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Der Klassenkampf heiligt die Mittel

Egon Krenz gibt zu dessen 40. Todestag ein Buch über seinen Vorgänger Ulbricht heraus - und rechtfertigt dabei auch seine eigene Geschichte. Ein kritischer Rundumschlag bleibt aus.

Von Harald Kleinschmid | 29.07.2013
    Egon Krenz schreibt im Vorwort über seine Motivation zur Herausgabe des Buches im "Ulbricht-Jubiläumsjahr":

    "Besteht bei diesem Vorhaben nicht auch die Gefahr, ihn zu heroisieren? Diesen Gedanken schob ich von mir. Und selbst wenn: Solange man hierzulande mehr über Hitler, seine Generäle, seine Helfer, seine Frauen, seine Hunde, seinen Bunker erfährt, als über die Kämpfer gegen den Faschismus, scheint mir eine Überhöhung sogar verständlich."

    Nachdem Egon Krenz wegen der Todesschüsse an der Mauer rechtskräftig verurteilt worden war, verbüßte er eine Haftstrafe, aus der er nach knapp vier Jahren vorzeitig auf Bewährung entlassen wurde. Das Urteil wurde von ihm immer als "Siegerjustiz" klassifiziert. Das vermeintliche Unrecht kann der 75-Jährige bis heute nicht verwinden und nutzt, mehr oder weniger direkt, Ulbrichts Politik auch zu seiner Rechtfertigung. Folgerichtig veröffentlicht Krenz mehrfach Aussagen, die den Bau der Mauer nicht als Idee Ulbrichts, sondern als direkte Weisung Moskaus darstellen.

    Gerald Götting, lange Jahre Vorsitzender der CDU der DDR und als solcher auch einer von Ulbrichts Stellvertretern als Staatsratsvorsitzender, berichtet von einer Autofahrt mit Ulbricht am 15. August 1961 nach einer Staatsratssitzung, auf der Ulbricht die Sperrmaßnahmen erläutert hatte.

    "Umso überraschter sei er, Ulbricht, gewesen, als Chruschtschow in großer Runde mit allen Spitzenleuten des Bündnisses erklärt habe, der Genosse Ulbricht habe ihm soeben vorgeschlagen, um Westberlin eine Mauer zu ziehen. Er sei, sagte mir Ulbricht auf der Fahrt nach Pankow, wie vom Donner gerührt gewesen. Einen solchen Vorschlag hatte er nie gemacht. Er habe allerdings schlecht in dieser Runde aufstehen und Chruschtschow widersprechen oder gar dementieren können. Und auch außerhalb des Kreml hätte er das wohl kaum öffentlich machen können."

    Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage Ulbrichts ist nicht zu überprüfen. Gleichwohl scheint ihre Wertung mit dem juristischen Begriff der "Schutzbehauptung" nicht abwegig. Geradezu grotesk wirkt der Beitrag des Rechtswissenschaftlers und heutigen Anwalts Erich Buchholz über die von Ulbricht initiierte Verfassung der DDR, in der er deren Überlegenheit gegenüber dem Grundgesetz zu belegen versucht.

    "Kurzum, die namentlich von Walter Ulbricht auf den Weg gebrachte und per Volksentscheid 1968 angenommene Verfassung war ein Meilenstein in der deutschen Rechtsgeschichte. Sie bildete die Grundlage für wahrhaft demokratische Rechtspflege. Dass sie in etlichen Punkten der Wirklichkeit vorauseilte und manche gesetzliche Ableitung mehr der aktuell-politischen Lage, sprich: der Klassenkampfsituation folgten, als den Intentionen der Verfassungsväter, nimmt nichts von ihrem demokratischen, sozialistischen Charakter."

    Mit anderen Worten: Der Klassenkampf heiligt die Mittel einschließlich Schießbefehl und Stasi-Gefängnis. Abseits von dieser Glorifizierung hatte gerade die DDR-Verfassung von 1968 ihre Besonderheit. Denn in ihrer Präambel setzte Ulbricht, gegen eine starke Fraktion im SED-Politbüro, die Formel von der DDR als "sozialistischem Staat deutscher Nation" durch. Heinz Voß, auf Ostberliner Seite maßgeblich an der Vorbereitung der Treffen Willy Brandts mit Willi Stoph 1970 in Erfurt und Kassel beteiligt, fasst die Situation so zusammen.

    "Ulbrichts Idee passte weder den Großmächten noch deren Verbündeten in den Streifen. Deshalb störte er und wurde abserviert … Alle deutschen Annäherungsversuche wurden sowohl von der westlichen als auch der östlichen Führungsmacht beargwöhnt. Dennoch war die Haltung richtig. Ich habe damals Ulbrichts Überlegungen und sein Agieren in der deutschen Frage unmittelbar beobachten können und teile die Auffassung von Egon Bahr: Es gab in der Nachkriegszeit nur zwei deutsche Staatsmänner von Bedeutung – Adenauer und Ulbricht."

    Ähnliche Passagen finden sich mehrfach in dem Buch. Ulbrichts Idee von direkten Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten unter teilweiser Umgehung der Verbündeten hat, Voß deutet es an, kurze Zeit später zu seinem Sturz geführt. Honecker strich, um Moskau zu gefallen, umgehend den Begriff der "deutschen Nation" aus der Verfassung. Aber alle, einschließlich Egon Krenz, die heute, zwei Jahrzehnte nach der Wiedererlangung der deutschen Einheit, Ulbrichts Weitsicht loben, wollten davon bis zum Ende der DDR rein gar nichts wissen.

    Viele der Zeitzeugen in Krenz‘ Buch loben Ulbrichts taktisches Geschick – Ulbrichts Nachfolger Honecker kommt im Vergleich in dem Buch eher schlecht weg: ein Mann ohne Visionen. Es ist das Verdienst des Herausgebers Krenz, Leute mit persönlichen Erinnerungen an Ulbricht zum Reden gebracht zu haben. Die meisten Einlassungen dienen jedoch der eigenen Rechtfertigung. Jeder schildert seine Eindrücke und Wertungen. Auf kritische Nachfragen oder Einwände wird meist völlig verzichtet. Episoden, die über die bisherigen Erkenntnisse der Person Ulbricht hinausgehen, sind eher selten. Dazu gehört allerdings die Tatsache, dass Ulbricht eine Schwester in Schleswig–Holstein hatte, die dabei half, die DDR-Zollgebühren zu umgehen. Elfriede Leymann, spätere Rechtsprofessorin an der Humboldt-Universität, hatte einen Onkel in den USA.

    "Seit 1946 erhielten wir von meinem Onkel sogenannte Care-Pakete aus den USA. Diese waren zollfrei. Nach Gründung der DDR wurden dafür Zollgebühren erhoben. Wir mussten mit dem schmalen Verdienst meiner Mutter als Reinigungskraft und meinen 150 Mark Stipendium auskommen. Als wir Herbert Eichhorn das mitteilten, kam er auf einen Trick: Er schickte fortan seine Lieferungen an eine Hildegard Niendorf in Bad Segeberg. Sie musste keinen Zoll entrichten, und der Postverkehr zwischen der BRD und der DDR war ebenfalls zollfrei. Nunmehr bekamen wir und auch andere Verwandte und Bekannte in der DDR von Onkel Herbert die uns zugedachten Sendungen auf diesem Wege. Obwohl ich mich stets bedankte, erhielt ich nie eine Antwort, was mich verwunderte. Fast fünfzig Jahre später erst erfuhr ich, dass diese Hildegard Niendorf in Bad Segeberg die Schwester von Erich und Walter Ulbricht war."

    Als Jura-Professorin der Humboldt-Universität musste sich Elfriede Leymann später verpflichten, keine Kontakte ins westliche Ausland zu pflegen. Weder sie noch ihre Mutter, obwohl im Rentenalter, erhielten je eine Reisegenehmigung in die USA. Es ist dies eine der ganz wenigen Stellen, an denen das umfangreiche Werk einen ganz persönlichen Blick auf die Folgen der deutschen Teilung gewährt, für die Ulbricht sicherlich nicht alleine verantwortlich war, an denen er aber doch gehörigen Anteil hatte. Als Rechtfertigung für seine Mitläufer taugt er nur bedingt.

    Egon Krenz (Hrsg.): Walter Ulbricht.
    Verlag Das Neue Berlin, 608 Seiten, 24,99 Euro,
    ISBN: 978-3-360-02160-1