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Der jüdische Fußballer Julius Hirsch

Gefeiert, verfolgt, ermordet – und dann vergessen? Dieses Schicksal haben unzählige jüdische Sportlerinnen und Sportler erlitten. So auch der Fußballer Julius Hirsch, der für die Nationalmannschaft spielte und 1912 bei den Olympischen Spielen in Stockholm dabei war.

Von Herbert Fischer-Solms | 03.06.2012
    An diesem Freitag hatte die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau Besuch aus Deutschland. Eine Delegation des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der unter anderen Verbandspräsident Niersbach, Bundestrainer Löw sowie die Nationalspieler Philipp Lahm, Miroslav Klose und der in Polen geborene Lukas Podolski angehörten, besichtigten das während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur größte Vernichtungslager des NS-Regimes. Nach Schätzungen wurden dort etwa 1,1 Millionen Menschen umgebracht, darunter eine Million Juden. Man wolle ein Symbol geben, hatte Mannschaftskapitän Lahm gesagt:

    "Auch wenn wir nicht die Generation sind, die verantwortlich ist, wollen wir zeigen, dass wir unsere Geschichte kennen und dafür Verantwortung übernehmen."

    Die deutsche Nationalmannschaft bezieht an diesem Montag im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft mit Doppelgastgeber Polen und Ukraine ein Trainingslager in der Nähe von Danzig.

    Die Öffentlichkeit blieb bei der DFB-Visite in Auschwitz ausgeschlossen, was von einigen Seiten kritisiert wurde, auch vom ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedmann. Man wolle daraus keine PR-Aktion machen, verlautbarte der DFB, daher erfolge der Besuch auch nicht innerhalb des laufenden Turnieres. Während der EM-Vorbereitung seien die Nationalspieler durch Expertenvorträge mit der deutschen Geschichte vertraut gemacht worden. Da war die größte Panne aber schon nicht mehr ungeschehen zu machen. Der Deutsche Fußball-Bund hatte schriftlich dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages in Berlin schon mal vorab mitgeteilt, man werde die, so wörtlich, "Nazi-Gedenkstätte in Auschwitz" besuchen.

    Geschichte kann ein glattes Pflaster sein, vor allem, wenn man sich sonst auf völlig anderem Parkett bewegt. Als Auschwitzbesucher Wolfgang Niersbach noch nicht Präsident, aber schon DFB-Pressechef war, hatte er auf eigene Art 1994 die Diskussion um die höchst fragwürdige Austragung eines Länderspiels zwischen Deutschland und England am 20. April, Hitlers Geburtstag, befeuert, indem er aufgrund der amerikanischen Presseberichte eine jüdische Weltverschwörung feststellte. "Der 20. April steht bei uns nicht auf dem Index", meinte Niersbach, "80 Prozent der amerikanischen Presse sind in jüdischer Hand, da werden die Ereignisse in Deutschland seismografisch genau notiert".

    Es gibt nicht viele Bücher, die sich scheinbar vorrangig an ein Fußball- oder Sportpublikum richten und in ähnlich eindrucksvoller Weise Nachhilfeunterricht in deutscher Geschichte leisten wie das vorliegende zu Julius Hirsch. Auch die Geschichtswissenschaft hat das Engagement von Juden in Turn-und Sportvereinen vor und während des Nationalsozialismus bislang weitestgehend vernachlässigt. Soeben sind für den Bereich Bremen und Niedersachsen erstmals Lokalstudien vorgelegt worden, die zeigen, auf welch vielfältige Weise sich Juden vor 1933 in paritätischen Vereinen engagierten und dann meist noch im Jahr der NS-Machtübernahme aus ihren Vereinen ausgeschlossen wurden.

    Gefeiert, verfolgt, ermordet – und dann vergessen? Dieses Schicksal haben unzählige jüdische Sportlerinnen und Sportler erlitten, auch die ganz Großen wie die Turner Alfred und Gustav Felix Flatow, wie Gottfried Prenn aus dem deutschen Davis-Cup-Team oder eben der Fußballer Julius Hirsch. Werner Skrentny, Jahrgang 1949, lebt als freier Journalist in Hamburg und ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Stadt-, Sozial- und Sportgeschichte, für seine Recherchen erhielt er von der Kulturstiftung des DFB eine recht bescheidene finanzielle Unterstützung. Seit rund 20 Jahren arbeitet Skrentny an diesem Thema, entstanden ist eine mitreißende bewegende Schilderung in einer Detaildichte, die ihresgleichen sucht.

    Julius Hirsch wird am 7. April 1892 als jüngstes Kind des jüdischen Textil-Kaufmanns Berthold Hirsch und seiner Frau Emma geboren. Mit zehn Jahren wird er Mitglied im Karlsruher FV, eine der besten Adressen im sich soeben organisierenden Fußballsport in Deutschland. Noch 1924 preist die Zeitschrift "Fußball" hymnisch das Auftreten des Karlsruher FV:

    "Ein einfach feiner Dress, schwarze Hosen, weißes bauschiges Hemd und mit einem Vereinswappen über dem Herzen. Dicke, graue Wollstrümpfe, die oben in die schwarzroten KFV-Farben ausliefen und dort zu dicken Wulsten umgedreht wurden. Elegante Kleidung, ungewöhnliche Intelligenz und Eigenart hätten die Spieler ausgezeichnet, die "im gesellschaftlichen und beruflichen Leben erste Posten" innegehabt hätten."

    Seinerzeit war Fußball noch eine sportliche Beschäftigung von jungen Männern, die in einer guten sozialen und finanziellen Position waren. Erst später, als dies die Arbeitszeiten der arbeitenden Bevölkerung zuließen, kam das proletarische Moment immer stärker in den anfangs noch als "Fußlümmelei" verspotteten Ballsport.

    Mit 17, im März 1909, wird Julius Hirsch erstmals in die erste Mannschaft berufen, beim 4:0 über den Deutschen Ex-Meister Freiburg erhält er "anerkennendes Lob", zwei Monate später, gegen Alemannia Karlsruhe, schießt er sein erstes Tor. Der 1,68 Meter kleine, schnelle und trickreiche Angriffsspieler gilt als "rechts wie links treffsicher". Später rückt er von Linksaußen als Halblinker in den Innensturm, neben seinen jüdischen Freund, den Mittelstürmer Gottfried Fuchs.

    "Lauter Intelligenzspieler, die ihre Kräfte rationell einzuteilen wussten und einen Stil prägten, der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland unerreicht blieb", heißt es in der KFV-Chronik.

    1910 holte sich der Karlsruher FV zum ersten und einzigen Male die Deutsche Fußball-Meisterschaft in Köln durch ein 1:0 nach Verlängerung gegen Holstein Kiel.

    1911 feiert Hirsch beim 1:4 gegen Ungarn in München sein Länderspieldebüt. Im März 2012 beim Länderspiel in Zwolle gegen die Niederlande, Endstand 5:5, schießt er als erster deutscher Nationalspieler vier Tore in einem Spiel, Fachleute sprechen von einem der besten Länderspiele der deutschen Nationalmannschaft vor dem Ersten Weltkrieg.

    Es folgt die Nominierung für die Olympiamannschaft bei den Sommerspielen 1912 in Stockholm. Hirsch steht in zwei der drei Partien der deutschen Elf auf dem Platz, die allerdings gegen Österreich mit 1:5 und Ungarn mit 1:3 verloren wurden. Er fehlt beim 16:0-Sieg gegen Russland, bei dem Gottfried Fuchs mit zehn Toren den noch heute gültigen Länderspielrekord hält.

    Vom 1. April 1912 an absolviert Hirsch eine einjährige Dienstzeit als Freiwilliger beim 1. Badischen Leib-Grenadier-Regiment Nr. 109. Danach wechselt er, wohl aus beruflichen Gründen, nach Nürnberg. Seine Fußballkarriere setzt er bei der Spielvereinigung Fürth fort und knüpft nahtlos an seine außergewöhnlichen Leistungen an. 1914 wird die Mannschaft um Julius Hirsch Deutscher Meister nach einem 3:2-Sieg nach Verlängerung gegen den VfB Leipzig.


    Die "Fürther Zeitung" schwärmt:

    "Hier liegt der unermessliche erzieherische Wert, wie man ihn nur beim Militär noch findet. Ein Kampf im Kleinen auf Leben und Tod!"

    1913 folgen drei weitere Berufungen zu Länderspielen gegen die Schweiz, Dänemark und Belgien.

    Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wird Julius Hirsch zum Militärdienst eingezogen, bei Kriegsende hat er den Rang eines Vizefeldwebel und wird unter anderem mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet. Er und sein Nationalmannschaftskollege Gottfried Fuchs bleiben unversehrt, hingegen haben 66 Kameraden aus den Reihen des Karlsruher FV ihr Leben gelassen.

    Mit seiner Entlassung aus dem Militärdienst spielt Hirsch noch ein Jahr für Fürth, dann wird er im, wie berichtet wird, "festlich geschmückten Kronprinzensaal" als "ausgezeichneter Sportmann und lieber Freund", der eine "bitter fühlbare Lücke" hinterlasse, feierlich verabschiedet.

    "Hirsch dankt in vornehmer Bescheidenheit und ermahnt, treu zu bleiben dem Prinzip, anständige und faire Spieler zu sein und niemals zu vergessen, dass der Fußballsport ein Kampfspiel zur Erhaltung und Kräftigung der Gesundheit sei und nicht ein Stiefkampf, wie man es anderwärts aufzufassen scheine."

    So notiert in der "Nordbayrischen Zeitung".

    1953 wird die Spielvereinigung Fürth ihr 50-jähriges Bestehen feiern, Ehrenschirmherr ist der Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard. Julius Hirsch findet keine Erwähnung, weder als Fürther Nationalspieler noch als der Mann, der die Spielvereinigung zur ersten deutschen Meisterschaft geführt hat.

    Als Fußballer spielt er ab 1919 wieder für den Karlsruher FV, 1925 beendet er seine aktive Laufbahn. Beruflich ist er ins Unternehmen seines Vaters gewechselt, das sich auf die Fabrikation von Sportartikeln und Lederwaren spezialisiert hat. Die Marke "Hirsch" wird unter anderem für Lederfußbälle weltbekannt. Hirsch ist angekommen in der gehobenen Mittelschicht. 1920 heiratet er Ella Karolina Hauser, eine gebürtige Karlsruherin, die als Chefverkäuferin in einem Textilfachgeschäft arbeitet, aus der Ehe gehen die Kinder Heinold Leopold und Esther Carmen hervor. Ella Hauser ist evangelisch, die gemeinsamen Kinder werden dennoch jüdisch erzogen. Hirsch wohnt mit der Familie in der Weststadt und firmiert im Karlsruher Adressbuch als Fabrikant.

    Aber, die Weltwirtschaftskrise beutelt das Unternehmen, im Februar 1933 wird das Konkursverfahren eröffnet – drei Jahrzehnte Firmengeschichte sind damit zu Ende. Eine Anstellung als Trainer im Elsass ist nur von kurzer Dauer. Hirsch ist arbeitslos. Er hat nur noch seine Reputation als Fußballer: Zweimal ist er Deutscher Meister geworden, er hat vier süddeutsche Meisterschaften gefeiert und ist siebenmal für die deutsche Nationalmannschaft angetreten, davon zweimal bei Olympischen Spielen.

    Am 30. Januar 1933 erfolgt die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Welche Folgen das für den Sport hat, teilt "Der Sportbericht" am 27. März unter der Rubrik "Allerlei" mit:

    "Ein Vorstandswechsel hat sich bei Bayern München vollzogen. Der langjährige und erfolgreiche Leiter des Münchner Klubs, Kurt Landauer, hat seinen Rücktritt erklärt."

    Landauer ist Jude, Hirsch weiß das, man kennt sich.

    Der Deutsche Fußballbund und die Deutsche Sportbehörde veröffentlichen am 19. April 1933 im Verbandsorgan "Kicker" eine amtliche Bekanntmachung, in der sie ihren Untergliederungen und Vereinen mitteilten:

    "Der Vorstand des DFB und der Vorstand der Deutschen Sportbehörde halten Angehörige der jüdischen Rasse, ebenso auch Personen, die sich als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt haben, in führenden Stellungen der Landesverbände und Vereine nicht für tragbar. Die Landesverbände und Vereine werden aufgefordert, die entsprechenden Maßnahmen, soweit diese nicht bereits getroffen wurden, zu veranlassen.".

    Bereits am 10. April liest Julius Hirsch im "Sportbericht" auf Seite eins das Folgende:

    "Die unterzeichneten Vereine stellen sich freudig und entschieden den von der nationalen Regierung auf dem Gebiete der körperlichen Ertüchtigung verfolgten Bestrebungen zur Verfügung. Sie sind gewillt, im Sinne dieser Mitarbeit alle Folgerungen, insbesondere in der Frage der Entfernung der Juden aus den Sportvereinen, zu ziehen."

    Der Kreis der unterzeichnenden Vereine liest sich wie das "Who is who" des südwestdeutschen Fußballsports: Stuttgarter Kickers, Karlsruher FV, Phönix Karlsruhe, Union Böckingen, FSV Frankfurt, Eintracht Frankfurt, 1. FC Nürnberg, SpVgg Fürth, SV Waldhof, Phönix Ludwigshafen, Bayern München, 1860 München, FC Kaiserslautern und FC Pirmasens.

    Dass auch sein Verein, der KFV, dem Ausschluss der jüdischen Sportler mit zugestimmt hat, erfährt Julius Hirsch also aus der Zeitung. Um seinem Ausschluss zuvor zu kommen, erklärt Julius Hirsch in seinem Schreiben vom 10. April 1933 an den KFV seinen Austritt. Es ist eines der erschütterndsten Dokumente der deutschen Fußballgeschichte:


    "Ich lese heute im Sportbericht Stuttgart, dass die großen Vereine, darunter auch der KFV, einen Entschluss gefasst haben, dass die Juden aus den Sportvereinen zu entfernen seien. Ich gehöre dem KFV seit dem Jahre 1902 an und habe demselben treu und ehrlich meine schwache Kraft zur Verfügung gestellt. Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass in dem heute so gehassten Prügelkind der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die 'Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene' deutsche Juden gibt.

    Nur aus diesem Grunde und nicht um mich zu brüsten, will ich ihnen nachstehenden Beweis erbringen:

    1. Leopold Hirsch, ehemals Karlsruher Fußballverein, aktiv beim 1. Badischen Leib Grenadier Regiment, auch auf dem Gefallenendenkmal des KFV stehend. Von 1914 bis 1918 im Felde beim 94. Reserve Infanterie Regiment. Besitzer Eisenkreuz II. Klasse und verschiedener anderer Orden. Gefallen auf dem Felde der Ehre am 30.6.1918 am Kemmel.

    2. Max Hirsch, nicht aktiv gedient, meldet sich 1914, obwohl nur ein Auge, freiwillig aus der Schweiz zum Kriegsdienst. Im Felde von 1915/18 bei einer Ahrendt-Station in vorderster Front. Besitzer Eisenkreuz II. Klasse und der badischen Silbernen Verdienst-Medaille.

    3. Rudolf Hirsch, aktiv gedient beim Telegrafenbataillon in Karlsruhe. Im Felde von 1914-1918 bei der bayrischen Fliegenden Division Kneisel. Besitzer Eisenkreuz I. Klasse und der bayrischen Tapferkeitsmedaille.

    4. Julius Hirsch, aktiv beim 1. Badischen Leib Grenadier Regiment 109 1912/13. Von 1914 bis 1918 im Felde beim 12. bayrischen Landwehr Infanterie Regiment. Besitzer Eisenkreuz II. Klasse und der bayrischen Dienstauszeichnung.

    Anbei noch eine Trauerrede, die ich mir zurück erbitte, anlässlich der Überführung meines Bruders selig Leopold am 6. Juni 1918.

    Gleichzeitig danke ich der KFV-Jugendabteilung für die freundliche Einladung der Jugendabteilung und bedauere lebhaft, das Amt des Beisitzers im Preisgericht nicht übernehmen zu können. Die Einladung anbei zurück.

    Ich befinde mich zurzeit in einer wirtschaftlich prekären Lage und darf wohl die verehrliche Vereinsleitung bitten, mir den noch schuldigen Beitrag zu erlassen, denn ich habe ja noch nie vom KFV in geldlicher Hinsicht Vorteile gehabt.

    Ich zeichne mit sportlichem Gruß
    Gez. Julius Hirsch"


    Weil Julius Hirsch nach dem Zusammenbruch seiner Firma seine Zukunft als Sportlehrer beziehungsweise Fußballtrainer sieht, bittet er noch im April 1933 um Referenzen. Der DFB schickt ihm wenige Zeilen und bestätigt kühl:

    "In Erledigung Ihres Schreibens bestätigen wir Ihnen hiermit, dass Sie nach unserer Statistik siebenmal in der Nationalelf Verwendung gefunden und zweimal an den Spielen in Stockholm teilgenommen haben."

    Hirsch stellt sich ab 1934 dem jüdischen Turnclub Karlsruhe 03 als Trainer und Spieler zur Verfügung. Der TCK 03 ist neben Hakoah der Verein in der Stadt, in dem sich Juden noch sportlich betätigen können.

    Über die Begegnung gegen RJF Heilbronn wird berichtet:

    "Im Übrigen war es packend zu sehen, wie Karlsruhes Hintermannschaft mit dem 43-jährigen Juller Hirsch als Turm in der Schlacht, der bereits Deutschlands Farben zehnmal international vertreten hat, in meisterhafter Weise die zahlreichen Angriffe des Heilbronner Sturm abstoppte."

    Beruflich flüchtet er sich bis 1936 in die Selbstständigkeit als "Vertreter in Manufakturen und Wäsche", dann schlägt er sich für ein knappes Jahr als Lohnbuchhalter und Hilfsplatzmeister durch.

    Als seine Bewerbungen als Trainer, etwa in der Schweiz, unbeantwortet bleiben, reist er zu seiner Schwester nach Paris. Am 3. November 1938 verlässt er die französische Hauptstadt. Wie später rekonstruiert wird, hat er den Zug bei einem Zwischenaufenthalt in Commercy verlassen, er wird dort in einem Steinbruch entdeckt. Er hat versucht, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen, die Schnittwunden werden noch lange sichtbar sein.

    Für die Familie gilt Hirsch verschollen, erst Mitte Dezember trifft ein Brief aus der Provinzialirrenanstalt Fains-Les-Sources ein. Laut Krankenakte habe er "in einem krankhaft veränderten Seelenzustand Paris verlassen und in dem halluzinatorisch bedingten wahnhaften Glauben, seine Frau und Kinder seien tot, einen Selbstmordversuch verübt."

    Nach seiner Rückkehr nach Karlsruhe im März 1939 begibt er sich in ärztliche Behandlung. Er wird in die Pflege-und Heilanstalt Illenau eingeliefert. Es ist eine denkwürdige Rückkehr, denn dort wurde er vor 47 Jahren geboren, als sich seine Mutter aus medizinischen Gründen ebenfalls in der Illenau aufhielt. Es folgt ein Fluchtversuch, aus Sehnsucht nach seiner Familie verlässt er die Anstalt "in Filzlatschen und ohne Kopfbedeckung in strömendem Regen". Einige Monate später wird er "ungeheilt entlassen", wie ein Arzt vermerkt.

    Im Dezember 1938 ergeht ein Erlass der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung. Demnach "ist anzustreben, alle arbeitslosen und einsatzfähigen Juden beschleunigt zu beschäftigen". Hirsch muss auf einer Müllhalde am Stadtrand arbeiten, er muss "mit den Ratten da draußen leben".

    Der Zweite Weltkrieg hat am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnen.

    Die "Evakuierung", so der Nazi-Jargon, in Baden, der Pfalz und dem Saarland bedeuten die ersten Deportationen jüdischer Deutscher, bevor im Herbst 1941 die Züge aus Berlin, Hamburg und Köln in die Vernichtungslager im Osten rollen.

    Im Juni 1933 zählte die Stadt Karlsruhe 3197 Juden. Innerhalb von zwei Tagen, dem 22. und 23. Oktober 1940, müssen mehr als zwei Drittel die Stadt verlassen. Dann geht die Gestapo daran, eine sogenannte Mischlingskartei anzulegen. "Mischlinge ersten Grades" beziehungsweise "Geltungsjuden" sind demnach die Kinder von Julius und Ellen Hirsch, Heinold und Esther. Sie müssen seit September 1941 den Judenstern tragen. Um die Kinder zu retten, reicht Ellen Hirsch am 2. Januar 1942 die Scheidungsklage ein. Die "Bedeutung des Rassenzugehörigkeit des Beklagten", also ihres Mannes, habe man "früher nicht erkannt", erklärt sie dem Richter. Das Tagen des Judensterns sei für sie und ihre Kinder "unerträglich", sie seien aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen.

    Die Klage wird zunächst abgewiesen, der Berufung wird wegen "Zerrüttung der Ehe" stattgegeben, Ellen Hirsch nimmt wieder ihren Geburtsnamen Hauser an. Julius Hirsch verlässt die gemeinsame Wohnung und lebt nun in einem so bezeichneten "Judenhaus", dem letzten Wohnort vor der Deportation.

    Für Julius Hirsch habe es die Möglichkeit der Rettung gegeben. Seine Tochter Esther berichtete später:

    "Die Schwester Hilda meiner Schneiderin Tante Elsa war verheiratet mit Georg Böttger. Dieser war Leiter des Postscheckamtes Karlsruhe. Er war ein großer Nazi, aber der 'Juller' Hirsch ging ihm über alles, er wollte ihn retten. Jeden Morgen fuhr ein Kurierauto versiegelt in die Schweiz, erst dort wurde es entsiegelt. Vater sollte in diesem Auto ins Ausland geschmuggelt werden. Abfahrt war vier Uhr früh. Er kam nicht."

    Offensichtlich wollte Julius Hirsch durch seine Flucht nicht die Familie gefährden, weil Repressalien bis hin zu Festnahmen zu befürchten gewesen wären.

    Ende Februar 1943 teilt Julius Hirsch seiner Familie mit, er müsse sich zum Termin 01. März 1943 zu einem, so wörtlich, "Arbeitseinsatz" melden. Die Nachricht der Reichsvereinigung der Juden kommt als Einschreiben. In solchen Dokumenten hieß es etwa gleichlautend:

    "Wir bitten Sie, in Ruhe die Vorbereitungen für die Abreise zu treffen. Anträge auf Befreiung von der Teilnahme am Abwanderungsprozess sind zwecklos."

    Die "Aufstellung über die aus dem Lande Baden am 01. März 1943 abgeschobenen Juden" umfasst zwölf Namen. Julius Israel Hirsch wird unter Nummer sechs aufgeführt:

    "Geburtstag und Ort 7.4.92 Achern.- Beruf: Hilfsarbeiter. - Wohnort, Straße: Karlsruhe, Kronenstraße 62. - Familienstand: geschieden."

    Um 9 Uhr 25 fährt der Zug vom Stuttgarter Inneren Nordbahnhof ab, weitere Stationen sind Trier, Düsseldorf und Dortmund. Das Eingangsbuch des KZ Auschwitz nennt für den 2. März 1943 150 Männer, der Name Julius Hirsch ist nicht darunter.

    Es wird vermutet, dass er unmittelbar nach Ankunft des Transports ermordet wurde.

    Die beiden Kinder werden am 14. Februar 1945 vom Hauptbahnhof Karlsruhe in das KZ Theresienstadt deportiert, Heinold ist da 22, Esther 17 Jahre alt. Sehr viel später, 2007/ 2008, wird Esther, die mit ihrem Bruder im April 1943 evangelisch getauft wurde, von einem wahrscheinlichen Fehlverhalten sprechen. Wäre ihr Vater verheiratet geblieben, würde er wohl mit demselben Transport wie sie und ihr Bruder ins KZ nach Theresienstadt gekommen sein "und mit uns" von der Roten Armee befreit worden. Das war am 07. Mai 1945, am 16. Juni kehren die Geschwister nach Karlsruhe zurück.

    Nach 1945 nennt sich Ellenore Hauser wieder Ellen Hirsch. Über das, was ihrem früheren Ehemann und ihren Kindern in der NS-Zeit angetan wurde, hat sie nie gesprochen. Die früher so lebensfrohe Frau lebte sehr zurückgezogen. Sie stirbt 1966 im Alter von 72 Jahren an einem langwierigen Herzleiden.

    "Am 23. Juni erklärt das Amtsgericht Karlsruhe Julius Hirsch, geboren 1892, deportiert 1943, für tot. Das rechtskräftige Urteil ergeht am 20. September. Als Sterbedatum wird der 8. Mai 1945, 24 Uhr festgelegt. Es ist jener 8. Mai , an dem Deutschland kapituliert hat."

    Julius Hirsch und Gottfried Fuchs waren die beiden einzigen jüdischen deutschen Fußballnationalspieler. Fuchs emigrierte 1937 über die Schweiz und Frankreich nach Kanada, wo er – nunmehr unter dem Namen Godfrey Fochs – 1972 in Montreal an einem Herzinfarkt starb. 1972 wurde das neue Münchner Olympiastadion mit einem Länderspiel gegen die Sowjetunion eingeweiht. Nach Informationen des "Spiegel" schlug der ehemalige Bundestrainer Sepp Herberger DFB-Vizepräsident Neuberger in einem Schreiben vor, Gottfried Fuchs auf Verbandskosten einzuladen. Dies würde als ein Versuch der Wiedergutmachung erfahrenen Unrechtes sicherlich nicht nur im Kreis der Fußballer, sondern überall in Deutschland ein gutes Echo finden. Das DFB-Präsidium lehnte ab – mit Hinweis auf einen Präzedenzfall, der geschaffen würde, und auf die "angespannte Haushaltslage". Gottfried Fuchs war 1972 der einzige lebende jüdische Fußballer, der jemals für Deutschland gespielt hatte. - Allerdings saßen im DFB-Vorstand mit dem Schweinfurter Hans Deckert und dem Kölner Degenhard Wolf zwei ehemalige NSDAP-Mitglieder. Und das Präsidiumsmitglied Rudolf Gramlich von Eintracht Frankfurter habe unmittelbar nach Kriegsbeginn einem SS-Totenkopfverband angehört, der in Polen mordete.

    Hirsch und Fuchs waren schon 1939 aus dem kollektiven Fußballgedächtnis getilgt worden. Sie fehlten, zum Beispiel, in dem in großer Auflage erschienenen "Kicker-Bildwerk", in dem rund 400 Nationalspieler verewigt wurden. Selbst in einem Nachdruck, der 1988 herausgegeben wurde, wurde dieser historische Erinnerungslücke nicht korrigiert. Sehr lange sind sich die Fußballfunktionäre unbeirrt geblieben in ihrer Geschichtslosigkeit. Anlässlich der 75-Jahr-Feier des DFB forderte Festredner Walter Jens: " Dies ist die Stunde, wo das 'Nicht gedacht soll ihrer werden' aufgehoben werden muss." Aber nichts geschah.

    Zum 100-jährigen Jubiläum im Jahre 2000 gab es im DFB-Jubiläumsband gerade mal zwei Seiten zum Thema "Antisemitismus – auch im Fußballsport". Zu Julius Hirsch heißt es dort, er
    "litt durch berufliche Schädigung, die ihm die Nazis zufügten, unter Depressionen. 1943 kam er als 51-jähriger in das Todeslager Auschwitz. Wann er dort gestorben ist, weiß niemand."

    Da die Jahre 1933 bis 1945 nur in sehr bescheidener und beschönigender Weise dargestellt wurden, gab es reihenweise Kritik am DFB-Vorstand, sodass dieser die Historiker Nils Havemann und Klaus Hildebrand mit der Aufarbeitung der Verbandsgeschichte beauftragte.

    Der im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland in Gang gekommene Denkprozess lässt Historiker Peiffer heute zu dem Schluss kommen:

    "Aus Verdrängung und Leugnung der aktiven Rolle des DFB bei der Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Fußballer in der Zeit des Nationalsozialismus ist eine aktive und engagierte Erinnerungsarbeit geworden.

    Das zur WM 2006 herausgegebene Buch "Fußball unterm Hakenkreuz" ist das Ergebnis einer Forschungsarbeit im Auftrag des DFB, der unter dem damaligen Präsidenten Zwanziger endlich den gesellschaftspolitischen Nachholbedarf seines Verbandes erkannte:

    "Fußball war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der beliebteste deutsche Volkssport. Er bot sich zur politischen Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten geradezu an: Als Massenveranstaltung konnte er zu Propagandazwecken, zur Durchsetzung des Führerprinzips und zur Ausgrenzung missliebiger Bevölkerungsteile dienen, vor allem der Juden. Bis 1933 waren in vielen Fußballvereinen Juden als Spieler und Funktionäre aktiv. Dann passte sich der DFB schnell der herrschenden Ideologie an und betrieb eine nachdrückliche Ausgrenzungspolitik."

    In "Fußball unterm Hakenkreuz" zeigt der Historiker Havemann, mit welchen Mitteln es den Nationalsozialisten gelang, den vordergründig unpolitischen Sport zur Stabilisierung des Systems zu missbrauchen. Joachim Gauck begrüßte 2006 das Vorliegen der Forschungsergebnisse.

    2005 rief der Deutsche Fußball-Bund einen nach dem ermordeten Nationalspieler Julius Hirsch benannten Preis ins Leben. Er wird alljährlich verliehen für besonderen Einsatz für Toleranz und Menschenwürde, gegen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.

    Der DFB will mit dem Julius Hirsch-Preis "ein öffentliches Zeichen für die Unversehrtheit der Würde des Menschen setzen, in den Stadien und in der Gesellschaft". Der Alltag allerdings sieht anders aus. Besonders bei Spielen in unteren Klassen kommt es unter den rivalisierenden Fans regelmäßig zu antisemitischen Äußerungen und Sprechchören. Auf Transparenten im Stadion waren schon Sprüche wie "Wir sind Lokisten, Mörder und Faschisten" oder "Rudolf Hess – unser Rechtsaußen" zu lesen. Bei einem Spiel formierten sich rund 60 Anhänger von Lok Leipzig zu einem riesigen Hakenkreuz. Während des Pokalspiels gegen Erzgebirge Aue skandierte die Kurve minutenlang "Juden Aue, Juden Aue".

    Die DFB-Statuten erlauben inzwischen sogar, bei diskriminierenden und rassenfeindlichen Äußerungen die verantwortlichen Vereine mit Punktabzügen zu bestrafen – eine Möglichkeit, von der bislang nicht ein einziges Mal Gebrauch gemacht wurde.

    Michel Friedmann, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sieht, was den Antisemitismus im deutschen Fußball angeht, Handlungsbedarf. In deutschen Stadien sei es inzwischen zu beklagender Alltag, dass Schiedsrichter und gegnerische Mannschaften als Juden beschimpft würden. "Der Antisemitismus ist auch bei den Fans keine Ausnahme", so Friedmann.

    Und nun steht die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine bevor, in deren Fußballligen es in der Vergangenheit immer wieder rassistische Zwischenfälle gegeben hat. Das Thema droht zu einer Belastung für die EURO 2012 zu werden. Für den dunkelhäutigen italienischen Nationalspieler Mario Balotelli vom englischen Meister Manchester City ist Rassismus im Jahr 2012 schlichtweg nicht hinnehmbar. Er kündigte an, falls er Zielscheibe fremdenfeindlicher Angriffe sei, werde er "sofort den Platz verlassen und nach Hause fahren"

    Werner Skrentny: Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet. Biografie eines jüdischen Fußballers. Verlag Die Werkstatt, 352 Seiten. 24,90 Euro.