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Der Kampf unterschiedlicher Interessengruppen

Die Gesundheitsreform 2000 ist im Januar in Kraft getreten. Von dem Reformwerk, das der Gesundheitspolitik langfristig als stabiles Fundament dienen sollte, ist allerdings nur ein Gerüst geblieben. Zwar ist es der grünen Ministerin Andrea Fischer gelungen, die Rolle des Hausarztes zu stärken. Auch die Verpflichtung von Krankenhäusern und Ärzten, künftig verstärkt auf Qualitätssicherung zu achten zeigt, dass die Gesundheitspolitiker der Regierungskoalition versuchen, nicht einfach bloße Sparpolitik zu betreiben.

Oliver Tolmein | 06.05.2000
    Die erste Reform, die den Patienten nicht in die Taschen greift! wirbt denn auch das Bundesgesundheitsministerium in einer Broschüre für das umstrittene Gesetzeswerk. Welchen Preis die Patienten und Patientinnen für die Reform tatsächlich zahlen müssen, wird sich allerdings erst in den nächsten Monaten zeigen. Die Debatte über die künftige Orientierung des Gesundheitswesens ist mit dem Reformgesetz 2000 nämlich nicht beendet, sondern auf eine neue Stufe gehoben worden.

    Der Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Angestellten Krankenkassen (VdAK), Herbert Rebscher, unterbreitete vor Ostern den Vorschlag, Ärzte künftig nur noch zu bezahlen, wenn ihre Behandlung erfolgreich ist. Diese Idee hat die Verkoppelung der Bemühungen um Qualitätssicherung einerseits mit der Diskussion um Kostensenkung andererseits, auf die Spitze getrieben und irritierte Reaktionen aus dem Gesundheitsministerium provoziert. Auch aus der Ärzteschaft kamen teilweise heftig ablehnende Stellungnahmen.

    Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, Jürgen Bausch, erläutert die Position seiner Kolleginnen und Kollegen.

    Jürgen Bausch: Das ist ja abwegig, denn der Erfolg kann ja nur sein, dass der Patient gesund gemacht wird. Es gibt ja genügend Krankheiten, bei denen wir leider vollkommen erfolglos bleiben, trotz aller unserer Bemühungen, denn letztlich ist das menschliche Leben ja begrenzt. Wir werden geboren um zu sterben, hat Augustinus schon gesagt. Irgendwann geht das Leben zu Ende, und da kann man ja nun weiß Gott nicht mehr von Erfolg reden, so dass wir also eine erfolgsorientierte Honorierung ablehnen. Aber eine qualitätsorientierte Vergütung ist ja etwas, was wir die ganze Zeit schon machen. Wir vergüten ja in der Tat eine ganze Reihe von Leistungen qualitätsbezogen. Das heißt, bestimmte Leistungen können nur abgerechnet werden, wenn der Arzt ein bestimmtes Qualitätsniveau erreicht hat. Sonst kann er sie gar nicht gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen. Ultraschalluntersuchungen kann jeder tun, aber abrechnen kann sie nur derjenige, der sich zu diesem Thema qualifiziert hat und der sich regelmäßig auch einer Qualitätssicherung unterzieht. Wer bei dieser Überprüfung, die wir regelmäßig in unserer KV machen, schlechte Ergebnisse abliefert, muss sich nachqualifizieren und so lange kriegt er keine Leistungen bezahlt.

    Herbert Rebscher vom VdAK versteht die Aufregung über seinen Vorstoß nicht und interpretiert seinen so erbittert kritisierten Vorschlag mittlerweile lieber, als ihn zu wiederholen:

    Herbert Rebscher: Um was es mir geht ist doch nicht die Forderung aufzustellen, dass quasi in jedem einzelnen Behandlungsfall erfolgsorientierte Vergütungen sind, sondern dass wenn wir mit Ärzten in bestimmten Indikationsbereichen sinnvolle Ergebniskriterien gemeinsam besprechen und eine Arztgruppe oder eine Gruppe sonstiger Leistungserbringer - denken Sie an Rehabilitationskliniken oder verschiedene andere - sagen, jawohl, wir werden zu einem statistisch hohen Teil der behandelten Patienten euch diese Qualitätsleitlinienorientierung auch nachweisen, dass man diese Bemühungen besonders honoriert. Ich will das mal an einem Beispiel deutlich machen. Wir wissen alle, dass bei Diabetikern die Einstellung der entsprechenden Laborparameter wichtig ist, um zu vermeiden, dass häufige Krankenhauseinweisungen, dass am Schluss sogar vermeidbare Operationen die Folge wären. Das verlangt aber in der ambulanten Versorgung eine ganz große Konzentration der teilnehmenden Ärzte. Jetzt gibt es bei uns im Bereich Modellversuche die sagen, wenn wir signifikant nachzeichnen können, dass dieser Erfolg auch eingetreten ist, also euer besseres und größeres Bemühen tatsächlich Krankenhauseinweisungen vermieden haben oder sogar statistisch weniger operiert werden muss in einem Zeitraum von fünf, acht, zehn Jahren, dann sind wir bereit, dieses Bemühen auch entsprechend ökonomisch anzureizen, sprich auch ein Honorar auszuloben.

    Tatsächlich ist die Diabetes-Behandlung, das haben mehrere Modellversuche in der Bundesrepublik gezeigt, ein Bereich in dem Qualitätssicherung Kosten sparen kann. Auch bei der Arzneimittel-Verordnung, einem enormen Kostenfaktor in der Krankenversorgung, können Qualitätssicherung und Begrenzung oder gar Senkung von Ausgaben zusammengehen.

    Die Negativliste unwirksamer oder gar bedenklicher Wirkstoffe verhindert, dass der Arzt bestimmte Medikamente verschreibt, die den Patienten nichts nützen, die aber viel Geld kosten können. Der nächste Schritt, von Gesundheitsministerin Andrea Fischer auch schon in der Gesundheitsreform 2000 festgeschrieben , ist, eine Positivliste zu erstellen, um den Markt, auf dem derzeit etwa 45000 Arzneimittel angeboten werden, überschaubar zu machen: Eine unabhängige Expertenkommission soll feststellen, welche Wirkstoffe zweckmäßig und notwendig sind - erst dann kommen sie auf die Positivliste und werden damit erstattungsfähig.

    Die Positivliste, gegen deren Erstellung sich vor allem die Pharma-Industrie nachhaltig sträubt, benötigt aber als Rechtsverordnung die Zustimmung des Bundesrates. Dass die unionsregierten Länder sie in der Länderkammer passieren lassen wird allgemein bezweifelt. Dabei ist eine Regelung, die auf dem Arzneimittelsektor regulierend eingreift, dringend erforderlich.

    Wie andere Bereiche der medizinischen Versorgung ist auch der Arzneimittelbereich budgetiert. Wenn Ärzte durch ihre Verordnungen Kosten verursachen, die das Budget überschreiten, werden sie in Regress genommen. Die Kosten, die durch die über das Budget hinausgehenden Verordnungen verursacht werden, müssen sie selbst begleichen. In den ersten Tagen des Dezember 1999 kam es zum Eklat. Denn fast ein Drittel aller Kassenärztlichen Vereinigungen hatten ihr Arzneimittelbudget bereits ausgeschöpft.

    Die Konsequenz beschreibt der Bremer Rechtswissenschaftler Prof. Robert Francke, der sich auf Gesundheitsrecht spezialisiert hat.

    Robert Francke : Am Ende eines Quartals hat ein Versicherter, ein Patient einen Behandlungsbedarf und der Arzt verweist ihn auf ein späteres Quartal, wenn das ihm zur Verfügung stehende Budget ausgeschöpft ist. Das geht zu Lasten des Patienten, obwohl diese Vorgehensweise in der Regel durch das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gerade nicht gedeckt ist. Die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet den Arzt, auch bei ausgeschöpftem Budget die notwendigen medizinischen Versorgungen für die Patienten zu erbringen.

    Ursache für die Überschreitung des Arzneimittelbudgets ist aber nicht nur eine bisweilen unwirtschaftliche Verordnungsweise der Ärzteschaft. Die Kassenärzte haben auch mit einem in der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgeblendeten, strukturellen Problem zu kämpfen. Das Sozialgesetzbuch V, das sogenannte SGB, erlaubt dem Arzt nicht jede sinnvolle Behandlungsmaßnahme. Das Wirtschaftlichkeitsgebot setzt seiner Therapie Grenzen. Der Arzt wird darauf festgelegt zu tun, was zweckmäßig, sinnvoll und wirtschaftlich ist.

    Jürgen Bausch skizziert, was diese an sich vernünftig klingende Formulierung angesichts wachsenden ökonomischen Drucks für Konsequenzen zeitigen kann.

    Jürgen Bausch: Zwischen dem, was optimal ist und was notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist nach den Definitionen des Sozialgesetzbuches 5, da klaffen ja erhebliche Lücken. In dieser Spanne spielen sich die Konflikte zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung und ihren Mitgliedern ab, und das ist mitunter sehr schmerzhaft, weil wir unwirtschaftlich handelnde Ärzte in Individualregress nehmen müssen. Jetzt haben wir natürlich eine ganz andere Situation. Der Gesetzgeber hat ja den Ärzten einer gesamten KV ein Arznei- und Heilmittelbudget verordnet, und dieses Budget muss eingehalten werden. Überschreiten die Ärzte in einer KV, also beispielsweise hier in Hessen, die vorgesehene Budgetmenge, dann haften sie für den Überschreitungsbedarf kollektiv. Also auch die ganz wirtschaftlich verordnenden Ärzte haften kollektiv mit ihrem Honorar für den Überschreitungsbedarf. Das führt zu erheblichen Verbitterungen bei den Ärzten und führt zur Stellenrationierung in vielen Fällen. Es führt aber auch zu erkennbaren echten Rationierungen bei bestimmten Krankheitsbildern.

    Ein Beispiel dafür, wie ökonomischer Druck dazu führen kann, dass Patienten nicht mehr optimal versorgt werden, liefert die Behandlung von Alzheimer Patienten. Die Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung können bislang nicht behandelt werden. Eine Heilung ist also nicht möglich. Seit einigen Jahren sind allerdings Arzneimittel auf dem Markt, die helfen, Leistungen wie Konzentration und Aufmerksamkeit zu stabilisieren und Begleitsymptome der Krankheit, wie Unruhe und Aggressivität positiv zu beeinflussen. Die Wirksamkeit dieser Medikamente, der Acetylcholinesterase-Hemmer, ist nachgewiesen. Verordnet werden sie nach einer im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie aber vor allem Patienten, die ihre Medikamente privat bezahlen - nur zu einem sehr geringen Teil verschreiben Mediziner diese Arzneimittel auch Alzheimer- Erkrankten, die Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung sind.

    Die Entscheidung, die vor knapp drei Jahren eingeführten Medikamente nur selten zu verordnen, dürfte auf Seiten der Kassenärzte nur in wenigen Fällen eine gezielte Rationierungsmaßnahme sein. Der wirtschaftliche Druck, der auf den Medizinern lastet, führt aber dazu, dass die Bereitschaft neue, teure Wirkstoffe in die Therapie einzubeziehen, geringer wird. Diese Entwicklung beobachtet auch die Konferenz der Fachberufe im Gesundheitswesen, die auf ihrer Tagung im März dieses Jahres eine scharfe Kritik an der faktischen Entwicklung im Gesundheitswesen formuliert hat.

    " Qualitätssicherung wird von der Politik vorrangig als Kostensenkungsinstrument verstanden und erweist sich damit als Etikettenschwindel. Die rund 40 Verbände von Fachberufen im Gesundheitswesen befürchten, dass der permanente Kostendruck, der im stationären und ambulanten Bereich zu erheblichen Personaleinsparungen und zum Einsatz von minderqualifiziertem Personal geführt hat, ihre Qualitätssicherungsbemühungen weiter unterläuft."

    Aber nicht nur für die Ärzteschaft sind die Handlungsspielräume enger geworden, wirkt sich die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, wie sie auch in der Gesundheitsreform 2000 ihren Niederschlag gefunden hat, spürbar aus. Auch die Rahmenbedingungen für die Gesetzlichen Krankenkassen haben sich verändert. Die Möglichkeit, neue Kassen zu gründen und für die Mitglieder, ihre Kasse zu verlassen und zu einer anderen zu wechseln, hat mittlerweile zu einem "Kampf um die Gesunden" geführt.

    Jürgen Bausch von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen sieht in der gegenwärtigen Entwicklung im Kassenbereich eine Auflösung des Solidarprinzips, auf dem das bundesdeutsche Gesundheitssystem beruht.

    Jürgen Bausch: Solidarsystem heißt ja, dass die Gesunden für die Kranken, die Reichen für die Armen, die Jungen für die Alten solidarisch einstehen. Das ist ja der Grundgedanke der Solidarität. Der wird natürlich doch zunehmend ausgehöhlt. Wir haben ja die Beobachtung, dass durch den freien Wettbewerb der Krankenkassen untereinander eine sehr starke Mitgliederbewegung dahingehend stattfindet, dass sich junge, berufsaktive, aber gesunde Mitglieder, die gute Verdienste an ihren Arbeitsplätzen haben, umorientieren von den großen Kranken, von den Ortskrankenkassen oder von den großen Ersatzkrankenkassen umorientieren und in ganz preiswerte oder gar billige Betriebskrankenkassen eintreten, die gar nicht mehr an irgendwelche Industriebetriebe gebunden sind, sondern sogenannte virtuelle Betriebskrankenkassen sind. Das ist für mich ein sicheres Zeichen der Entsolidarisierung, und da muss der Gesetzgeber handeln.

    Das sozialpolitische Potential, das im Wettbewerb der Kassen untereinander liegt, haben auch die Arbeitgeber erkannt und in die Forderung umgemünzt, dass die Unternehmen künftig nur noch gezwungen sein sollen, den Arbeitgeberanteil in Höhe von 50 Prozent des niedrigsten Kassenbeitrages zu zahlen.

    Für den Vorstandsvorsitzenden des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen, Herbert Rebscher, zeigen solche Vorstöße, dass dem Wettbewerb der Krankenkassen untereinander Grenzen gezogen werden müssen, will man das derzeitige Gesundheitswesen in seinem Bestand erhalten:

    Herbert Rebscher: Die Frage an die Politik ist natürlich schon für die nächsten Jahre, welches Gesundheitssystem wollt ihr denn: wollt ihr ein solidarisches System? Dann kann es nicht sein, dass quasi die jungen und gesunden sich selektieren und die jeweils älteren und kränkeren alleine bleiben. Die Orientierung muss liegen auf der Versorgung für Kranke und nicht auf dem möglichst günstigen Beitragssatz in einer Gruppe von jungen Gesunden, die sich in bestimmten industriellen Strukturen oder Zukunftsbranchen gerade finden.

    Derzeit ist nicht klar, ob die Politik diesen Gestaltungsspielraum wirklich nutzen will und die Konflikte, die mit der Ausfüllung dieses Raums in den nächsten Jahren verbunden sind durchstehen kann. Ein Aufsatz, den Bundeskanzler Gerhard Schröder in der April-Ausgabe der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte veröffentlicht hat, bläst zum Rückzug:

    "Was kann der Staat, was sollte die Gesellschaft tun? Gewiss, der Staat muss den Wettbewerb der Versicherungen überwachen, für die Ärzteausbildung und die Voraussetzungen medizinischer Forschung sorgen. Gegenüber der Gesellschaft aber müsste er wohl eher Verhandlungspartner , der mit den Akteuren Möglichkeiten und Grenzen der Medizin bespricht und die Gesellschaft in den Stand versetzt, das Gesundheitswesen entsprechend den Anforderungen und Fähigkeiten der Beteiligten zu gestalten. Hier eröffnet sich ein Feld , auf dem die Zivilgesellschaft ihre Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, bestens unter Beweis stellen kann."

    Das ist eine elegant formulierte Konsequenz der Tatsache, dass kein Gesundheitsminister, keine Bundesregierung in den letzten Legislaturperioden eines der vielen großangelegten Reformprojekte durchsetzen konnte. Die widerstreitenden Lobbygruppen im Gesundheitswesen waren einfach zu stark. Aber diese Lobbygruppen sind nicht die Gesellschaft. Und hier bleibt Gerhard Schröder eine Antwort schuldig:

    Ist die Delegierung der Verantwortung für die Reformen an die Gesellschaft die richtige Konsequenz, wenn man gleichzeitig weiß, dass bei allem Auf und Ab und Hin und Her in der Gesundheitspolitik eine Gruppe fast immer zu den Verlierern der Veränderungen im Gesundheitswesen gehört hat: Die Patienten selber. Während die Ärzte mit der Bundesärztekammer und den Kassenärztlichen Vereinigungen starke Verhandlungspartner haben, die Pharmazeutische Industrie ihre Interessenvertretung hat und die Krankenkassen sich in starken Verbänden zusammengeschlossen haben, fehlt eine Lobby der Patienten fast vollständig.

    Über Patientenrechte wird deswegen im Zuge der Gesundheitsreformen vor allem gesprochen, wenn sich daraus für andere Akteure Vorteile ableiten. Robert Francke von der Universität Bremen konstatiert:

    Robert Francke: Wir haben ein relativ gut entwickeltes System individueller Patientenrechte, also des Rechtes des Patienten gegenüber dem einzelnen Arzt in der Behandlung. Wir haben aber wenig Anknüpfungspunkte für institutionelle, für kollektive Patientenrechte. Wir haben also keine Formen der Mitwirkung von Patientenorganisationen an Systementscheidungen.

    Erste Ansatzpunkte, das zu ändern, hat Andrea Fischer mit ihrer Gesundheitsreform 2000 geliefert: Die finanzielle Unterstützung von Selbsthilfegruppen und die Stärkung von Patientenrechten sind in das Gesetzeswerk eingebracht worden.

    Eine starke Patientenlobby ist damit aber noch nicht geschaffen. Und es erscheint auch zweifelhaft, dass ein solches Projekt aussichtsreich sein kann, da die Patienten, anders als andere ins Gesundheitssystem eingebundene Gruppen, dieses nur kurzfristig, aus einer Notlage heraus, in Anspruch nehmen. Sie sind nicht hauptberuflich Patienten und wollen es auch nicht sein. Sie haben auch ansonsten keine materielle Basis, um eine starke Lobby aufbauen zu können. Patienten werden also auch künftig zu einem erheblichen Teil darauf angewiesen sein, dass andere sich für ihre Belange einsetzen.

    Aber selbst wenn die Patienten eine stärkere Position in den Auseinandersetzungen um die Gesundheitspolitik erlangen, muss sich damit noch nicht zwangsläufig etwas zum Besseren wenden. Auch die Interessen der Patienten decken sich ja nicht in allen Fragen mit dem, was eine rationale Gesundheitspolitik anstreben sollte. Die Gefahr besteht, dass auf dem Milliardenmarkt " Gesundheitsversorgung" zu den Akteuren mit den widerstreitenden Interessen einfach nur ein weiterer Akteur hinzukommt.

    Für den Rechtswissenschaftler Professor Robert Francke zeigt sich daran ein grundsätzliches, tieferliegendes Problem der gegenwärtigen Gesundheitspolitik, über das allerdings kaum diskutiert wird.

    Robert Francke: Nämlich dass wir keine Entscheidungsstrukturen im Gesundheitssystem haben, die mit einer gewissen Distanz und Neutralität gegenüber den Leistungserbringen Ressourcenallokation vornehmen, das heißt die Zuteilung von Ressourcen zu einzelnen Bereichen auch unter Abzug von Ressourcen aus anderen Bereichen, also auch Umverteilungsentscheidungen treffen. Das war ja der ursprüngliche Gedanke des Globalbudgets, dass unter einem gesamten Dach alle Beteiligten diese Entscheidung treffen. Wir haben möglicherweise auch in der bisherigen Konzeption des Globalbudgets ein Defizit, das darin besteht, dass die Entscheider mit ihren Interessen zu nahe dran sind.

    Die Vorschläge eines Sachverständigenrates mögen auf neutraleren Vorgaben basieren, als die Ergebnisse der Verhandlungen, die derzeit im Rahmen des von der Bundespolitik vorgegebenen Budgets zwischen Kassen und Ärzteschaft laufen. Auch sie können aber über eines nicht hinwegtäuschen: In einigen Bereichen sind die Rationalisierungsreserven heute schon erschöpft.

    Aber auch das Sparvolumen in anderen medizinischen Sektoren kann in absehbarer Zeit erschöpft sein. Und dann muss entschieden werden, ob die Stabilität der Kassenbeiträge das entscheidende Ziel der Gesundheitspolitik sein soll oder ob eine qualitativ hochwertige Medizin auch mehr kosten darf, als es die Gesetzliche Krankenversicherung heute hergibt. Und es muss diskutiert werden, ob eventuelle höhere Kosten von allen getragen werden sollen, oder nur von denen, die eine besonders gute medizinische Versorgung wollen und sich leisten können.