt. Vielen Dank für das Gespräch! Christoph Türcke war das zu seinem neuen Buch "Hyperaktiv – Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitskultur".

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.