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Der Inbegriff des Vampirs

Bram Stokers "Dracula" ist ein Geniestreich. Das beweisen zum 100. Todestag des Autors gleich zwei Neuübersetzungen ins Deutsche. Die eine stammt von Ulrich Bossier, die andere von Andreas Nohl.

Von Sacha Verna | 20.04.2012
    Graf Draculas Ankunft in England war spektakulär:

    Mit schier unglaublicher Wucht (...) wurde die ganze Natur erschüttert. Die Wogen erhoben sich in wachsender Wut, jede noch höher als die vorige, bis sich binnen weniger Minuten die spiegelglatte See in ein tosendes, alles verschlingendes Ungeheuer verwandelt hatte. Schaumgekrönte Wellen stürzten sich wütend auf den Sandstrand und rasten die steilen Klippen empor; andere brachen über Molen und wischten mit ihrem Schaum über die Laternen der Leuchttürme (...). Der Wind brüllte wie Donner (...).

    So hieß es im Dailygraph. Weiter berichtete der Korrespondent, der ins Küstenstädtchen Whitby entsandt worden war:

    Wenig später entdeckte der Suchscheinwerfer in einiger Entfernung einen Schoner unter vollen Segeln (...). Am Steuerrad war ein Leichnam festgebunden, dessen Kopf bei jeder Bewegung des Schiffs schauerlich hin- und herpendelte. Der Schoner kannte kein Halten, sondern raste durch den Hafen und prallte auf die Masse aus Sand und Kies, die zahllose Gezeiten und viele Stürme angespült haben.(...) Jede Spiere, jeder Balken und jedes Tau standen unter größter Spannung, und ein Teil der Takelage krachte herunter. Aber seltsamerweise sprang in demselben Augenblick, als das Schiff den Strand berührte, von unten ein riesiger Hund an Deck, als sei er durch die Erschütterung nach oben katapultiert worden. Er machte einen Satz nach vorn und sprang vom Bug in den Sand. Dann rannte er auf direktem Weg zu jener Klippe, wo der Friedhof (...) steil (...) abfällt. Dort verschwand er in Dunkelheit.

    Natürlich wussten weder der Journalist noch die Schaulustigen in jener denkwürdigen Augustnacht, dass es sich bei dem schwarzen Hund um einen blutsaugenden Aristokraten aus Transsilvanien handelte.

    Noch viel weniger ahnte jemand die fantastischen Stürme voraus, die das Buch nach sich ziehen würde, aus dem die zitierten Zeilen stammen. "Dracula" erschien 1897 in England. Es war der vierte Roman des Iren Bram Stoker, der als Theatermanager in London arbeitete und nebenbei Geschichten über Mumien und mörderische Riesenwürmer verfasste. Das Werk erhielt bei seiner Veröffentlichung einige positive Kritiken, doch nichts deutete darauf hin, dass es in die Weltliteratur eingehen und in über fünfundvierzig Sprachen übersetzt werden würde. Stokers Todestag jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Mal und wird auf sämtlichen Kontinenten mit Festivals, Lesemarathons und "Dracula"-Neuausgaben begangen. Dracula ist Kult. Dracula ist der Inbegriff des Vampirs schlechthin. So hatte sich Bram Stoker sich die Unsterblichkeit seines Protagonisten wohl kaum vorgestellt. Den Erfolg erlebte er nicht mehr.

    Es gibt Vampirgeschichten vor und nach "Dracula". Davor erzählte man sich die Legenden über Vlad, den Pfähler, jenen walachischen Prinzen des fünfzehnten Jahrhunderts, der seine Feinde auf Holzpfählen aufzuspießen pflegte. Sie inspirierten Bram Stoker. Man kann noch weiter zurück und weit über Europa hinausgehen: zur indischen Göttin Kali, zu den römischen Empusae und den karibischen Loogaroos, zu Sekhmet im alten Ägypten und zu Japans Nukekubi. Zu allen Zeiten und überall haben Völker ihre Märchen über Untote gehabt, die sich vom Blut der Lebenden ernähren und ihre Opfer nach und nach ebenfalls zu Wesen ihrer Schattenwelt machen.

    "Dracula" hatte Vorläufer in Bram Stokers Umgebung: John Polidoris Erzählung "Der Vampir", James Malcolm Rymers Groschenroman "Varney the Vampire" und Joseph Shedrian Le Fanus "Carmilla, der weibliche Vampir". Bekannt war auch Guy de Maupassants Novelle "Le Horla". Aber erst Bram Stoker schuf mit "Dracula" den Archetypen des lüsternen Bösen, die Personifizierung von Tod und Eros.

    "Dieser Vampir, der unter uns weilt, ist für sich so stark wie zwanzig Männer. Er besitzt mehr als sterbliche Schläue, denn seine Schläue ist in Jahrhunderten gewachsen. Er hat die Gabe der Nekromantie, was, wie die Etymologie schon sagt, die Gabe ist, Tote über die Zukunft auszufragen. Und alle Toten, denen er nahekommt, stehen unter seinem Befehl. Er ist grausam und mehr als das. In seinen Gefühlen ist er kalt wie der Teufel, und kein Herz schlägt in ihm. Er kann innerhalb bestimmter Beschränkungen auftauchen, wann und wo er will und in jeder Gestalt, die ihm zu Gebote steht. Er kann innerhalb gewisser Grenzen die Elementen lenken: den Sturm, den Nebel, den Donner. All die tiefsten Kreaturen sind ihm zu Willen: die Ratte, die Eule und die Fledermaus – die Motte, der Fuchs und der Wolf. Er kann sich größer und kleiner machen. Und manchmal kann er sich unsichtbar machen, und keiner merkt, wenn er kommt."

    Das sagt Professor Abraham Van Helsing. Der weise Arzt aus Amsterdam ist der Kopf der Dracula Taskforce, die in Bram Stokers Roman gegen den Fürsten der Dunkelheit antritt.

    Professor Van Helsing, alias Bram Stoker verlieh Dracula ein Profil. Sein Gesicht erhielt Dracula allerdings erst im Film: in Friedrich Murnaus "Nosferatu" von 1922 und unvergesslich in Tod Brownings "Dracula" von 1931, in dem Bela Lugosi die Figur äußerlich prägte wie keiner vor oder nach ihm. Letzterer identifizierte sich so sehr mit seinem Part, dass er sich in einem schwarzen Umhang begraben ließ. Inzwischen ist "Dracula" zur meistadaptierten Vorlage der Filmgeschichte geworden. Es existieren Hunderte von Streifen, darunter solche, in denen selbst Draculas Töchter, Cou-Cousins und angeheiratete Großneffen zu Prominenz gelangen.

    In der Literatur hat sich Dracula nicht minder massenhaft fortgepflanzt. Allerdings reicht bis heute kein einziger seiner Sprösslinge auch nur an die spitzen Eckzähne des Originals. Weit, weit entfernte Verwandte wie "Abraham Lincoln: Vampire Hunter" von Seth Grahame-Smith würde der siebenbürgische Teufel zu Recht ignorieren.

    Bram Stokers "Dracula" ist ein Geniestreich. Das beweisen aus gegebenem Anlass gleich zwei Neuübersetzungen ins Deutsche. Die eine stammt von Ulrich Bossier, die andere von Andreas Nohl. Beide Übersetzer bemühen sich um größtmögliche Nähe zum Original, beide Übertragungen lesen sich mit Genuss. Doch soll hier jener von Andreas Nohl der Vorzug gegeben werden. Nohl gelingt es, das Original zu entstauben, ohne die stimmige Patina zu zerkratzen. Er beschwört den spätviktorianischen Geist, der den Ursprungstext prägt, ohne ins Altertümelnde abzudriften.

    "Dracula" ist ein Montageroman. Er besteht aus Tagebucheintragungen und Memoranden der Protagonisten, aus Briefen, Telegrammen, Logbüchern und Zeitungsausschnitten. Geschildert werden die Ereignisse, so die glänzend funktionierende Fiktion, unmittelbar und von Augenzeugen. Die unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven verleihen dem Text seine Lebendigkeit. Sie machen ihn so spannend.

    Die Leser um die vorletzte Jahrhundertwende waren fasziniert von Okkultismus, Spiritismus und Theosophie. Entsprechender Popularität erfreute sich der Schauerroman. Bestseller wie die von Wilkie Collins, aber auch Robert Louis Stevensons "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" hatte Bram Stoker bestimmt im Sinn, als er an Draculas Beißerchen feilte. Das Fehlen eines zentralen Erzählers war in der Gothic Novel durchaus üblich. Aber Stoker hat die gängigen Muster nicht einfach repliziert. Wie aus Puzzleteilen setzt sich bei ihm die Handlung zusammen. Der Leser weiß selten mehr als die Figuren. Doch vermag er zwischen den Zeilen zu lesen und erkennt Zusammenhänge, deren Erschließung durch die Akteure er desto ungeduldiger erwartet.

    Es beginnt mit Paprika-Hendl. Genauer: Mit Jonathan Harker, einem Anwalt, der zu einem Klienten in die Karpaten reist, um diesem bei der Regelung von Immobilienangelegenheiten für einen geplanten Umzug nach England behilflich zu sein:

    Wir fuhren zeitig ab und kamen nach Einbruch der Dunkelheit in Klausenburg an. Dort verbrachte ich die Nacht im Hotel Royal. Zum Abendessen oder besser Nachtmahl servierte man mir ein mit rotem Paprika gewürztes Hühnchen, das sehr gut war, aber durstig machte. (N.B.: Rezept für Mina besorgen.) Der Ober erklärte auf mein Befragen, es heiße "Paprika-Hendl" und sei ein Nationalgericht, ich würde es überall in den Karpaten bekommen.

    Die Reise wird umso unangenehmer, je näher Harker seinem unbekannten Ziel kommt. Während der Fahrt in einer Kalesche durch die Berge mehren sich die unheimlichen Vorzeichen:

    Auf einmal sah ich linker Hand eine schwache blaue Flamme flackern. Der Kutscher entdeckte sie im gleichen Moment. (...) Er ging schnurstracks zu der Stelle, wo die blaue Flamme aufgeflackert war – sie muss sehr schwach gewesen sein, denn nichts in ihrem Umkreis wurde von ihr erleuchtet - , und sammelte dort ein paar Steine und legte sie zu einer Art Zeichen zusammen. Ein anderes Mal beobachtete ich ein seltsames Phänomen: Als er zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie nicht, denn ich konnte ihre Spukgestalt durch ihn hindurchsehen. (...) Dann waren eine Weile keine blauen Flammen mehr zu sehen, und wir sausten durch die Finsternis, begleitet vom Geheul der Wölfe, die uns in kreisender Bewegung zu folgen schienen. (...) Auf einmal kam mir zu Bewusstsein, dass der Kutscher die Pferde im Hof einer riesigen Burgruine zum Stehen brachte, aus deren großen schwarzen Fensterhöhlen kein Lichtschein drang und deren verfallene Zinnen sich in einer gezackten Linie gegen den mondhellen Himmel abhoben.

    Dann die Begrüßung:

    Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss, das offenbar lange nicht benutzt worden war, und schließlich schwang die große Tür auf. Dahinter stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert (mit Ausnahme eines langen weißen Schnurrbarts) und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet – keine Spur von Farbe an ihm. In der Hand hielt er einen antiken Silberleuchter, dessen Flamme ohne den Schutz von Zylinder oder Glaskugel brannte. Im Luftzug der offenen Tür flackerte sie und warf lange zitternde Schatten. Der alte Mann winkte mich höflich herein und sagte in exzellentem, aber seltsam betontem Englisch: "Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ein, ungehindert und aus freien Stücken!" Er kam mir keinen Schritt entgegen, sondern stand dort wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn in Stein verwandelt. Doch in dem Augenblick, als ich die Schwelle überschritten hatte, kam er geradezu überschwänglich auf mich zu, reichte mir die Hand und drückte meine dabei so fest, dass ich vor Schmerz zusammenfuhr – eine Empfindung, die keineswegs dadurch gemildert wurde, dass sich die Hand eiskalt anfühlte – wie die Hand eines Toten.

    Was für ein Auftakt: vom toten Huhn zur toten Hand! Was für eine Kulisse: In solchen Passagen wird deutlich, dass "Dracula" ein Kind der Romantik ist - das verführerische Hirngespinst einer romantischen Vorstellungskraft, die nichts von ihrem Zauber eingebüßt hat.

    Jonathan Harker findet sich bald als Gefangener des Grafen wieder. Ihm gelingt die Flucht, doch während er sich in einem Krankenhaus von seinen Strapazen erholt, hat sich Dracula in England bereits sein erstes Opfer ausgesucht: Die süße, jungfräuliche Lucy Westenra, die an einem Tag gleich drei Heiratsanträge erhält, zwei davon ablehnt und in den Genuss des Ehelebens nicht mehr kommen wird. Lucy ist die beste Freundin von Mina, der künftigen Gattin Jonathan Harkers.

    So beginnen sich die Handlungsfäden zu kreuzen. Immer dichter wird das Geflecht: Die zwei, denen Lucy einen Korb erteilt hat, werden zusammen mit Lucys untröstlichem Liebsten Teil von Professor Van Helsings Truppe, die versucht, Graf Dracula den Garaus zu machen. Der Kampf tobt zunächst in London, doch Graf Dracula entwischt seinen Häschern, und der Showdown findet in seiner Heimat statt.

    Bram Stoker war ein Theatermann. Seine Figuren ringen die Hände, sinken auf die Knie und verzerren die Gesichter. Sie zucken zusammen, erbleichen, erröten und stoßen Schreie des Entsetzens aus. Ungefähr alle zehn Seiten werden feierliche Schwüre geleistet. Das klingt nach Kolportage, ist Kolportage und zwar Kolportage vom Feinsten.

    Die Männer sind in "Dracula" noch männlich und die Frauen feminin. Sie sind schön, schwach und die Güte selbst. Sie spenden Trost, machen Mut und müssen beschützt werden, wobei die starken Männer freilich regelmäßig versagen. Die Damen fallen in Ohnmacht und sorgen für ein kräftigendes Frühstück, auch wenn sie kurz zuvor geschändet worden sind. Emanzen haben bei Bram Stoker keinen Platz. Das hält den Autor jedoch nicht davon ab, Mina Harker mit einem messerscharfen Verstand auszustatten.

    Außerdem tippt und stenografiert Mina wie eine Weltmeisterin. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil Sekretärinnen die Vorhut der unabhängigen und selbstständigen "Neuen Frau" bildeten, von der Mina einmal abschätzig spricht. Es ist vielmehr von geradezu metafiktiver, da erzähltechnischer Bedeutung: Mina bündelt die disparaten Berichte der Einzelnen und gleicht Daten ab, sodass Van Helsing und seine Mitstreiter sowie die Leser mit sämtlichen Fakten ins Gefecht ziehen können. Dass Mina Dracula selber zum Opfer fällt und ab einem bestimmten Punkt als Doppelagentin fungiert, verstärkt den Reiz und die Ambivalenz ihrer Rolle.

    Zwei Ärzte, ein Amerikaner, ein Anwalt und ein Lord - Rationalität, Pragmatik, Recht und gesellschaftliche Ordnung: Bram Stokers Vampirjäger verkörpern die zentralen Werte des Westens. Ihnen gegenüber stehen Irrationalität, ungehemmte Begierde und Anarchie in der Gestalt Draculas. Und noch viel mehr: Es gibt keinen allegorischen Schauer, der den Dandy aus dem Totenreich nicht schon benetzt hätte. Er stellt die Bedrohung aus dem Osten dar, das Fremde, den Immigranten, den Juden aus dem Schtetl, vor dessen Eindringen sich das Großbritannien Bram Stokers fürchtete. Er ist der Antichrist, der Spuk, der die Moderne heimsucht, das Irrlicht, das den Fortschritt aus dem Takt bringt. Und natürlich ist er eines: Sex, Sex, Sex.

    (...) wir erkannten sofort den Grafen (...) Mit der Linken hielt er beide Hände von Mrs. Harker fest und streckte ihre Arme von sich weg. Mit der Rechten hatte er sie am Genick gepackt und zwang ihr Gesicht hinunter an seine Brust. Ihr weißes Nachthemd war blutverschmiert, und ein dünnes Rinnsal lief über seine nackte Brust, die unter dem zerrissenen Hemd zu sehen war. Die Haltung der beiden hatte eine scheußliche Ähnlichkeit mit einem Kind, das ein Kätzchen in den Milchnapf drückt, um es zum Trinken zu bewegen. (...) Seine Augen funkelten rot vor teuflischer Leidenschaft, die großen Nüstern der weißen Adlernase blähten sich und bebten, und die weißen, scharfen Zähne hinter den vollen Lippen seines bluttriefenden Mundes schlugen aufeinander wie die eines wilden Tieres.

    Oh heilige Unschuld: Kein Wunder, dass sich Freudianer und andere Es-Entfessler in diesen Stoff verbissen haben. Dracula ist das Unbewusste mit Supermodelpotenzial, die perverse Kehrseite der Prüderie, ein Marquis de Sade mit Gruftgeruch. Dacula:

    (... ) du bist jetzt Blut von meinem Blut, bis von meiner Art, bist für eine Weile meine üppig schäumende Weinkelter und sollst später meine Gefährtin und Gehilfin sein.

    Mina:

    Unrein, unrein! Selbst der Allmächtige meidet mein besudeltes Fleisch!

    Im Vergleich zu solchen Szenen wirken selbst die expliziten Abenteuer von Anne Rices Lestat wie Doktorspiele, homoerotisches Kitzeln und Hard-Core-Ambitionen hin oder her. Bram Stoker wagt sich noch weiter:

    Das Wesen im Sarg krümmte sich, und die roten Lippen öffneten sich zu einem grässlichen, markerschütternden Kreischen.

    Bei dem Wesen im Sarg handelt es sich um Draculas erstes Opfer, die Untote Lucy Westenra, der ihr sehr lebendiger Geliebter Arthur gerade einen Holzpflock durchs Herz treibt:

    Der Körper zitterte und schüttelte und wand sich in wilden Verrenkungen. Die scharfen, weißen Zähne schnappten zu, bis sie die Lippen zerschnitten hatten, und aus dem Mund trat roter Schaum. Doch Arthur wankte nicht. Er sah aus wie eine Verkörperung von Thor, als sein Arm sich hob und niederfiel, um den gnadenvollen Pflock immer tiefer einzurammen, während das Blut aus dem Herzen hervorquoll. Sein Gesicht strahlte Entschlossenheit aus und war beseelt von heiliger Pflichterfüllung. (...) Und dann ließen die Verrenkungen des Körpers nach, die Zähne bissen nicht mehr, und das Gesicht wurde ruhig.

    So penetrieren Pornografen mit Stil.

    Aber ach: Tempi passati. Die Vampire von heute sind Abstinenzler, in jeder und vor allem in geschlechtlichen Beziehungen. Die milchgesichtigen Sarghüpfer in Stephenie Meyers "Twilight"-Saga mögen Teenagerherzen höher schlagen lassen, doch über verkrampftes Händchenhalten gehen Sinnlichkeit und Sünde darin nie hinaus. In "True Blood", der erfolgreichen amerikanischen Fernsehserie, die auf den Vampirschmökern von Charlaine Harris basieren, darf die Protagonistin Sookie ihren lichtscheuen Lover Bill zwar innig umarmen, aber die innige Umarmung bleibt ohne Biss. Buchstäblich. Denn die jüngste Vampirgeneration trinkt nicht einmal mehr Blut. Wenigstens kein menschliches: In "Twilight" ernähren sich die Vampire von Tierblut und in "True Blood" von synthetischem Blut. Vermutlich müssten sie in einer Bar sogar erst ihren Ausweis vorweisen, wenn sie ein 0 Negativ on the Rocks verlangen.

    Jede Epoche hat die Vampire, die sie verdient. Begreift man Dracula als Ausdruck der unterdrückten Sehnsüchte und Ängste einer Gesellschaft, gehört die unsere dringend auf die Couch: Die Nosferatus der Gegenwart wagen sich nicht einmal mehr in den sicheren Gefilden der Literatur und der Unterhaltungsindustrie auszutoben.

    "Dracula" ist ein gelungener Roman, weil er Schwächen hat. Er steckt voller Widersprüche. Wie kommt es, so fragt man sich, dass sich als wirksamste Waffen gegen Dracula letztlich nicht die Errungenschaften der Aufklärung, sondern Knoblauch und Kruzifixe erweisen? Van Helsing höchstselbst betont immer wieder, dass man gerade in einer Zeit, die von der Existenz einer verbindlichen Realität überzeugt ist, das Irrationale nicht ausschließen darf.

    "Draculas" Helden sind eigentlich keine. Van Helsing und seine Kameraden strotzen zwar vor Vernunft, Tat- und Manneskraft. Doch die wahre Heldin ist zweifellos Mina. Ihr Handeln und ihr Denken ermöglichen das glückliche Ende des Romans, obschon das Gift ihres diabolischen Gegners bereits in ihren Adern pocht. Allein dafür verdient "Dracula" einen Ehrenplatz in den Grundkursen aller Genderstudies.

    Manchmal kippt "Dracula" auch einfach ins Lächerliche. Bram Stokers Bemühen um die Illusion der Unmittelbarkeit wurde bereits erwähnt. So verbringt Lucy Westenra einmal eine besonders schreckliche Nacht. Zuerst kracht ein Wolf durchs Fenster ihres Zimmers und hinterlässt einen Haufen Scherben und kaputte Nerven. Darauf erleidet Lucys Mutter, die mit ihrer Tochter im Bett liegt, einen Herzinfarkt und stirbt, wobei sie Lucy fast unter sich begräbt. Als wäre das noch nicht genug, erscheint auch noch Dracula in Nebelform und geht Lucy an den Hals. Und was tut das arme Mädchen? Es ruft nicht etwa um Hilfe oder läuft zu den Nachbarn oder verfällt ihn einen lähmenden Schockzustand. Nein: Lucy setzt sich hin und verfasst ein Memorandum, in dem sie das Vorgefallene Moment für Moment festhält. Wie gut, dass Bram Stoker über so pflichtbewusstes Personal verfügt.

    Gott steh mir bei!

    ...lautet Lucys frommer letzter Wunsch. Gott tut natürlich nichts dergleichen. Der lässt Dracula den Vortritt, und der Leser dankt es ihm herzlich.

    Bram Stoker: Dracula. Roman. Herausgegeben, neu übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Andreas Nohl. Steidl Verlag, Göttingen 2012. 590 Seiten. 28 Euro.

    Bram Stoker: Dracula. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Bossier. Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel. Reclam Verlag, Stuttgart 2012. 606 Seiten. 24,94 Euro.