Donnerstag, 28. März 2024

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"Der Koalitionsvertrag ist sozial unausgewogen"

Der neue Präsident des Evangelischen Kirchentages, Reinhard Höppner, hat den Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD kritisiert. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer gehe nur zu Lasten derjenigen, die ohnehin wenig Geld zur Verfügung hätten, sagte der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Deutschland aber brauche ein Programm, das den Spaltungstendenzen in der Gesellschaft entgegen wirke.

Moderation: Gerd Breker | 13.11.2005
    Breker: Der Kirchentag ist eine freie Bewegung von Menschen, die der christliche Glaube und das Engagement für die Zukunft Kirche und Welt zusammenführt. Seit 1949 existiert diese Bewegung. Damals nach dem zweiten Weltkrieg wollten Reinhold von Tadden-Trieglaff und andere eine Möglichkeit schaffen, gut evangelisch das eigene Gewissen zu schärfen, sich eine Meinung zu bilden und kritikfähig zu werden, um nicht noch einmal derart in die Irre zu laufen, wie in der Zeit des Nationalsozialismus. Und darum geht es dem Kirchentag eigentlich bis heute, Menschen zueinander zu bringen, die aufgeschlossen sind für das Fragen nach Gott und die in der Welt den Bewährungsort des christlichen Glaubens sehen. So ist der Kirchentag immer wieder ein Angebot zur Einmischung in die Gesellschaft, zu Kritik und Gestaltung mit der Hoffnung und Kraft, die aus der Begegnung mit anderen und mit dem Evangelium erwachsen könnte. Sein Präsident ist seit gerade mal vierzehn Tagen Reinhard Höppner, ehemals SPD-Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Der nächste Kirchentag findet im Juni 2007 in Köln statt. Haben Sie, Herr Höppner, sich für Ihre Präsidentschaft ein besonderes Motiv ausgesucht, ein Ziel, was Ihnen besonders am Herzen liegt?

    Höppner: Zunächst liegt einem natürlich die Stadt am Herzen. Und Köln ist katholisch geprägt, das heißt, ein Stück weit wird dieser Kirchentag – der evangelische Kirchentag in Köln – eine ökumenische Herausforderung sein. Wir werden nicht vorbeikommen an dem Dialog der Kulturen, also auch die türkischen Minderheiten, die in Köln sehr stark sind, werden eine Rolle spielen. Das Wichtigste ist mir aber, dass in einer Zeit, in der – glaube ich – immer noch nicht die richtigen Fragen im Blick auf die Zukunft gestellt werden, diese brennenden Fragen wirklich im Mittelpunkt stehen. Da sollen wir eben auch am Kirchentag uns Gedanken darüber machen, wie geht es wirklich weiter, wie wollen wir leben und welche Sozialsysteme brauchen wir beispielsweise aus diesem Gesichtspunkt und nicht nur aus rein ökonomistischen Überlegungen heraus. Solche Fragen zu stellen, das wünsche ich mir, dass das in Köln wieder geschieht.

    Breker: Die evangelische Kirche steht, wie vieles in dieser Gesellschaft, unter Sparzwang. Die gerade beendete Synode hat nochmal gezeigt, dass mit Kirchensteuer-Mindereinnahmen zu rechnen ist, nicht nur in diesem Jahr, auch im nächsten Jahr. Der Trend wird anhalten. Nachlassender Zuspruch für die Kirche – ist das auch gleichbedeutend für die nachlassende Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft?

    Höppner: Zunächst bin ich nicht sicher, ob es wirklich nachlassender Zuspruch zur Kirche ist. Im Osten Deutschlands kann man es jedenfalls nicht sagen, da ist es mindestens konstant. Es sind nachlassende Einnahmen. Und möglicherweise ist es auch ein Bedeutungsverlust in der Gesellschaft, die ja immer pluralistischer und säkularisierter wird, was die gesellschaftlichen Mechanismen anbetrifft. Und möglicherweise drückt die Kirche mehr dieser Bedeutungsverlust als der Einnahmeverlust der Finanzen. Man redet natürlich jetzt vor allen Dingen über die Finanzen. Ich vermute, des Pudels Kern steckt ein bisschen tiefer. Die Kirche ist selber ein bisschen verunsichert über ihren Auftrag, über ihre Funktion in dieser sich rasant verändernden Gesellschaft. Das ist das größere Problem. Die Finanzprobleme ließen sich schon lösen.

    Breker: Sie haben die Entwicklung im Osten angesprochen. Ist denn das Zusammenwachsen der evangelischen Kirchen ins Ost und West, ist das gelungen?

    Höppner: Ja, insgesamt schon – mit einem Fragezeichen oder einem Handicap dabei. Wir haben zu DDR-Zeiten sehr intensiv geredet zum Beispiel über den Weg der Kirche in der Diaspora, sprich in einer Minderheitssituation. Wir haben da eine Menge Erfahrungen gesammelt, eine Menge vorgedacht. Das ist 1990 sehr schnell über Bord geworfen nach dem Motto: Jetzt machen wir auch in der Kirche alles wie im Westen. 15 Jahre später muss man wahrscheinlich diese Dinge wieder ausgraben, weil genau das jetzt auf der Tagesordnung der Kirche in Gesamtdeutschland steht.

    Breker: Im Osten war die Kirche ja auch der Raum, wo Andersdenkende frei denken konnten und auch diskutieren konnten und eine Heimat fanden. Ist das heute überhaupt noch ein Bedarf in der Gesellschaft?

    Höppner: Der Bedarf war in DDR-Zeiten natürlich ein völlig anderer, weil – es gab einfach keinen anderen Raum, in dem sich oppositionelle Gruppen treffen konnten. Die wären sofort verhaftet worden. Und das war natürlich für die Kirche auch insofern schön, als sie damit wusste, wozu sie da ist – gewissermaßen eine diakonische Aufgabe, für solche Diskussionen Räume zur Verfügung zu stellen. Die Menschen, die sich da getroffen haben, sind inzwischen natürlich weitgehend in die gesellschaftlichen Organisationen, in die Parteien ausgewandert und betreiben da ihre Geschäfte und denken da nach. Insofern ist diese Aufgabe uns vielleicht ein bisschen verloren gegangen. Wenn ich jetzt mir allerdings ansehe, wie interessengeleitet in den meisten dieser Gruppen unserer Gesellschaft gedacht wird und wie wenig da auch wirklich Gesamtverantwortung gedacht wird und Zukunft vorgedacht wird, dann denke ich mir manchmal: Die Aufgabe bleibt eigentlich der Kirche noch, die Leute zusammen zu holen, die nach vorne denken, und zwar unabhängig von Interessengruppen, die sie vertreten.

    Breker: An die Zukunft denken – wie sieht das aus mit der Attraktivität für Jugendliche, zur Kirche zu kommen, zur evangelischen Kirche zu kommen. Ist da die Kirche wirklich gut aufgestellt?

    Höppner: Wenn ich es vom Kirchentag her sehe, dann habe ich den Eindruck ‚ja‘. Da sind immerhin noch mindestens ein Drittel wirklich junge Leute. Und die Erneuerungsquote ist auch relativ gut. Also, es kommen immer neue hinzu, das stagniert nicht. Dann stelle ich allerdings fest, dass der Kirchentag und das Fluidum um den Kirchentag nicht dies typische Bild von Kirche ist. Und deswegen glaube ich, diese Möglichkeiten, junge Leute anzusprechen, nimmt die Kirche nicht hinreichend wahr. Auch da gibt es offenbar zu viele Angebote, die verlocken. Und vielleicht ist die Kirche auch selber nicht so richtig davon überzeugt, dass sie jungen Leuten in ihrer durchaus schwierigen Situation, in der sie derzeit sind, irgend etwas wirklich Wegweisendes zu sagen hat. Ich bedaure das, weil ich glaube, wir haben viel zu sagen. Aber die Gewissheit ist bei der Kirche offenbar nicht so verbreitet, dass es so ansteckend wird.

    Breker: Wir haben ja derzeit das Phänomen insbesondere in Frankreich in den Vororten – randalierende Jugendliche oftmals mit islamischem Hintergrund. Es werden Integrationsdefizite festgestellt. Ist hier auch eine besondere Aufgabe, die die evangelische Kirche leisten könnte in Sachen Integration?

    Höppner: Die französischen Ereignisse sind schon alarmierend. Und ich finde, wir dürfen in Deutschland auch nicht so leichtfertig darüber hinweggehen in der Hoffnung, dass uns das alles nicht erreichen könnte, weil diese Tendenz der Ausgrenzung – übrigens nicht nur von Ausländern, da werden auch manche andere Gruppen von arbeitslosen oder unbehausten Jugendlichen ausgegrenzt und oft erst in die Kriminalität geschickt, in der sie dann für die Gesamtgesellschaft auffällig und gefährlich werden – nein, wir haben die Probleme auch bei uns. Und insofern ist die Frage berechtigt – soll sich und kann sich Kirche nicht besonders darum kümmern. Das kann man bejahen, das finde ich auch richtig. Aber oft haben die ja natürlich überhaupt keinen Bezug zur Kirche. Das heißt mit anderen Worten: Man muss dann schon hingehen, hingehen in diese Brennpunkte. Und das darf dann nicht nur eine Aufgabe von Kirche sein. Also, dann müssten auch andere gesellschaftliche Gruppen mitmachen. Nur eine Vielfalt, auch jetzt richtig bürgerlichen Engagements in dieser Sache, kann da was helfen. Und dazu muss man auch etwas Geld in die Hand nehmen. Ich habe aber den Eindruck, wir haben in Deutschland überhaupt noch nicht kapiert, was da vor sich geht, denn wir sind ja offenbar immer noch munter beim Streichen all dieser Sozialprogramme nach dem Motto, das sind konsumtive Ausgaben, die kann der Staat sich jetzt nicht mehr leisten. Ich vermute, das wird so lange weitergehen, bis wir merken, dass wir uns die Randale nicht leisten können, weil die viel teurer sind.

    Breker: Es ist die Perspektivlosigkeit, die die Jugendlichen empfinden in Frankreich und sicherlich auch viele Jugendliche hier bei uns in Deutschland. Wir haben so etwas wie Ghettobildung, wenn Integration ausbleibt. Gibt es dann Alternativen zu Paralellgesellschaften, die möglicherweise auch gewalttätig gegeneinander werden?

    Höppner: Zunächst – das Stichwort der Perspektivlosigkeit bewegt mich natürlich insofern, als das die prägende Analyse am Ende der DDR war, weil wir überlegt haben, warum ist die DDR zusammengefallen und warum sind die Menschen auf die Straße gegangen. Und da war das Hauptwort ‚Perspektivlosigkeit‘. Und dann werde ich besonders unruhig, weil ich mir sage: Jetzt hast Du gesehen, wie ein ganzes Staatengebilde wegen Perspektivlosigkeit zusammengebrochen ist. Das heißt, bei mir klingeln alle Alarmglocken, und ich sage, dieses Thema ‚Perspektivlosigkeit junger Leute‘ muss ganz oben auf der Tagesordnung stehen, wenn unser gesellschaftliches System nicht auch vom Zusammenbruch in irgendeiner Weise bedroht sein soll. Das wird nicht gehen, wie es vor 15 Jahren gegangen ist. Nein, das meine ich nicht. Ich meine nur, dass wir gemeinsam Perspektiven entdecken müssen. Und wenn ich mir Politik derzeit angucke, dann denkt sie ja bestenfalls bis zu den nächsten Wahlen, manchmal nur bis zur nächsten Verhandlungsrunde mit dem Kontrahenten. Und das ist zu wenig, das merken die jungen Leute. Und wenn wir da nicht an den Wurzeln anpacken, werden ein paar kosmetische sozialpolitische Maßnahmen auch nichts helfen.

    Breker: Sie haben es angesprochen, nicht nur Ausländer leiden unter Ausgrenzung, auch innerhalb der deutschen Gesellschaft tut sich eine Spaltung auf. Die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Wir haben einen Sockel von Arbeitslosigkeit um die fünf Millionen Menschen, die davon betroffen sind. Das Programm der großen Koalition, soweit es sich bislang abzeichnet – ist da für Sie eine Trendwende, eine angestrebte Wende wirklich erkennbar?

    Höppner: Nein, der ‚große Wurf‘ ist es nicht gewesen. Aber ich denke, wir hätten eigentlich die Chance gehabt in der großen Koalition auch zu ein paar historischen Kompromissen, wo jeder wirklich einen richtigen Schritt vorangegangen wäre und seiner Klientel auch mal was zugemutet hätte. Das ist leider nicht geschafft worden. Trotzdem haben wir jetzt wenigstens nicht die Blockade zwischen Bundestag und Bundesrat. Insofern werden ein paar wichtige und nötige Schritte auch gehen. Aber unterm Strich sage ich: Wenn wir kein Programm haben, das diesen Spaltungstendenzen in der Gesellschaft entgegen wirkt, von denen wir eben geredet haben, das Ausgrenzungen eindämmt und Leuten, die am Rande standen, wieder die Chance gibt, etwa in der Arbeitswelt oder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, dann wird das nicht durchhaltbar sein. Also, amerikanische Verhältnisse in Deutschland gehen nicht, in Europa überhaupt nicht, weil wir eine andere kulturelle Tradition haben. Die lebt von einem Zusammenhalt, die lebt von einer Solidarität. Und wenn der Staat die nicht organisiert und dafür nicht den vernünftigen Rahmen schafft, wird uns diese Gesellschaft um die Ohren schlagen. Und ich sehe noch nicht, dass das Programm der großen Koalition dem wirklich entgegenwirkt.

    Breker: Wenn man ein wenig ins Detail geht: Man weiß, es wird Einsparungen bei Harz IV geben, man weiß, es wird Steuererhöhungen geben, weil Sparen allein offenbar nicht reicht, um das Haushaltsloch von 35 Milliarden zu stopfen. Gedacht ist an eine Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte auf 19 Prozent. Das ist ja eine Belastung für alle, wohingegen die Teilentlastung, die stattfinden soll, etwa in der Arbeitslosenversicherung eine Senkung um zwei Prozentpunkte, das ist ja nur etwas für die, die wirklich Arbeit haben, nur die können davon profitieren. Alle anderen wie Rentner oder Arbeitslose eben nicht.

    Höppner: Das ist bei der Mehrwertsteuererhöhung immer das Problem. Ich glaube, die Dinge haben sich aber so aufgestaut, dass es ohne diese Steuererhöhung einfach nicht zu machen ist. Das kann man bedauern, und es wird auch richtig Belastungen mit sich bringen, aber nachdem mancher Subventionsabbau und manche Einsparmöglichkeiten in den letzten Jahren nicht wahrgenommen worden sind – das hat ja auch ein bisschen was mit den Blockaden wechselseitig zu tun gehabt – gibt es, glaube ich, jetzt keine andere Möglichkeit. Es ist ein Signal dafür, dass wir möglicherweise in Deutschland unseren – europäisch, und weltweit sowieso – relativ hohen Lebensstandard nicht auf Dauer werden halten können. Jetzt ziehen viele den Schluss daraus, na ja, es gibt eben nichts mehr zu verteilen, und relativieren damit die Gerechtigkeitsfrage. Meine These aber ist: Wenn die Mittel knapper werden, ist die Frage, wie man sie gerecht verteilt, umso wichtiger. An der Stelle, glaube ich, ist die Sache mit den Spitzensteuersätzen und ob man das nun Reichensteuer nennt oder nicht, der Frage, dass diejenigen, die mehr haben, mehr dazu beitragen, schon sehr wichtig. Die Mehrwertsteuer verteilt das leider relativ gleichmäßig und betrifft damit manche, die knapp rechnen, mehr. Das ist der Nachteil an dieser Steuer.

    Breker: Um Bewegung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen will man denselben lockern. Es wird am Tarifrecht rumgeschraubt. Der Kündigungsschutz soll fallen oder anders gestaltet werden. Wenn wir nach Ostdeutschland gucken, ist das eigentlich eine erfolgversprechende Methode?

    Höppner: Wir haben ja im Grunde genommen die Kündigungsschutzregeln, die im Westen gewachsen sind, nie richtig gehabt seit der Wende. Also allein schon, weil sich so viele Betriebe aufgelöst haben ins Nichts, wo natürlich dann keiner mehr ein Recht hat. Und wenn ich gucke, wie viele ihre Arbeitsplätze wechseln mussten in den letzten 15 Jahren, wie viele Male, dann kann ich sagen, das Recht gab es bei uns nicht. Mehr Arbeitsplätze sind deswegen bei uns trotzdem nicht entstanden. Alles, was es an flexiblen Arbeitszeiten, an betrieblichen Bündnissen gibt, all diese Dinge, die da als Wunderrezept jetzt verkauft werden, die sind im Osten alle praktiziert worden, wenn es drauf ankam, um Betriebe zu retten. Sie haben das Problem der Arbeitslosigkeit, wie man sieht, an 20 Prozent, und in der Marge liegen wir ja – sie haben das Problem der Arbeitslosigkeit nicht gelöst. Ich warne also davor, durch Abbau solcher Rechte zu denken, man könne das Problem mit der Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Ich glaube, wir wären realistischer dran, uns mal drauf einzustellen, dass wir noch lange bei dieser Arbeitslosigkeit bleiben und sollten uns mal Gedanken darüber machen, wie wir eine einigermaßen menschliche Gesellschaft hinbekommen, die auch mit den Arbeitslosen in dieser großen Zahl so umgeht, dass man damit leben kann.

    Breker: Der Export boomt in diesem Land. Sorgen macht der Binnenmarkt. Die Konsumzurückhaltung der Menschen in diesem Land, die Unsicherheit vor der Zukunft, die Sorgen um die Altersversorgung – wird das durch das, was sich abzeichnet in der großen Koalition, wird das wirklich geändert?

    Höppner: Es kann eins passieren, was ich ganz gut finden würde, dass die Großen nicht mehr in dieser zum Teil ja unmenschlichen und ich glaube auch manchmal stillosen Art und Weise auf einander einhauen und damit im Grunde genommen so etwas wie eine Stimmungsspirale nach unten organisiert haben. Wenn der eine den anderen immer für einen Idioten erklärt, dann müssen die Leute ja irgendwann mal denken, dass wir nur noch von Idioten regiert werden. So ist das nun mal. Das könnte ja mal aufhören. Man könnte ja mal wieder vernünftiger miteinander und übereinander reden. Das würde die Stimmung in Deutschland verbessern und das wäre ja schon mal was. Aber im Blick auf die einzelnen Probleme, die Sie aufgezählt haben, das wird lange dauern, ehe sich da wirklich etwas verändert. Wir müssen da so ein paar Grundeinstellungen ändern. Stichwort: Kaufkraft und Konsumverhalten. Ich sehe das übrigens ganz anders, wenn hier gesagt wird: Die kaufen ja nicht, diese Leute, dann sind sie ja selber an der Arbeitslosigkeit schuld. Wenn sie mehr kaufen, würde die Konjunktur anspringen – und so weiter und so fort. Man kann das auch anders sehen. Man kann auch sagen, offenbar demonstrieren wir derzeit, dass man auch mit weniger leben kann. Das Zeug, das wir da nicht kaufen, brauchen wir offenbar nicht unbedingt. Und man sollte sich auch mal fragen, ob das alles, was da produziert wird, wirklich nötig ist, ob wir das Richtige auf diesen Markt werfen, der dann offenbar bei den Käufern nicht ankommt. Ich denke, ein paar andersartige Querfragen würden uns vielleicht einmal die Augen dafür öffnen, dass wir nicht nötig haben, in die falsche Richtung zu laufen.

    Breker: Sie haben es kurz angesprochen, Herr Höppner, die Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern. Wenn wir uns das Zustandekommen der großen Koalition rückblickend anschauen: Stoiber macht nicht mehr mit, Müntefering ist nicht mehr Parteivorsitzender. Die ersten drei Wochen wurde eigentlich nur darüber geredet und debattiert und verhandelt, wer denn welchen Ministerposten besetzt. Ist das nicht auch ein Element gewesen, wo die Menschen in diesem Lande sich gedacht haben: Von welchen Politikern werden wir da eigentlich regiert?

    Höppner: Dass die Menschen das gedacht haben, das ist zweifellos. Das habe ich oft erlebt. Jetzt ein bisschen mit Abstand zur Spitze redet man ja vielleicht etwas offener mit mir, und das ist schon bedrückend. Andererseits muss man sagen, so ist das wohl, wenn man über Jahre so im Machtkampf gegenseitig verhakt ist und solche Feindbilder gegeneinander aufgebaut hat, dann ist es offenkundig ganz schwierig, die wieder abzubauen. Also, subjektiv und mit meinem Erleben von Politik kann ich das, was da passiert ist, alles relativ gut verstehen, auch wenn ich sage, eigentlich ist es ein Armutszeugnis. Und deswegen wünsche ich mir an der Stelle so ein bisschen mehr Gelassenheit unter den Menschen, zu sagen: Na gut, das brauchten die mal, um sich abzureagieren. Wer kennt das nicht, dass man irgendwann mal ein paar Tage braucht, um seinen Ärger runterzuschlucken. Hauptsache, sie arbeiten jetzt ordentlich. Und da gibt es ja immerhin eine Reihe von Anzeichen, dass man sich Mühe gibt, aufeinander zuzugehen. Ich würde diese Dinge nicht überbewerten, sondern sie eher messen an dem, was sie jetzt machen werden.

    Breker: Diese Entwicklung hat zu einem Phänomen geführt, nämlich dass die beiden großen Volksparteien, die CDU und die SPD und inzwischen ja auch der Evangelische Kirchentag, nun unter Leitung von Menschen stehen mit ostdeutscher Biografie. Und rein zufällig sind alle drei Naturwissenschaftler. Hat das eine Bedeutung?

    Höppner: Es gibt auch ein paar Erklärungen dafür. Ich glaube beispielsweise, dass eine gewisse Gelassenheit gegenüber Macht und Karriere den Menschen, die in der Wende erst in die Politik gekommen sind, also diesen Seiteneinsteigern, eigen ist. Ich habe das ja selber erlebt. Wenn man 18 Jahre lang kleiner Lektor im Akademie-Verlag in Berlin gewesen ist und dann über Nacht in die Politik kommt durch die Wende, dann kann man sich eben auch noch ein Leben wieder ohne Politik vorstellen. Man kann also nach einer gewissen Zeit auch sagen: Danke, das war’s. So ist das, glaube ich, immer eine überzeugende Haltung gewesen. Ich bin nicht auf Gedeih und Verderb auf eine politische Karriere angewiesen. Ich glaube, dass das eine Element des Erfolges gewesen ist. Zweitens: Wir sind in die Politik gegangen, weil wir etwas bewegen wollten, nicht weil wir irgendwelche Posten haben wollten. Das bringt sozusagen eine gewisse Kraft, eine gewisse Grundüberzeugung, die dann auch für andere überzeugend ist. Ein paar Faktoren also kann ich mir schon vorstellen, die vielleicht jetzt besonders gebraucht werden und die wir, durch die Wende als Seiteneinsteiger in die Politik gekommen, vielleicht auch in besonderer Weise repräsentieren. Insofern nicht ganz ein Zufall, aber nicht etwa verabredet, die Ostdeutschen greifen jetzt zur Macht, sondern offenbar ein Bedarf nach Menschen mit solchen Lebensbiografien. Ein bisschen ist das natürlich auch nach vielen Depressionen, die man im Osten erlebt hat, ein schönes Zeichen, zu sagen: Aha, diese Biografie, die viele für sehr komisch hielten und für ungewöhnlich, ist vielleicht doch gebraucht, gefragt, auch in diesem gemeinsamen Deutschland. Ich finde das für Ostdeutsche ermutigend.

    Breker: Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Causa Lothar Bisky. Im vierten Wahlgang hätte eine einfache Mehrheit gereicht, aber es war eine absolute Mehrheit gegen ein. Wird da wirklich jemand mit Ostbiografie deswegen abgestraft?

    Höppner: Also, ich finde das beschämend für das Parlament, weil ich denke, ein paar gute Spielregeln, die einfach etwas mit Stil zu tun haben, sollte man einhalten. Und jeder weiß ja, dass ein Vizepräsident wirklich keine Macht hat und da nichts passieren kann. Ich glaube eher, dass die bisher im Bundestag vertretenen Parteien selber richtig Schwierigkeiten damit haben, dass da plötzlich eine Linkspartei sitzt. Bei den Sozialdemokraten kann man das besonders verstehen, aber auch den anderen passt das nicht so richtig in den Kram. Wenn die nicht drin wären, hatte es ja vielleicht andere Mehrheiten im Bundestag gegeben. Und ich glaube, dass sich da nicht nur gegen Lothar Bisky sondern gegen diese Partei ein gewisser Groll abreagiert. Und wenn das so wäre, wäre es undemokratisch, denn so geht man mit einer Partei nicht um. Wie ärgerlich es auch für manchen sein mag, dass sie überhaupt im Bundestag sitzt.

    Breker: Der Stand der Deutschen Einheit 16 Jahre danach?

    Höppner: Tja, es ist wohl für den Osten zu lernen, dass das Thema Angleichung der Lebensverhältnisse nicht so schnell kommen wird, möglicherweise auf ganz andere Art und Weise. Und es ist für beide zu merken, das Zusammenwachsen ist noch lange nicht gelungen. Und ich stelle fest, dass der Verteilungskampf härter wird. Also bei der Frage Sondermaßnahmen für den Osten, weil wir doppelt so viel Arbeitslosigkeit haben, beißt man inzwischen natürlich im Westen bei den Ministerpräsidenten auch ziemlich auf Granit. Das heißt, in schwierigen Zeiten wächst offenbar nicht Solidarität sondern wird sie auf die Probe gestellt, und zwischen Ost und West nimmt sie eher ein bisschen ab.