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Der Kameramörder

Wir wanderten auf den Wegen zwischen den Feldern. Dabei unterhielten wir uns über allgemeine Dinge (Befinden, Neuigkeiten u. dgl.). Insekten schwirrten durch die Luft. Grillen zirpten. Die Sonne brannte derart vom Himmel, daß ich eine rosarote Baseballkappe mit der Aufschrift Chicago aufsetzen mußte, um mich eines evtl. Sonnenbrandes oder gar -stiches zu erwehren.

Christel Wester | 06.07.2001
    So harmlos ist die Welt zu Beginn von Thomas Glavinic' Novelle "Der Kameramörder". Der Ich-Erzähler und seine Lebensgefährtin besuchen ein befreundetes Paar auf einem Bauernhof in der westlichen Steiermark. Es ist Ostern und man genießt das gesellige Beisammensein. Doch ganz so wie es das Genre der Novelle erfordert, ereignet sich bald die unerhörte Begebenheit: ein Mord. Unsere vier Freunde erfahren es über Teletext aus dem Fernseher. Die Tat wurde ganz in der Nähe verübt. Es handelt sich um ein ungeheuerliches Verbrechen, das bald nicht nur die Gegend, sondern ganz Österreich und Deutschland in Atem hält. Von überall her reisen Reporter, Fotografen und Kamerateams an. Das Fernsehen berichtet live aus dem Heimatort der Opferfamilie. Hier hat sich eine riesige Menschenmenge eingefunden, die schäumend vor Wut Vergeltung fordert. Die Opfer waren Kinder. Ein Unbekannter hatte drei kleine Jungen in seine Gewalt gebracht und sie über Stunden mit bestialischen Drohungen gequält, bis er schließlich zwei von ihnen zwang, sich umzubringen. Dies alles hat er mit einer Videokamera gefilmt. Die vier Freunde fiebern vor dem Fernseher. Einem deutschen Privatsender wurde eine Kopie des Mordvideos zugespielt. Ausschnitte daraus sollen ausgestrahlt werden. Nicht nur im heimischen Wohnzimmer wird darüber diskutiert, ob dies moralisch zu verantworten sei. Politiker appellieren an den Sender, auf die Ausstrahlung des Mordvideos zu verzichten, auf der Straße vor dem Fernsehstudio wird gegen die Sendung demonstriert. Trotzdem geht es pünktlich um 23 Uhr 30 los, und mit einer Mischung aus Abwehr und Sensationsgier sitzen die beiden Paare vor der Mattscheibe. Der Ich-Erzähler berichtet minutiös, was zu sehen ist. Der Leser fiebert mit. Thomas Glavinic treibt nicht nur mit seinen Figuren, sondern auch mit seinen Lesern ein psychologisch ausgefuchstes Spiel. Dazu der Autor:

    Mich hat die Konstellation fasziniert. Ich gehe generell davon aus, dass jeder Mensch ein Monster ist. Und dieses Monster ist in diesem Fall, in diesem Buch ja nicht der Kameramörder - der ist zwar auch ein Monster, aber der ist ein besonderes Monster und als solches nicht so gefährlich - sondern das wahre Monster, das sind die anderen. Das sind die vier Leute, die vor dem Fernseher sitzen, und die Leute, die in den Dörfern toben, damit sie den Kameramörder in die Finger bekommen. Und das ist eben die Frage, inwieweit man sich da jetzt als Leser innerlich distanzieren kann. Also ich zweifle daran. Ich habe schon einige Reaktionen gehört von Leuten, die sich nach der Lektüre überlegt haben, ob sie nicht möglicherweise nicht auch sehr monströs gehandelt haben, als sie dieses Buch gelesen haben.

    Thomas Glavinic´ Kalkül ist aufgegangen: Seine Erzählung hält einen in Bann. Getrieben von der Frage, wie es weiter geht und wer der Mörder ist, kann man sie nicht aus der Hand legen, bis man die letzte Zeile gelesen hat. Doch während der Lektüre verharrt man keineswegs im Reich der Fiktion. Kinderschänder, Medienauftrieb, das kennt man. Thomas Glavinic schafft eine Szenerie mit großer Nähe zur Realität. Doch seine Absicht war es nicht, einseitige moralische Kritik an der Skrupellosigkeit der Medien zu üben. Der Autor:

    Über diesen Punkt wollte ich einiges aussagen. Und zwar schimpfen alle über diese bösen Privatsender. Und kein Mensch, oder sagen wir: nur (...) die vereinzelten Stimmen der Vernunft sagen ganz richtig, dass die Privatsender ja nicht die Bösen sind, sondern die Bösen sind wir. Hier wie überall bestimmt die Nachfrage das Angebot. Und solange wir versessen darauf sind, dass wir Mord und Totschlag und Sex und Hinrichtungen vielleicht live im Fernsehen sehen wollen, solange wird es eben jemanden geben, der dieses Bedürfnis befriedigt. "Der Kameramörder" ist eine zynische Satire auf das Verhältnis zwischen Reality-TV und Zuschauer. Natürlich gibt es keine Satire ohne Komik. Doch dadurch, dass der Autor Kinder zu Objekten der Sensationsgier macht, rührt er an ein Tabu:

    Ich habe das auch behauptet, dass da eine unfreiwillige Komik entsteht, und wurde daraufhin von meinen Lesern harsch zurechtgewiesen, dass das nicht komisch ist, sondern im Gegenteil, ganz, ganz entsetzlich und schlimm. Es geht den Menschen halt sehr nahe, wenn sie das lesen.

    Gezielt fügt Thomas Glavinic seinen Lesern eine Kränkung zu: Er stellt ihre Betroffenheit in Frage. Dies geschieht durch die Art und Weise, in der der Ich-Erzähler seinen Bericht abfasst. Dieser Ich-Erzähler ist ein bürokratischer Langweiler, ein Erbsenzähler, der unterschiedslos alles notiert. Er berichtet nicht nur über die schrecklichen Praktiken, mit denen der Kameramörder die Kinder quält. Er listet genau auf, wieviele Tüten Kartoffelchips während des Fernsehens verzehrt werden, wieviele Flaschen Wein der Gastgeber aus dem Keller holt, er gibt den Inhalt der Werbespots wieder, die zwischendurch gezeigt werden, und zählt die Toilettenbesuche der blasenschwachen Gastgeberin auf. Bei all dem bleibt er völlig emotionslos. Was ist dieser Ich-Erzähler für ein Mensch?

    Ich glaube, jedes Wort, das man analytisch dazu sagt, indem man etwas erklärt über diese Figur, über die Psyche dieses Erzählers oder über die soziale Stellung dieses Erzählers, es würde nicht greifen, es würde nicht funktionieren. Ich glaube, die Sprache sagt da mehr aus über diesen Menschen.

    Diese Sprache ist ein Buchhalterjargon, der sich sogar im Schriftbild niederschlägt. Auflistungen von Nebensächlichkeiten stehen mitunter in Klammern oder werden durch gebräuchliche Abkürzungen für inklusive, und dergleichen, etcetera ergänzt. Diese Sprache kennt keine Wertigkeiten, alles erscheint gleich bedeutend: die sadistischen Quälereien und das Aufreißen der Chipstüte, die tobende Menge auf dem Dorfplatz und die Verantwortung heuchelnde Moderatorin im Fernsehen. Hier herrscht ein emotionsloser Erzählton, das macht die Lektüre so beklemmend. Jede Reaktion der Betroffenheit, die der Ich-Erzähler notiert, wird zur Karikatur. Und seine Dokumentationswut rückt ihn in eine erschreckenden Nähe zu den Bürokraten der Nazi-Diktatur. Doch Thomas Glavinic' Novelle spielt im Hier und Jetzt. Im Zentrum steht ein vieldiskutiertes Phänomen unserer Zeit: das Verschwinden der Realität im Rausch der Bilder. Der Ich-Erzähler berichtet von einem Geschehen, das er im Fernsehen verfolgt. Das Fernsehen wiederum berichtet über eine Tat, deren Hergang gefundene Videoaufnahmen dokumentieren sollen. Natürlich könnte es sich um eine Fälschung handeln, dann wäre alles nur erfunden.

    Thomas Glavinic ist ein meisterhafter Erzähler, der seinen Geschichten vertraut. Es gelingt ihm stets, den richtigen Erzählton zu treffen. Dabei ist er ein gelenkiger Verwandlungskünstler. Sein erster Roman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden" spielt im Jahre 1910 und porträtiert auf der Folie einer Schachweltmeisterschaft Atmosphäre und Verhältnisse dieser Zeit. Der zweite Roman, "Herr Susi", ist eine derbe, ätzende Satire auf das Fußballgeschäft unserer Gegenwart. "Der Kameramörder" ist nun eine streng komponierte Novelle im klassischen Sinne, ihr Inhalt aber ist hochaktuell. Präzise entfaltet der Autor seine Geschichte und zeigt, dass auch ein abgelegener Bauernhof in der westlichen Steiermark sehr wohl zum Schauplatz für ein packendes Stück Literatur werden kann.