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Der Kampf um kirchliche Anerkennung

Hildegard von Bingen gehört zu den bekanntesten Frauengestalten des deutschen Mittelalters. Zeitlebens kämpfte die Klosterfrau um die Anerkennung der Amtskirche. Ohne ihre Vision hätte sich Hildegard dem Abt gehorsam unterordnen müssen. Am 7. Oktober 2012 wird Papst Benedikt XVI. Hildegard nun offiziell zur Kirchenlehrerin erheben.

Von Rüdiger Achenbach | 04.10.2012
    "Diese Frau kann die Fantasie nicht von der Wirklichkeit unterscheiden. Wahrscheinlich redet sie in Fieberträumen, die sie für göttliche Visionen hält. Die Ursuche für diese Trugbilder in ihrem Kopf ist wohl ihre kränkliche Konstitution."

    Immer wieder muss Hildegard von Bingen sich gegen den Vorwurf verteidigen, dass ihre Visionen mit ihrem schwachen Gesundheitszustand zusammenhängen. Es war kein Geheimnis, dass die Klosterfrau häufig krank war. Vielleicht hatte die Zeit, als sie in der Klause eingemauert gewesen war, bei ihr gesundheitliche Schäden hinterlassen. Doch der Vorwurf, ihre göttlichen Visionen seien nichts als Trugbilder, kränkte sie. Daher betont sie ausdrücklich, dass sie ihre Visionen bei vollem Bewusstsein und in gesunden Zustand empfange. Besonders heftig wurde sie von den Mönchen aus dem Kloster Disibodenberg angegriffen, die sich über Hildegard und ihre Offenbarungen lustig machten. Sie fühlte sich vom Spott aus dem Nachbarkloster zunehmend verfolgt:

    "Als ich davon hörte, brach mir das Herz. Und während ich einige Tage auf dem Bett lag, hörte ich eine Stimme, die mir verbot, an diesem Ort noch länger über meine Visionen zu reden oder sie dort niederzuschreiben."

    Auch in diesem Fall reagiert Hildegard mit einer Vision. Letztlich geht es darin aber auch um eine handfeste Entscheidung. Hildegard beschließt nämlich, mit ihren Nonnen wegzuziehen. Aber der Abt und die Mönche sind dagegen, denn schließlich gehört der Frauenkonvent zu ihrem Kloster.
    Ohne ihre Vision hätte sich Hildegard dem Abt gehorsam unterordnen müssen. Da sie sich aber auf eine göttliche Stimme berief, die über dem Abt steht, ist sie in dieser Auseinandersetzung nur ein Werkzeug, das auf den Befehl eines Höheren hin handelt. Dazu der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:

    "Ihre Visionen konnte man anerkennen oder verwerfen; aber über sie diskutieren konnte man nicht."

    Der Abt und die Mönche blieben bei ihrem kategorischen Nein. Sie ließen sich von den Offenbarungen der Klosterfrau nicht beeindrucken. Hildegard erkannte jetzt, dass sie um erfolgreich zu sein, die offizielle Anerkennung durch eine hohe kirchliche Autorität benötigte. Da sie bereits seit einiger Zeit mit geistlichen und weltlichen Würdenträgern korrespondierte, ließ sie sich einen Kontakt zu Bernhard von Clairvaux vermitteln. Der Zisterzienserabt war damals die einflussreichste Persönlichkeit des kirchlichen Lebens in Europa und stand in hohem Ansehen sowohl bei Päpsten als auch bei Königen.

    "Ehrwürdiger Vater, ich habe dich in einer Vision gesehen als einen Menschen, der in die Sonne blickt und keine Furcht hat, sondern der kühn ist. Und ich weinte, da ich mutlos bin. Ich bin erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Dasein als Frau. Ich stehe auf und laufe zu dir. Du bist der Sieger, der auch andere Menschen im Heil aufrichtet. Du bist der Adler, der in die Sonne blickt."

    Bernhard von Clairvaux reagiert distanziert. In seinem knappen Antwortschreiben heißt es unter anderem:

    "Man sagt, dass du himmlische Geheimnisse erforschst und dass du, was die menschliche Fassungskraft übersteigt, mit Hilfe der Erleuchtung erkennst. Wir gratulieren dir zu dieser Gnade Gottes und ermahnen dich jedoch zur Demut, denn Gott widersteht den Hochmütigen. Wir wollen deshalb für dich beten, damit nicht diejenigen, die ihre Hoffnungen auf Gott gesetzt haben, deinetwegen verzweifeln und ins Stolpern geraten."

    Bernhards Warnung ist unüberhörbar. Die Prophetin soll sich in Demut zurückhalten und keine Verwirrung stiften. Auch in anderen Fällen hatte Bernhard sich bereits skeptisch über prophetische Visionen geäußert. Aber Hildegard scheint darüber nicht informiert gewesen zu sein, als sie den Kontakt zu ihm suchte. Jedenfalls war Bernhards Antwort wohl kaum das, was die Visionärin erwartet hatte. Der Mediävist Peter Dinzelbacher:

    "Als Hildegard viele Jahre später, um 1173, einen Kodex ihrer Korrespondenz zusammenstellen ließ, verfälschte sie das beschämend knappe Schreiben des Zisterzienserabtes – wie sie es auch mit anderen Briefen tat – indem sie mehrere lobende Sätze hinzufügen ließ. Außerdem änderte sie die Reihenfolge so, als ob es Bernhard gewesen wäre, der sich zuerst an sie gewandt hätte."

    Die ablehnende Reaktion Bernhards hatte Hildegard zweifellos getroffen. Dennoch ging die Sache für sie letztlich günstig aus. Als nämlich Papst Eugen III. im Jahr 1147 zu einer Synode nach Trier kam, und dort nebenbei auch die Visionen Hildegards verhandelt wurden, empfahl die päpstliche Untersuchungskommission, einer Veröffentlichung der Visionen zuzustimmen. Man hielt Hildegards Schriften für unbedenklich. Der Papst gab offiziell sein Einverständnis.

    Dass der mächtige Bernhard von Clairvaux, der ebenfalls in Trier anwesend war, zumindest keinen Widerspruch gegen eine Anerkennung der Visionen eingelegt hat, lässt sich nur mit seinem Kampf gegen den Rationalismus erklären, der im 12. Jahrhundert in der Theologie und Philosophie aufkam. Bernhard war leidenschaftlicher Verfechter einer meditativen, mystischen Theologie. Rationalisten wie Petrus Abaelard und Gilbert von Poitiers, die die Vernunft zum Maßstab von Theologie und Philosophie machen wollten, wurden von ihm mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln angegriffen. Und wenn er auch den prophetischen Visionen Hildegards mit großer Skepsis gegenüber stand, so passte sie als Vertreterin des meditativen religiösen Denkens letztlich doch in sein theologisches Weltbild. Die Seherin gehörte sozusagen für ihn zum Bollwerk gegen die scholastischen Wissenschaften.

    Papst Eugen III., der übrigens ein Schüler Bernhards war, billigte Hildegards Schriften nicht nur, er trug ihr sogar auf, auch künftig alles niederzuschreiben, was ihr an Erkenntnissen eingegeben werde. Helmut Feld:

    "Die Hildegard zuteilgewordenen Offenbarungen werden also offiziell als vom Heiligen Geist inspirierte Wahrheiten anerkannt. Ihre Werke haben damit den Charakter heiliger, göttlicher Schriften."

    Nur darf man die Entscheidung eines Papstes im 12. Jahrhundert mit ihrer Wirkung in der gesamten Kirche nicht überschätzen. Auch wenn der Papst und ihm nahestehende Kreise Hildegard nun als Prophetin anerkannten, bedeutete das noch lange nicht, dass diese Entscheidung von allen kirchlichen Amtsträger anerkannt wurde. Das zeigte sich dann auch schon bald in einem Streit mit Erzbischof Heinrich von Mainz.

    "Ehrwürdige Frau, wir weisen euch an, Richardis von Stade aus eurem Konvent zu entlassen und sie unverzüglich dem Gesandten des Erzbischofs von Bremen zu übergeben."

    Mit dieser Anordnung aus dem Jahr 1151 forderte der Mainzer Erzbischof Hildegard von Bingen auf, ihre Sekretärin und Vertraute, Richardis von Stade, aus ihrem Kloster zu entlassen. Richardis, die Schwester des Erzbischofs Hartwig von Bremen, war nämlich zur Äbtissin des Frauenklosters Bassum gewählt worden. Aber Hildegard dachte nicht daran, dem für sie zuständigen Kirchenoberen Gehorsam zu leisten. In düsterer prophetischer Sprache ermahnt sie ihn mit einer Vision über den Sturz alttestamentlicher Könige, die sich über die Autorität Gottes gestellt hatten und weist die Anordnung des Erzbischofs zurück:

    "Die Gründe, die über die Vollmacht über dieses Mädchen vorgebracht wurden, sind vor Gott nutzlos, denn sie wurden in der Frechheit unwissender Herzen ausgedacht. Der Himmel steht zur Rache offen."

    Hildegard von Bingen hier schlägt einen scharfen Ton an. Unmittelbar nachdem es ihr gelungen war, mit ihren Nonnen in ihr neues Kloster am Rupertsberg bei Bingen am Rhein umzuziehen, war sie nicht bereit auf ihre langjährige Vertraute zu verzichten. Aber weder der Erzbischof von Mainz, noch der von Bremen ließen sich von der Prophetin beeindrucken. Der Kirchenhistoriker Helmut Feld:

    "Hildegard wandte sich an Papst Eugen III. persönlich, mit dem Erfolg, dass der Papst zwar an den Erzbischof von Mainz schrieb, ihm aber die Entscheidung über die Zukunft der Schwester anheim stellte. Das heißt: es geschah nichts."

    Hildegard musste schließlich nachgeben und Richardis von Stade gehen lassen. Doch das mutige Auftreten gegenüber dem Erzbischof von Mainz zeigt, dass sie sich ihrer Stellung durchaus bewusst war. Inzwischen hatte sie sich weit über die Grenzen des Reiches hinaus mit ihren Visionen einen Namen gemacht. Helmut Feld:

    "Hildegard war für viele ihrer Zeitgenossen eine Prophetin, eine Art göttliches Orakel, das man befragte, so wie die Griechen einst die Pythia von Delphi befragt hatten, sie wird gelegentlich auch als 'Orakel von Bingen' bezeichnet."

    Ihre Popularität spiegelt sich vor allem in der umfangreichen Korrespondenz wieder. Ungefähr 300 Briefe sind bis heute erhalten geblieben. Selbst weltliche und geistliche Würdenträger haben sich als Ratsuchende an sie gewandt und ihr Vertrauen geschenkt. Der Philosophiehistoriker Loris Sturlese:

    "Man suchte durch die fromme Frau direkt mit der unsichtbaren göttlichen Sphäre in Kontakt zu kommen, ja vielleicht zu Gott selbst. Hildegard begegnet dieser Erwartung auf adäquate Weise und stellte sich als Vermittlerin zur Verfügung."

    Der Kirchenhistoriker Helmut Feld sieht in seiner Forschungsarbeit über Hildegard hier ein klassisches Phänomen der Religionsgeschichte:

    "Sie nimmt die Rolle einer Priesterin an, das heißt: einer Mittlerin zwischen den Menschen und Gott. An hier haftet der Glanz des Furcht gebietenden Göttlichen."

    In dieser Rolle gibt sie zunehmend Stellungnahmen zu politischen und theologischen Streitfragen ab. Zum Beispiel greift sie auch in die Auseinandersetzung über die Wandlung des Altarsakraments ein. Sie kennt zwar die einschlägige dogmatische Diskussion nicht, aber sie ruft in ihrer Funktion als Prophetin dazu auf, diejenigen zu verdammen, die nicht an die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi glauben. Und damit liegt sie ganz auf der Linie der kirchlichen Amtsträger in Rom.

    "Ihr Fürsten, Führer und ihr übrigen Christenmenschen, die ihr Gott fürchtet, hört diese Worte und scheucht diese Leute, nachdem ihr sie ihres Vermögens beraubt habt, aus der Kirche, indem ihr sie vertreibt."

    Zimperlich ist die Klosterfrau nicht. Sie weiß, was sie will. Sie versteht sich schließlich als Sprachrohr Gottes. Aber Hildegard bleibt auch weiterhin für ihre Zeitgenossen eine Persönlichkeit, die stark polarisiert. Vor allem bei vielen Ordensleuten stößt sie zunehmend auf Ablehnung.

    Lesen Sie hier den ersten Teil:
    Umstrittene Visionen der Hildegard von Bingen
    Die Klosterfrau und Prophetin aus der Sicht der religionsgeschichtlichen Forschung - Teil 1