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Der Islam jenseits des Extremismus

Der Islam wird heute oft mit Gewalt und Krieg in Verbindung gebracht. Dass es jedoch auch in dieser Weltreligion viele Beispiele eines gewaltlosen Weges gibt, die in der Medienberichterstattung meist unerwähnt bleiben, hat jetzt eine Tagung an der Evangelischen Akademie im Rheinland beleuchtet.

Von Peter Leusch | 22.11.2012
    Muhammed Murtaza: "Du kannst mich ermorden, aber ich werde nicht meine Hand gegen dich erheben."

    Mit diesen Worten wendet sich Abel im Koran an seinen mordlüsternen Bruder Kain und schwört jeglicher Gewaltanwendung ab, sogar die zur Selbstverteidigung. Muhammed Murtaza, Islamwissenschaftler bei der Stiftung Weltethos, zitiert diese Stelle aus dem Koran, wo die Söhne Adams allerdings keinen Namen tragen. Der Satz sei nämlich eine Schlüsselstelle, er enthalte die zentrale Botschaft des Islam nach dem pazifistischen Verständnis des zeitgenössischen muslimischen Gelehrten Jawdat Said aus Syrien. Muhammed Murtaza:

    "Dadurch dass der Koran ihnen keine Namen gibt, sie also namenlos bleiben, deutet Said das nicht als eine historische Episode, sondern als eine ungeschichtliche Urgeschichte, die etwas über das Menschsein zu allen Zeiten ausdrückt. Darin sieht er das Ethos eines gewaltlosen Islam, das er eben vertritt, das aber auch in letzter Konsequenz bedeutet, die Bereitschaft für dieses Ethos ermordet zu werden. Denn er hebt sogar das Recht auf Selbstverteidigung auf."

    Natürlich hat man Jawdat Said gefragt, wie seine Interpretation eines islamischen Gewaltverzichts mit anderen martialischen Sätzen im Koran zusammenpasse. Said erklärt, die Aussagen im Koran seien deshalb widersprüchlich, weil sie aus zwei verschiedenen Phasen der Religionsgründung stammen, nämlich vor und nach Mohammeds Flucht von Mekka nach Medina.

    Muhammed Murtaza: "In Mekka – das zeigen auch alle historischen Zeugnisse – war den Muslimen jegliche Form von Gewalt untersagt, und er sagt eben, daraus lernt man, dass eine muslimische Minderheit in einer nichtmuslimischen Gesellschaft niemals Gewalt anwenden darf, um ihre Ziele durchzusetzen. Durch die Auswanderung nach Medina in ein mit dem Willen der Bevölkerung gebildeten Stadtstaat ändert sich die Situation, denn dieser Stadtstaat wird von außen angegriffen, mit dem Ziel die Bevölkerung zum alten heidnischen Glauben zurückzubringen, und da ist die Verteidigung erlaubt."

    Said schaut also nicht nur auf die religiösen Texte, sondern auch auf die Geschichte einer Religionsgemeinschaft, um ihr Verhältnis zu Macht und Gewalt zu erklären. Während die frühchristlichen Gemeinden als Minderheiten im Römischen Reich lebten, immer wieder der Verfolgung ausgesetzt waren, und das Christentum erst dreihundert Jahre später Staatsreligion wurde, gelang dies dem Islam bereits in der ersten Generation. Als Mohammed starb, war die gesamte arabische Halbinsel islamisch.

    Dieses Spannungsverhältnis zwischen religiösem Gehalt und politischem Machtanspruch prägt den Islam in besonderer Weise, erläutert der Erlanger Islamwissenschaftler Reza Hajatpour:

    "Deswegen möchte ich auch differenzieren zwischen Religion als Institution, als Staat - und Religion als Glaube. Die ursprüngliche Botschaft des Islam unterscheidet sich vom institutionalisierten Islam, und die Urbotschaft ist - wie es auch im Koran steht: 'Gott sagt zum Propheten, man hat dich geschickt wegen der Barmherzigkeit, du hast keine andere Aufgabe außer Barmherzigkeit.'"

    Ungeachtet dieser Elemente von Friedfertigkeit und Toleranz bezieht Reza Hajatpour im Blick auf den Koran insgesamt eine abwägende und kritische Position:

    "Wir können jetzt nicht sagen, Islam ist eine pazifistische Religion bzw. ich kenne kaum eine Religion, die pazifistisch ist, die Religionen haben ihre friedliche, ihre tolerante Seite, aber auch ihre kritische Seite und das können wir auch aus dem Koran herauskristallisieren - beide Seiten."

    Deshalb hängt so viel von der Interpretation des Koran ab. Welche Stellen werden hervorgehoben, aus welchem historischen Kontext und wie werden sie auf die Gegenwart bezogen. Auf eine entschieden pazifistische Weise hat dies der muslimische Weggefährte Mahatma Gandhis, der Paschtune Badscha Khan getan, wenn er sagt:

    "Ein guter Muslim ist jemand, der weder mit Worten noch mit Taten anderen schadet."

    Der Mediziner Yahya Wardak engagiert sich im Afghanistan Information Center, einem Verein, der sich bemüht, die Person Badscha Khan und ihren gewaltfreien Weg wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken:

    "Badscha Khan wurde 1890 im damaligen Indien in der Nähe der Stadt Peschawar, das ist das Grenzgebiet von Afghanistan, geboren, und er hat damals die Unterentwicklung, die Bildungsferne, die Gewalt unter seinem Volk beobachtet und die Ungerechtigkeit und Kriege - daraus hat er Lösungsansätze entwickelt, wie die Gründung von Schulen, wo nicht nur Religion unterrichtet wurde, sondern auch andere Fächer, und den gewaltlosen Widerstand unter Muslimen bzw Afghanen gegen die Engländer."

    Badscha Khan war ein Mann der Tat, Jawdat Said ein Mann des Wortes. Die beiden islamischen Pazifisten sind verschieden, aber sie teilen ein gemeinsames Schicksal. Beide sind marginalisiert, in den westlichen Medien ebenso wie in ihren Heimatländern. Die Stimme des 81jährigen Said hört man nicht im syrischen Bürgerkrieg, und über den einst so berühmten Badscha Khan wird in Afghanistan heute kaum gesprochen. Immerhin ist in diesem Jahr endlich seine AutoBiografie "Mein Leben" auf Deutsch erschienen.

    Yahya Wardak: "Das ist zum ersten Mal, dass wir Badscha Khan und die Gewaltlosigkeit im Islam dem deutschen Leser zugänglich machen, es gab bisher kaum etwas auf Deutsch über diese wichtige und faszinierende Persönlichkeit."